Heft 1/2005 - Netzteil
Vor zehn Jahren prognostizierte der russische Zukunftsforscher Leo Nefiodow, die Gesundheitsindustrie werde die informationelle Technologie als Wachstumsmotor ablösen. In einer gerade vom Boom der Informationstechnologien berauschten Welt stieß die Prognose auf wenig Anklang. Mehr Gehör bekam Nefiodow, als die Blase der so genannten »New Economy« geplatzt war. Das große Versprechen, in dem es keine Zyklen und Krisen, sondern nur noch ungebremstes Wachstum geben sollte, sah plötzlich aus wie betreutes Wohnen bezahlter PatientInnen. Nach dem Kater braucht es neue Versprechen für die Vielen, die schon wieder durch das Dunkel der Städte irren.
Obwohl die Hausnummer korrekt ist, scheint etwas nicht zu stimmen. Rein gar nichts deutet auf eine Veranstaltung hin. Im Vorgarten der Villa wurde nicht einmal das Licht eingeschaltet. Trotzdem entscheide ich mich auszusteigen. An der Tür gibt es ein von hinten beleuchtetes, wenn auch kleines Namenschild, »Warburg Bibliothek«. Die Tür ist nur angelehnt und lässt sich durch einen leichten Stoß öffnen. Dahinter wartet eine Dame, die eine Perlenkette über einem grauen Rollkragenpullover trägt und mir mit spitzen Fingern freundlich den Weg in den hinteren Teil des Gebäudes weist. In der Bibliothek sind fast alle Plätze besetzt. Der runde Raum ist aus schwerem dunklen Holz. Nach Gegenwart sieht hier vor allem das auf eine Leinwand geworfene Powerpoint-Display aus. Neben der Projektion steht Gerhard Roth, Stargast dieser diskreten Zusammenkunft von Alumni der Studienstiftung des deutschen Volkes. Der Dreiundsechzigjährige ist einer der Köpfe der »Neuen Wilden der Wissenschaft«, habe ich im »Spiegel« gelesen. Erwartet hatte ich zumindest einen etwas unheimlichen Superkargo, der auch in das Holzschiff-Setting der hanseatischen Bibliothek gepasst hätte. Doch Roth sieht aus wie ein sozialdemokratischer Onkel aus Bremen. Nach einigen zielgruppenorientierten Scherzen referiert Roth seine zurzeit aufgeregt verhandelten Expeditionsberichte aus einem unbekannten Land. Der promovierte Philosoph und Zoologe ist dabei einer, der weniger selber vor Ort unterwegs ist, sondern die Reiseerfahrungen anderer zu einem sinnvollen Gewebe zusammenträgt. Mithilfe der Projektion interpretiert er Karten, auf denen Inseln, Meere, Flure und Verbindungen zu erkennen sind. Sie haben so exotische Namen wie Amygdala und Basalganglien. Letztere sehen auf der Zeichnung aus wie eine Schnecke unter flockigen Wolken und fungieren als das emotionale Erfahrungsgedächtnis des Menschen. Dieses untersucht die Parameter der Entscheidungen, vor die der Einzelne gestellt wird. Das Erfahrungsgedächtnis schleift die wahrgenommene Wirklichkeit so lange ab, bis es darin etwas Vertrautes wiedererkennt. Dann wählen sie zwischen den möglichen Entscheidungen mit dem Ziel aus, dass sich ein frühkindliches oder gar pränatales Genusserlebnis wiederholt. Die unbewusste Entscheidung des Erfahrungsgedächtnisses, also dem, wo sich die eingeschriebene Hoffnung auf Lust und Genuss wiederfindet, werden vom Bewusstsein erst zeitverzögert wahrgenommen. Das Bewusstsein lügt sich dann in die Tasche, es würde sich jetzt für etwas entscheiden, obwohl alles längst entschieden ist. Dabei handelt es sich um eine Selbsttäuschung, die durch Selbstbeobachtung nicht feststellbar ist, sondern sich nur aus der Laborperspektive ermitteln lässt.
