Heft 3/2004 - Welt Provinzen


Postsowjetischer Gegenalltag

Die kleine Kunstszene in der Kirgisischen Hauptstadt Bishkek probt die Emanzipation. Der Weg aus den Ateliers des nach wie vor herrschenden Akademismus ist dabei nicht nur vom modernistischen Vermächtnis des Sowjetimperiums verstellt.

Georg Schöllhammer


Kommt man von Nordosten über die viel befahrene Straße von Almaty, die den Tienschan und die Steppe entlang führt, in das gleich hinter der kasachischen Grenze gelegene Bishkek – oder wie es zu Sowjetzeiten hieß: Frunse –, dann erscheint einem die Kapitale der Republik Kirgisistan ein wenig so, wie eine der Städte, die man erreicht, wenn man über eine EU-Grenze in den Balkan fährt. Vom reichen Almaty aus, der Boomtown der Region mit über elf Prozent Wirtschaftswachstum, wirkt das Zentrum der 5-Millionen-Republik ein wenig verschlafen.
Seit seiner Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 betreibt Kirgisistan eine multilaterale Politik. Zwar mehren sich die Zeichen des Umbaus der parlamentarischen Demokratie in eine autoritäre Präsidialrepublik, aber noch immer vermittelt sich in Bishkek das Bild des Zentrums eines politisch moderaten, multikulturellen, multiethnischen und hoch verwalteten Staates mit schwierigen wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven – das durchschnittliche BIP pro Kopf und Jahr beträgt ganze 280 Euro. Es gibt kaum Spannungen zwischen der zu 80 Prozent sunnitischen kirgisischen Ethnie und den Minderheiten, unter denen die mit je 15 Prozent Russen und Usbeken die größten sind. Russisch gilt seit 2000 auch als zweite Amtssprache.
Bishkek hat das Sowjeterbe konserviert. Das Zentrum der rund 750.000 Einwohner-Hauptstadt bildet ein eigenartiger Monumentenpark, den die Sowjets ab der Mitte der Siebziger hochgezogen hatten und in dem alle jene Funktionen noch einmal Architektur geworden waren, aus denen der späte Breschnjew-, Andropow- und Teschernjenko-Parteiapparatsstaat sich öffentliches Leben vorstellte: ein riesiger Paradeplatz, eine Kulturmeile mit Theater, Nationalmuseum, Bibliothek, Jugendhaus, Zirkus, Kino etc. etc., eingelagert in eine von Wasserspielen und Monumenten bereicherte Parklandschaft. Diese gebaute Parade an öffentlichen Gebäuden, die einer der fordistischen Stadtvorstellung in Westeuropa nicht unähnlichen Planungsutopie entstammen, hat einem autochthonen Stil, den man zweite Sowjetmoderne nennen kann – mit regionalen Variationen und durchaus auch spezifischer Handschrift von Meisterarchitekten. Gebaut wurde sie, als wolle man die Fehlstellen auffüllen, an denen das Imperium unter anderem auch zerbrach: die Fehlstellen Individualisierung, Bewegung und Konsum. Zwischen diesen Bauten flaniert man, ohne mit der Realität des Gemisches aus stalinistisch-klassizistischer Ortmarkierung, historischer Bausubstanz und maroder Platte sowie temporären und prekären Nutzungen konfrontiert zu werden, die den eigentlichen Kern städtischen Lebens aufnehmen.

