Heft 1/2004 - Lektüre



Judith Butler:

Kritik der ethischen Gewalt

Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003 , S. 77

Text: Lea Susemichel


»Wie sowohl Adorno als auch Foucault verdeutlichen, muss man nicht souverän sein, um moralisch zu handeln; vielmehr muss man seine Souveränität einbüßen, um menschlich zu werden.«
Wir sind es von Judith Butler gewöhnt, dass sie »sich geistig, wo nicht buchstäblich« auf das Denken anderer einlässt. Dieser bisher durchaus fruchtbaren Tradition auch diesmal treu bleiben zu wollen, kündigt sie in den Vorbemerkungen zu ihren 2002 gehaltenen Adorno-Vorlesungen an, die bei Suhrkamp unter dem Titel »Kritik der ethischen Gewalt« erschienen sind.
Und so wird aus einem, der lieber einer »inhumanen Union« beitreten würde als einer, »die sich selbst humanistisch nennt«, ein Gewährsmann für die Butlersche Idee einer Menschlichkeit, die sich auf Unmenschlichkeit gründet. Unmenschlich sind nach der sprachphilosophischen Wendung, die Butler den Foucaultschen Machtanalysen gegeben hat, bekanntermaßen die Verletzungen, die uns beim Zwangseintritt in eine nicht selbst kreierte Sprachstruktur zugefügt werden. Folglich muss scheinbar auch der Effekt dieser Verbindung unmenschlich bleiben: Ein Subjekt, das sich über die Bedingungen seiner Entstehung niemals vollständig Rechenschaft geben kann und bei dem deshalb fraglich bleiben muss, ob es zu ethischem Handeln fähig ist. Aber wie Butler früher schon immer wieder betont hat, sind die Verwundungen, die beim Eintritt in die symbolische Ordnung erfahren werden, zugleich »befähigende Verletzungen«. Macht die Anrufung durch die Sprache zugleich eine Antwort möglich. Butlers Performativitätsgedanke gründet auf dieser Einsicht, im vorliegenden Buch wird sie nun auch zur Basis einer Ethik. Wie diese allerdings ohne Autonomie auskommen kann, ist wohl der Prüfstein schlechthin für postmodernes Denken. Der Lösungsvorschlag Butlers stellt Adorno den späten Foucault an die Seite. Für beide ist das Subjekt nicht Grundlage der Ethik, sondern gerade ihr Problem, so Butler. Daraus folge jedoch nicht der Tod desselben, sondern ein »fragiles und fehlbares Subjekt der Ethik«, das mehr durch seine Grenzen denn durch seine Souveränität gekennzeichnet ist. Sein Sterben bezeichnet nur seine Unfähigkeit, »kohärenter Autobiograph« zu sein. Verantwortungsvolles Handeln setzt keine Selbsttransparenz eines voluntaristischen Subjekts voraus – ganz im Gegenteil: Gerade das Scheitern beim Versuch, seine eigene Geschichte bis zu einem Ursprung zu erzählen, bedingt seine ethische Disposition. Die »Teilblindheit« sich selbst gegenüber kann »Bescheidenheit und Großzügigkeit«auch anderen gegenüber zur Folge haben.
Die Rolle, die Butler dem/der Anderen bei der Herausbildung sozialer Verantwortung zukommen lässt, macht ihre Überlegungen nicht zuletzt auch für die Universalismusdebatte interessant. Die kulturtheoretische Binsenweisheit, dass jedwede Identität auf die Abgrenzung vom jeweils konstruierten Anderen angewiesen ist, präsentiert sie mit umgekehrten Vorzeichen: »Ich« existiere, weil ich »dir ausgesetzt bin«. Die Erkenntnis menschlicher Inkohärenz und Abhängigkeit eröffnet den Raum für die Anerkennung des/der Anderen, von dem/der ich nun auch nicht länger fordere, selbstidentisch zu sein.
Gewaltsam wäre es bereits, vom Gegenüber (einer anderen Kultur etwa) Homogenität zu verlangen. In der wechselseitigen Anerkennung sind Menschen für Butler einander nicht nur »Spiegel«, sondern immer auch »Fenster«. Der Blick, den diese Fenster ermöglichen, verbietet die Anwendung »ethischer Gewalt«.
Wenn Butler in diesem Zusammenhang bemerkt, nicht überzeugt zu sein, »dass wir das WIR aufgeben müssen«, so lässt dies auch FeministInnen aufhorchen. Mit dem Subjekt »Frau« zugleich auch die Solidargemeinschaft, auf die sich feministische Politik beziehen kann und die Möglichkeit, »WIR Frauen« sagen zu können, abgeschafft zu haben, war und ist einer der Hauptkritikpunkte an Butler. Ethische Handlungsfähigkeit gerade ohne ein souveränes Subjekt zu denken, kann deshalb durchaus auch als Butlers Antwort auf die Frage verstanden werden, wie nichtessenzialistische, weibliche Repräsentation möglich ist.