Nach Roths Auffassung vom Hirn wiederholt der Mensch immer wieder nur die Urerfahrungen, die sich bis zum dritten Lebensjahr, in dem die emotionale Kontextbildung einsetzt, als Vergnügen in die Basalganglien eingegraben haben. Was wir für unser Ich halten, das bewusst und aus freiem Willen zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählt, sei eine quasiautomatische Funktion, die unter reinen, schon lange festgelegten Wohlfühl-Aspekten selektiert. Das Publikum klopft zufrieden, hat aber Fragen. Zuerst treten wie in der medialen Diskussion der Hirnforschung die Juristen auf den Plan, um nach der Schuldfähigkeit dieser Wesen zu fragen. Roth plaudert ein wenig von den geschrumpften Hirnarealen untersuchter Soziopathen. Einer Psychotherapeutin wird eingeräumt, man könne mit ihrem Metier noch messbare Veränderungen hervorbringen. Einem Mathematiker erlaubt Roth großzügig, all das doch ein wenig chaostheoretisch querzurechnen. Ich warte jetzt eigentlich auf den Widerspruch eines zufällig anwesenden Kantianers, der das Szenario vervollständigen würde, aber Roth nutzt die entspannte Heiterkeit, um die Katze aus dem Sack zu lassen. Als die drei kleinen Worte fallen, geht ein Raunen durch den Raum. Ja er hat es gesagt, flüstern meine Stuhlnachbarn einander zu: »Wir sind determiniert«. Wo er schon dabei ist, schiebt der Neurodeterminist gleich noch die zweite Parole nach: »Der freie Wille ist Illusion«. Meine Basalganglien kriegen zwar gerade nicht auf die Reihe, was an diesem Gedanken so attraktiv sein soll, aber wenn ich eins im Leben gelernt habe, dann - dass man im besten Moment gehen soll. Auf dem Flur drückt mir die Perlenkettendame noch einen mit »Das Manifest« überschriebenen Stapel Fotokopien in die Hand. Auf der Straße winke ich ein Taxi. Auf die Frage, wohin ich wolle, fällt mir nur ein: »Ich will weg«. Was für eine naive Äußerung. Grübelnd überlege ich oder das Spiel meiner Neuronen, ob Hans nicht vielleicht schon immer nur weg wollte?
Da ich nicht weiß, wer mir antworten könnte, wende ich mich den Fotokopien in meiner Hand zu. In »Das Manifest« fassen neun führende Neurowissenschaftler, zu denen auch Gerhard Roth zählt, und zwei Neurowissenschaftlerinnen ihren Ausblick auf die Hirnforschung des 21. Jahrhunderts zusammen. Doch zunächst wird der Stand der Dinge geschildert: Man habe sich inzwischen einen hohen Einblick in die oberste Organisationsebene des Gehirns verschaffen können und wisse nun, wo die Funktionskomplexe der Wahrnehmung, des Sprachverständnisses, der Handlungsplanung oder des Erlebens von Emotionen zu verorten sind. Auch auf der unteren Ebene, der Übertragung neuronaler Erregung oder dem Ablauf intrazellularer Signalprozesse, seien große Fortschritte erzielt worden. Die große Erkenntnislücke klaffe in der Mitte, dort, wo alle diese Prozesse miteinander in Kontakt treten. Darüber, wie all diese hundert Millionen Nervenzellen miteinander kommunizieren, wisse man »erschreckend« wenig. Auch die in jüngster Zeit soviel gepriesenen, bildgebenden Verfahren – Positronen-Emissionstomografie oder Magnetresonanztomografie – wären bei der Erkundung dieser unbekannten Mitte nur bedingt hilfreich. Zwar ließe sich mit ihnen messen und verorten, welche Zellen gerade aktiv seien, aber man könnte das Geschehen damit nicht auswerten. Um das Problem plastisch darzustellen, wählen die AutorInnen des Manifests einen bezeichnenden Vergleich: Es wäre so, als wenn in einem Computer erkannt werden könnte, wo gerade Strom fließt, aber nicht, welche Probleme abgearbeitet würden.