Papierarchitektur
Dennoch, oder vielleicht sogar in Reaktion auf den nahezu neurotisch zu nennenden Bauboom des sterbenden Empire, entstand in Bishkek Anfang, Mitte der achtziger Jahre – wie auch in Moskau, Novosibirsk oder Kazan – ein wesentlicher Beitrag zu dem, was als »Papierarchitektur« erste postmoderne Dekonstruktionsphantasien gegen den Alltag der Zeichensäle und Studios der spätmodernistischen sowjetischen Architekturindustrie entwarf. Papierarchitektur hieß diese Bewegung, weil sie sich nie Chancen auf Verwirklichung ausrechnen durfte.
In ihr war schon das eigenartige Amalgam verborgen, das heute das kulturpolitische Klima in vielen der Nachfolgestaaten der Sowjetrepubliken ausmacht und das man wohl am besten abgewandelt mit Nicos Poulantzas´ Formel beschreiben könnte: Territorialisierung der Geschichte, Historisierung des Raumes, allerdings unter Hinzufügung der lokalen Ableger eines ungelenken globalistischen und internationalistischen Investorenstiles. Aus den Raumphantasien der Papierarchitektur, die oft einen genius loci meist nomadisch-temporärer Architekturen gemischt mit Repliken auf turk-islamische Baukunst oder aber den Konstruktivismus der Revolutionsarchitektur und Archäologismen zitierten und von poetischen Texten und Manifesten begleitet waren, wachsen jetzt in Planer- und Politikerköpfen flächenraubende Projekte in einem Stilgemisch, das sich am treffendsten als ein nationalromantisches Neo-Art-Deco identifizieren lässt. Für gebaute Realisierung fehlt jedoch die Finanzierung.
Ulan Djaparovs Architekturstudio liegt im Erdgeschoss eines der schon zu Sowjetzeiten dem Mittelstand und der Intelligenzija vorbehaltenen Ornament-Plattenbauten im Zentrum. Es nennt sich »Museum«. Der ausgebildete Architekt Djaparov ist – mit dem international agierenden Künstlerpaar Gulnara Kasmalieva und Muratbek Djoumaliev – der wichtigste Motor jener Kunstszene, die an einer Emanzipation aus den Strukturen des im wesentlichen sowohl ästhetisch als auch standespolitisch mächtigen, noch nach UdSSR-Mustern agierenden Künstlerbundes arbeitet.
Djaparov hat das Aufflackern utopistischer Projekte und Zeichenwelten in den Perestroika-Jahren selbst mit Entwürfen belebt. Er war ein Autor der »Papierarchitektur«. Sein Atelier ist heute nicht nur Kommunikationsort für die lokale Intelligenz, für AutorInnen und KünstlerInnen, sondern auch Archiv dieser Bewegung. In ihm lagern ganze Ausstellungen aus jenen Jahren, mit Originalzeichnungen, Modellen und Plakaten: Monumentale Raumrhapsodien, utopistische Entwürfe für funktionsfreie Architekturen, skulpturale Modelle. Weniger phantastisch ist der neue Arbeitsalltag der Bürogemeinschaft, die sich hinter dem Label Museum verbirgt. Sie verdingt sich heute in Arbeitsverhältnissen, die globalisierter nicht sein könnten: als Projektverbund aus ökonomisch prekär gestellten Selbständigen, die unter anderem für Klienten von Moskau bis Australien entwerfen beziehungsweise Entwürfe CAD-frei aufs Transparentpapier bringen. Lokal ist die Auftragslage sehr gemischt. Der für seine struktural-minimalen Konstruktionen gerühmte Ingenieurarchitekt der Arbeitsgemeinschaft hat unlängst ein Mini-Urban-Entertainment-Center – eine Bowlinghalle – entworfen und gebaut.

Postmoderne im Post-Empire
Obwohl das offizielle Kunstleben, wie gesagt, noch von den Konservativen der Künstler-Union bestimmt wird, hat sich in Bishkeks Kunstwelt seit Ende der Neunziger vieles geändert. Gulnara Kasmalieva and Muratbek Djoumaliev gründeten damals, 1998, die Gruppe »Zamana«, die unter anderem eine interaktive Installation »The Wall of Talking Clay« für das Soros-Festival in Bishkek entwickelt hatte. Die Soros Centers spielten – und spielen – in der Region eine ähnliche Rolle, wie sie es nach den Regimewechseln in Osteuropa taten. Sie implementieren eine bestimmte, am Westen orientierte Vorstellung von Gegenwartskunst und neuen Medien, die dann lokal oft hybridisiert wird. »Zamana« stellte auch auf der ersten großen Gegenwartskunstausstellung des Soros Center of Contemporary Art in Almaty 2000 aus, die ein Initialprojekt für die Region war, auch weil sie viele KuratorInnen und KünstlerInnen in die Region brachte und daraus eine Reihe von Netzwerken entstand. Sabine Vogels langjährige Beziehungen zu diesem Raum, die in der Ausstellung »No Mad`s Land« in Berlin zusammengeführt wurden oder die internationale Aufmerksamkeit für KuratorInnen wie Julia Sorokina und ihre lokale Arbeit fanden dort ein wichtiges Relais.

