Heft 2/2004 - Netzteil


Krise bestätigt

Zum Münchner Festival »NEURO – networking europe«

Vera Tollmann


Zu einem der irritierendsten Momente während der Networking-Europe-Konferenz »NEURO«1 gehörte die Forderung, die in der Abschlussdiskussion erhoben wurde: Man solle doch eine Partei gründen. Geboren aus einer schwer greifbaren Unzufriedenheit mit der derzeitigen Situation und daraus resultierend der Veranstaltung selbst, suchten die TeilnehmerInnen nach anderen Möglichkeiten politischer Arbeit als denen, die in den Tagen davor gerade nicht den erwarteten Enthusiasmus erzeugt hatten. Also, warum nicht eine Partei gründen?
Aus dem Mund der NetzaktivistInnen, die in ihren »temporary autonomous zones« vor wenigen Jahren noch Staat und institutionelle Politik ganz außen vor lassen wollten, kam der Ruf nach einer eigenen Partei überraschend. Aber dies war nicht nur irritierend, sondern deutete auch einen wichtigen neuen Schritt an – wenn auch diese Überlegung eher metaphorisch zu verstehen war.
Neben dem Ausdruck latenter Unzufriedenheit bestätigt der vage Wunsch, eine Partei gründen zu wollen, also nach realpolitischen Mitteln zu suchen, die prekäre Lage der Zivilgesellschaft, wie sie von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Michael Hardt in der Festivalzeitung2 beschrieben wird: »This is not so say that the forms and structures of social exchange, participation, and domination that were identified in the concept of civil society have ceased entirely to exist, but rather that they have been displaced from the dominant position by a new configuration of apparatuses, deployments and structures«.3 Doch Hardt weiß seine Beobachtungen zum Positiven zu wenden, ohne die Zivilgesellschaft in ihrer ehemaligen Konstitution zu beschwören: »This alternative community of social practices … will be the most potent challenge to the control of post-civil society«.4

Im Sinne Hardts geht es also darum, Formen zu suchen, die das gegenwärtige Vakuum ersetzen. Der Widerstand, der sich als Folge des Fehlens partizipativer Strukturen und des Wegbrechens sozialer Mechanismen der Zivilgesellschaft formiert, war in der Vergangenheit mehrfach deutlich sichtbar geworden.5 In München ließ sich das deutlich an der Präsenz alter Medien wie dem Berliner Radioprojekt »reboot fm« und den FernsehaktivistInnen von Candida TV ablesen, einem von über hundert italienischen telestreet-Projekten. Dieser Rückgriff erfolgt aber nicht etwa aus nostalgischen Motiven, sondern um gegenwärtige Veränderungen in der Medienpolitik nicht unkommentiert hinzunehmen. Es geht also nicht mehr um die erwähnten »temporary autonomous zones«, sondern ganz konkret um die Forderung nach Veränderung.
Interessant an NEURO waren die Projekte aus den abgelegenen Ecken der vernetzten Welt – die oftmals auch ohne die »Top Ten Open Source Tools«6 auskommen, wie sie in der Festivalzeitung aufgelistet werden. Lokale Berichte, etwa von der Autorin und Kuratorin Keiko Sei über Burma oder dem Fotografen und Medienaktivisten Shahidul Alam über Bangladesh, sagen gegenwärtig einfach mehr über den Status quo der »Digital Divide« aus. Denn das Ungleichgewicht, das in der westlichen Welt zwischen »Tools« und alternativen Inhalten besteht, war selten so spürbar wie heute. Wer benutzt schon die Plattform »D-A-S-H Europe«7, die zu Beginn von NEURO gelauncht wurde? Entsteht damit neben wastun.org8 nicht ein weiteres Archiv, dessen Forum einschläft?

Fest steht, dass die Omnipräsenz des Internet nicht in der Weise eingetreten ist, wie sie noch 2001 von »Digeratis« wie Charles Leadbeater prognostiziert wurde. Die Tagesordnung in Ländern wie Burma, wo das Internet bislang öffentlich nur als zensierte Offline-Kopie zugänglich ist, und Bangladesh ist von ganz anderen Fragestellungen bestimmt: Wie kann man das Internet überhaupt als »Werkzeug« nutzen? Wie kann die Militärzensur umgangen werden? Also sollten sich auch zukünftige Veranstaltungen ganz klar den pragmatischen Umsetzungen der in den letzten Jahren dominanten Reflexionen widmen: Realize social exchange and participation.

 

 

1 NEURO – networking europe. Movements and Technologies for the Common, 26. bis 29. Februar 2004, Muffathalle
München, http://neuro.kein.org/. NEURO ist die Folgeveranstaltung zu »make-world«, Muffathalle München, 2001, http://www.makeworlds.org/; vgl. dazu Nicolas Siepen,
make-world, in: springerin 4/2001.
2 Zeitung mit Texten von Giorgio Agamben, Franco Berardi,
Gilles Deleuze und Saskia Sassen und anderen; http://www.makeworlds.org/book/view/98
3 Michael Hardt, The Withering of Civil Society,
in: NEURO Zeitung, München 2004
4 Hardt, ebda.
5 Die vielfach angeführten Demonstrationen gegen den
Irak-Krieg 2003 sowie die deutschlandweiten StudentInnenproteste, die insbesondere in Berlin zu diversen kulturellen Ausdrucksformen fanden, können als Zeichen der korrodierenden Zivilgesellschaft gelesen werden, ebenso wie die zunehmenden Aktivitäten der Gewerkschaften, die zuletzt
im April in Berlin gegen Sozialabbau auf die Straße gingen.
6 Dan Bashaw und Mike Gifford, Top 10 Open Source Tools
for eActivism, in: NEURO Zeitung, München 2004
7 Plattform zur Vernetzung europaweiter antirassistischer
und migrantischer Initiativen: http://d-a-s-h.org/
8 Plattform zur Vernetzung der internationalen kritischen
Globalisierungsbewegung: http://wastun.org