Durch die Wahl der Worte kann mein Neuronenspiel sich des Eindrucks nicht erwehren, als würde hier wieder eine Generation von ForscherInnen versuchen, über die Werkzeuge, mit denen wir gerade unser Leben in den Griff bekommen, das bisher Unerklärbare unserer natürlichen Vorraussetzungen zu erklären.
Zwar betreibt das Manifest der HirnforscherInnen keine Sprachkritik, gibt aber zu, man sei noch weit von der Enträtselung der neuronalen Dynamik entfernt. An dieser Stelle, an der sich die AutorInnen des Manifests so bescheiden geben angesichts der großen Aufgaben, taucht zum ersten Mal eine Forderung auf: Man könnte schon bzw. bald viel weiter sein, wenn man genügend Hochleistungsrechner zur Verfügung hätte. Die Rechner sollen auch indirekt helfen, die Krux der unglücklich gewählten Metaphern aus der digitalen Welt, wie Verschaltungen oder Programmierungen, zu lösen und Modellierungen generieren, die sich weniger an den Konzepten heutiger Informatik orientieren. Obwohl also noch viel im Dunklen gestochert und dicht am falschen Bild Computer formuliert wird, fordert das Manifest, dass die »großen Fragen der Neurowissenschaft«, wie eben auch die nach der Existenz von so etwas wie einem freien Willen, schon jetzt diskutiert werden. Warum man dies tun sollte, wird nicht weiter erklärt.
Nun soll es sich, aber so genau ist das nicht ausgeführt, bei der Hirnforschung um ein sich sehr langsam entwickelndes Forschungsfeld handeln. Ihr letzter großer Erkenntnisboom ist im ausklingenden 19. Jahrhundert zu verorten. Seitdem hat sich das Eichhörnchen langsam ernährt. Die Trägheit macht den Ehrgeiz einzelner HirnforscherInnen menschlich verständlicher, sich, obwohl noch nicht mal beim »kleinen Einmaleins des Gehirns« angekommen, angesichts der Kürze der eigenen Lebenszeit mit philosophischen Spekulationen aus dem Fenster zu hängen.
Nach einer Zwischenüberschrift springt der Text von dem Recht auf Spekulation zur praktischen Anwendung in der Medizin. Die AutorInnen des Manifests versprechen bessere Drogen und intelligente Ersatzgliedmaßen. Es sind Köder, auf die ich gerne anspringe, die ich aber einen Moment später wieder misstrauisch fallen lasse, weil da etwas stinkt. Hat man mich damit nicht schon ins Internet gelockt? Die Verpackung des Versprechens hieß damals »Neuromancer« und war ein Roman William Gibsons, der Mitte der achtziger Jahre erschien. Etwas wie das Internet wurde darin als drogenähnliche Erfahrung beschrieben – und intelligente Körper, die beispielsweise »Molly« heißen und mit denen man auch Sex haben könnte, die man aber auch einfach als Prothesen benutzen könnte, würde man kostenlos gleich dazubekommen. Als sich das Versprechen nicht einlöste, wollte keiner mehr etwas davon gewusst haben, alles sei nur ein großes Missverständnis gewesen.
Aber die HirnforscherInnen meinen selbstverständlich die heilenden Drogen der Gesundheitsindustrie, mit denen unsere großen Probleme mit Alzheimer, Parkinson, Schizophrenie oder Depression gelöst werden. Jetzt ist sogar von »absehbarer Zeit« die Rede, in der »eine neue Generation von Psychopharmaka« entwickelt sein wird, »die selektiv und damit hocheffektiv sowie nebenwirkungsarm in bestimmten Hirnregionen an definierten Nervenzellenrezeptoren angreift«. Vielleicht, weil sie sich vor der Langeweile oder dem Tod beim Warten auf die neuen Drogen fürchten, betonen die HirnforscherInnen zum Schluss noch einmal, dass sie sich in der Zwischenzeit den schweren Fragen der Erkenntnistheorie, der Veränderung unseres Menschenbildes wie der Sinnlosigkeit der dualistischen Vorstellung einer Trennung von Körper und Geist zuwenden.