Eine Schweizer Kunststadt
Djaparov gibt neben seiner Architektenarbeit auch das »Kurama Artbulletin«, die einzige Kunstzeitschrift der Region heraus, ist selbst Akteur von poetisch-radikalen Performances und veranstaltet eine Biennale. Obwohl Japan, die USA und die Bundesrepublik die größten Entwicklungsinvestoren im Land sind, wird Djaparov dabei auch von einer Schweizer Institution unterstützt – wie auch die im New Yorker Exil lebende Afghanin Leeza Ahmady, die 2004 eine Show mit New Yorker Emigranten-Videokunst nach Bishkek brachte.
An der Arbeit dieser Organisation, der Swiss Agency for Development and Cooperation und ihrem »Arts and Culture Programme in Kyrgyzstan«, das mit einem Jahresbudget von rund 300.000 Euro einer der großen Kulturinvestoren im Land ist, und die dem Schweizerischen Außenamt untersteht, lassen sich die Verwerfungen der gegenwärtigen Situation zwischen offizieller Repräsentation von Gegenwartskunst, fremdgeförderten Eliten und Staatskultur am sprechendsten darstellen. Das Renommierprojekt der Schweizer nennt sich englisch »City of Artists«. Es ist ein Atelierhauskomplex am Rand der Monumenten-Innenstadt. Die Künstlerstadt beherbergt unter anderem einen großen Ausstellungsraum, den wohl wichtigsten neben dem Nationalmuseum. Geleitet wird die City von einem in der alten Künstlerunion groß gewordenen Stillebenmaler aus der realismusnahen Cézanne-Fraktion und einer enthusiastischen jungen Kulturmanagerin, die versuchen, den Auftrag des Geldgebers, der lokalen Kunstszene beizubringen »how to exist in a market economy – how to organise arts promotion activities, arts management, public relations and fund-raising« sehr ernst zu nehmen. Das Haus ist demnach meist sehr unterschiedlich gefüllt – von lokal marktgängiger, protomoderner Malerei bis hin zum Spachtelmalkitsch und Objekten zwischen arte povera und Folklore. Hier in Zentralasien bildet sich sozusagen jener Konflikt noch einmal ab, der im Europa der späten neunziger Jahre Kulturpolitik wieder in die Hände der Außenämter spielte und zum ideologiepolitischen Steuerungsmittel machte.
In »The Others«, einer von Djaparov mit Elena and Victor Vorobyev aus Kasachstan kuratierten Ausstellung, die parallel zum New Yorker Videoimport lief, wurde ein gestisch-expressiv arbeitender Maler und Grafiker mit dem ersten Preis ausgezeichnet, dessen Name international für den abstrakten Aufbruch in der Republik der späten Sowjetzeit steht, Valery Rumpel. Allerdings bekam er den Preis nicht für eines seiner Bilder, sondern für ein Video. Rumpel, der wie sein Malerkollege Adis in der City arbeitet, ist ein stiller Held der lokalen Szene. Ein vom Bild des Künstlers als dem die Wahrheit der Form und Geste suchenden beseelter Maler. In »Winter Performance« zeigt er zwei Buben, die auf einem verschneiten Feld vor der Kulisse der Sechstausender rund um Bishkek mit einem alten verrosteten Teekessel, dem Symbol der kirgisischen Gastfreundschaft, Fußball spielen. In den Ateliers der Stadt, in denen die Arbeit an Konzepten von Modernität seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht unbedingt leichter geworden ist, wird gerade ein neues Konzept diskutiert, das sie als das Zentrum einer Kulturnation sieht, die in einem zu entwerfenden Eurasien eine wichtige Rolle spielt. Ein politisches Thema oder eine Chimäre, die den Verlust des Imperiums wettmachen hilft?