Heft 2/2004 - Lektüre



David Harvey:

The New Imperialism

Oxford (Oxford University Press) 2003 , S. 74

Text: Anette Baldauf


Der Einleitung zufolge schrieb David Harvey seinen Angriff auf den neuen Imperialismus im März 2003, also wenige Tage nach den weltweiten Antikriegsdemonstrationen und der darauf folgenden US-geleiteten Irakinvasion. Diese beiden Großereignisse bilden den Rahmen für Harveys strategisch verfasstes Manifest, das dezidiert nicht nur Kritik, sondern auch Kollektivierung anstrebt. Außer von diesen Ereignissen ist »The New Imperialism« auch epistemologisch motiviert: In scharfer, phasenweise polemischer Abgrenzung zu der von Michael Hardt und Antonio Negri vorgelegten Theorie des »Empire«, das von einem Machtdispositiv der Dezentrierung und Dispersion ausgeht, insistiert Harvey mit Rekurs auf marxistische Theorien auf ein geografisch lokalisierbares Zentrum der Machtpolitik: die USA. Demzufolge sieht Harvey in der Kollision aktueller geopolitischer Bedingungen – inner- und überstaatliche soziale Polarisierung, ökonomischer Kollaps der vom IWF korrigierten Staatshaushalte, Terror, Invasion etc. – lediglich die Zuspitzung der bereits von Karl Marx beschriebenen Prinzipien des kapitalistischen Imperialismus. Seit den siebziger Jahren, so Harvey, sichern sich die USA ihre hegemoniale Position nicht mehr durch die Investition von Profiten in erweiterte Reproduktion, sondern rekurrieren immer mehr auf Spekulation, Betrug und Enteignung. Die Invasion des Irak (und möglicherweise des Iran und von Syrien) ist Harveys Theorie zufolge Ausdruck einer eskalierenden Politik der kapitalistischen Akkumulation.
In einem prägnanten Abriss kapitalistischer Weltgeschichte rekonstruiert Harvey den Prozess der Konzentrierung von Kapital, Macht und Gewalt: Im Gegensatz zu den aufkommenden Nationalstaaten in Europa, die den Widerspruch zwischen Nationalismus und Imperialismus mit dem Postulat einer rassisch begründeten Überlegenheit lösten, bedingte das in den USA propagierte Zölibat des Individualismus die Projektion des bedrohlichen Anderen außerhalb der nationalen Grenzen – und nährte in dieser Konstellation kollektive Paranoia ebenso wie die Maskierung wirtschaftlicher Ausbeutung als Missionierungsprojekte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sicherte eine nach innen gerichtete Konsumpolitik und ein nach außen gerichtetes »Empire Lite« die Interessen der USA: In den Bretton-Woods-Vereinbarungen schrieben die USA über Institutionen wie den IWF und die Weltbank privilegierte Handelsbeziehungen fest; Patronage, gedeckte Zwangsherrschaft in Kombination mit der Stilisierung »amerikanischer Werte« verfestigten die US-Vormachtstellung. Angehäufte Profite wurden in Bildung, Autobahnnetze und eine ausgedehnte Suburbanisierung investiert. Der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre, ausgelöst durch eine allgemeine Saturierung, den kostspieligen Vietnamkrieg und die Zufuhr von »fiktivem« Kapital, begegneten die USA mit der Umstellung auf ein postfordistisches System und der Einführung neoliberaler Prinzipien: Während die Ölkrise die Wirtschaftszentren Europas und Japans grundlegend schwächte, nutzten die USA diesen Konflikt und die vorhandene Kapitalakkumulation geschickt aus, um sich als globale Finanzmacht durchzusetzen – Entindustrialisierung, Flexibilisierung, »Finanzialisierung«, Spekulation und eine Betrugskultur waren die Folge; »Akkumulation durch Enteignung« setzte sich als zentrales Merkmal der kapitalistischen Globalisierung durch.
Harvey, der seine Analyse im Stil einer Retro-Science-Fiction schrieb (»so wie es gewesen sein wird«), hat in seiner Vorhersage die zentralen Merkmale der Irak-Invasion frühzeitig erfasst. Auch seine Beschreibung der gegen-hegemonialen Bewegungen – zersplittert, mikroorientiert und mit variierenden Agenden – ist eine akkurate Einschätzung jener Herausforderungen, mit denen sich alternative Globalisierungsbewegungen nun konfrontiert sehen. In einer stark verkürzten Abgrenzung zum Konzept der »Multitude«, dem er Naivität und einen Mangel an moralischer Positionierung vorwirft, versucht Harvey die vielfältigen Widerstandsbewegungen um das Primat der »Akkumulation durch Enteignung« zu organisieren. Konkret macht er sich für die Durchsetzung eines neuen »New Deal« stark, der die ungleiche Distribution des Neoliberalismus kompensatorisch ausgleichen soll.
Weniger marxistisch orientierte TheoretikerInnen würden Harvey entgegenhalten, dass sein Postulat des »Hegemon USA« ein vereinfachtes Kürzel zur Erfassung der neuen Weltordnung darstellt. VerfechterInnen der Theorie des »Empire« zufolge beteiligten sich an dessen Reproduktion neben den USA auch übernationale Organisationen wie die G8, die UNO, NGOs, multinationale Konzerne und Medienkonglomerate, aber auch die »biopower« der »Multitude«. Harveys Interpretation und Forderung nimmt dieser Theorie zufolge also keine privilegierte Position ein; vielmehr müssen sie sich der Diskussion mit konkurrierenden, vorab gleichwertigen Konzepten stellen. Die Aufgabe des Postulats eines politischen Zentrums (geografisch, politisch, epistemologisch) und die Einbettung in ein Netz kreativer Kräfte implizieren jedoch keine prinzipielle Abwendung von linken Interventionsstrategien. Im Gegenteil, in der Verabschiedung von Metaansprüchen und der Anerkennung einer von Dezentrierung, Pluralität und Antagonismen gekennzeichneten politischen Sphäre bestätigt sie deren Stärke und Durchsetzungskraft.