Mir fällt auf, dass bei den Unterzeichnern des Manifests der für die deutsche Hirnforschungsdiskussion zentrale Benjamin Libet fehlt. Der in den USA lehrende Neurophysiologe, auf den sich die Fraktion der Deterministen ständig beruft, führte 1979 ein Experiment durch. Die Probanden hatten dabei die Aufgabe, den linken oder rechten Arm zu heben und festzustellen, in welchem Moment sie die Entscheidung fällen. Libet kam zu dem Ergebnis, dass das motorische Aktivierungspotenzial früher in Gang gesetzt wurde als das subjektive Gefühl der Entscheidung. Mit dem »Gefühl der Entscheidung« vermittele das Gehirn dem Bewusstsein nur, dass es etwas getan hat. Libet ging selbst lange Zeit davon aus, dass dem Menschen für freie Willenshandlungen einfach zu wenig Zeit bleibt. Schon in den neunziger Jahren begann er aber einzuräumen, dass Instanzen wie die Vernunft ein »Vetorecht« bei Entscheidungen besäßen und nicht alles vom Spiel der Neuronen entschieden wird. Hardcore-Deterministen wie Roth wischen solche Einwände des Architekten des Fundaments des »neuronal turns« mit einem kurzen Satz vom Tisch: »Für eine solche Vetofunktion gäbe es bisher keine Beweise«. Libet hingegen begann, seine »Beweise« als nur bedingt aussagekräftige Laborsituationen in Frage zu stellen, und kritisierte die Thesen, die andere HirnforscherInnen anhand von ihnen konstruierten, als fragwürdige Spekulationen. In einem der Aufsätze, die in diesem Jahr unter dem Titel »Mind Time: Wie das Gehirn Bewusstsein produziert« auf Deutsch erschienen, geht Libet soweit, es als blödsinnig zu bezeichnen, »auf Grundlage einer unbewiesenen Theorie des Determinismus unser Selbstverständnis aufzugeben, dass wir eine gewisse Handlungsfreiheit haben und keine vorbestimmten Roboter sind«. Libets Auffassung, dass die Aufgabe unseres Selbstverständnisses blödsinnig ist, muss man nicht teilen: Mögen sich die Neuro-Deterministen meist hinter dem Argument der wissenschaftlichen Überlegung, die mit der Idee des freien menschlichen Willens zu vereinbaren sei, verschanzen, schwingt in dem Weltbild, das sie anbieten, immer auch ein verführerisches Angebot mit.
Der Frage, was den Satz »Wenn du denkst, dann denkst du nur, du denkst« so attraktiv macht, widmet sich der Hirnforschungsexperte der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, Christian Geyer, in dem Vorwort des von ihm jüngst herausgegebenen Diskussionsbandes »Hirnforschung und Willensfreiheit«: Der neurodeterministische Modellvorschlag sei in seiner Abstraktion – eines durch Selbstbeobachtung nicht erfassbaren Prozesses, die nur als Modell im Labor beobachtet werden könnte – zum einen die »Entlastung vom Konkreten«, zum anderen aber auch die Sehnsucht nach dem Ende der elenden Suche nach dem eigenen Ich. Man könnte es endlich unterlassen, das ewige In-sich-Hineinhorchen, bei dem sich nichts Verlässliches finden will. Deshalb entschieden sich viele lieber für den »deterministischen Schrecken, als einem introspektiven Schrecken ohne Ende«. Da ich selbst vom vielen In-mich-Hineinhorchen schon ganz verdrehte Ohren habe und selten etwas anderes als knackende Knorpel höre, frage ich mich, warum nicht? Warum kein Ende mit dem elenden Ich und seinem fragwürdigen Willen? Bevor ich zu einer Entscheidung komme, die ich gestern noch für Irrsinn gehalten hätte, fragt mich der Taxifahrer, ob ich jetzt langsam weit genug weg wäre.
Ein Blick auf das Taxometer nimmt mir die Entscheidung ab. Wir müssen erst noch zu einem Bankomat fahren, damit ich meine erschreckend hohe Schuld begleichen kann.