Heft 1/2005 - Past Forward
Was ist das Spezifische an der Kunst eines »Ion Grigorescu«? Unlängst, in der Retrospektive einer der anderen erratischen Figuren aus der Kunst des ehemaligen sozialistischen Osteuropa, Július Koller, in Bratislava sagte eine rumänische Künstlerin spontan: das ist ja ein »Ion Grigorescu«. Weder die Formensprache noch die ästhetischen Absichten der beiden Künstler ähneln sich. Was sich jedoch gleicht, ist die Experimentierfreudigkeit und Vielfalt, sind Strategien und Praktiken, sich eigene Plätze des künstlerischen Ausdrucks zu schaffen sowie die Konsequenz, ästhetische Stringenz und Autonomie dieser Praxis.
Was ist das Werk dieses »Ion Grigorescu«? Wie veränderte sich der Status seiner künstlerischen Arbeit seit 1972 in dem vom Sozialismus und der »speziellen« Diktatur der Ceausescus geprägten Rumänien – in einem Rumänien, das in den Achtzigern, in der sogenannten Tauwetterperiode von Gorbatschow, nochmals unter staatlichen Verschärfungen zu leiden hatte (und bis heute daran leidet)? Wie stellt sich sein Werk zur postsozialistischen Gegenwart?
Es ist ein immens vielfältiges Œuvre und erst ein Teil der Werke, vor allem die explizit politischen, wurde in den letzten Jahren international breiter rezipiert. Dabei war der Künstler eine der führenden Stimmen in der Zeit der Diktatur, der sogar den despotischen Kameraden in einem achtminütigem Film zu einem fiktiven Gespräch herausforderte: »Dialog mit Genosse Ceausescu« (1978). Auch »Electoral Meeting«2 (1974), eine 28-teilige Fotoserie, zeigt die künstlich herbeigeführten Menschenansammlungen zu Wahlveranstaltungen, bei denen es keine andere Wahl gab. Als Gewerkschaftsveranstaltungen organisiert, waren die Gewerkschaftsbosse zugleich auch bezahlte Mitglieder der Securitate und hatten die gesamte Situation unter Kontrolle. 1974 konnte man in Bukarest noch fotografieren, später waren auch Fotoapparate verboten. Ein anderes politisches Werk mit dokumentarischem Charakter dieser Jahre ist »Cult of Personalities« (1974) – Schnappschüsse aus dem damaligen Staatsfernsehen mit den jeweiligen Kommentaren. Überflüssig zu sagen, dass diese Arbeiten bis nach der Revolution nicht gezeigt werden konnten.
Einer der frühesten Werkkomplexe (1972–78) von Ion Grigorescu ist die »Body-Art-Serie«, die den Künstler in seinem Atelier, in seiner Küche oder sonstigen privaten Räumen in mehr oder minder intimen Situationen zeigt, konfrontiert mit den mechanischen Apparaten, die die Aufzeichnungen machten. Ion Grigorescu entwarf theatrale Szenarien mit Spiegeln, schrieb kurze Drehbücher, erzeugte Voyeurismus, Illusionen, Aufregung, und Manipulation an und mit optischen Apparaten. Das erste photographische Autoporträt stützte sich, so Ion Grigorescu, auf die »psychoanalytische These, dass der Nackte eine Bedrohung für den/die BetrachterIn« bedeutet. Diese Aktionen erforschten die Grenzen seines Körpers, seiner Intimität, und hielten einen mechanischen und psychologischen Dialog mit dem Fotoapparat oder mit der 8-mm-Filmkamera fest. Meist fanden diese Aktionen ohne Publikum statt oder nur vor wirklich »guten« Freunden, um sich nicht der Gefahr der Denunziation auszusetzen.
Grigorescu war in Bukarest der einzige Künstler, der in den siebziger Jahren eine Filmkamera zur Verfügung hatte. Mitte der siebziger Jahre traf er in Temeschwar Constantin Flondor, Stefan Bertalan und Doru Tulcan, Mitglieder der Sigma Gruppe, die ebenfalls Filme machten, und zeigte ihnen seine Filme. Es gab keine Möglichkeit öffentlicher Filmvorführungen von experimentellen Filmen im kommunistischen Rumänien. Sie wurden nur von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen gesehen. Diese experimentellen Filme von Grigorescu harren noch einer gesonderten Beachtung und Aufarbeitung im internationalen Kontext.
»Self« (1977) zeigt den Künstler in seinem Studio in Mehrfachbelichtung – auf der Staffelei ein Kinderportrait, auf dem Tisch ein Bild von einer Hockenden, ein Vergrößerungsapparat und verschiedene Instrumente zur Entwicklung der Fotografien – dazwischen immer wieder der Künstler als Sitzender, Stehender, Hockender, uns den Rücken Zuwendender. Grigorescu stellt sich aus verschiedenen Blickwinkeln dar, doppelt, viele Male überlagern sich seine Portraits und werden mit Hilfe von Spiegeln projiziert und überblendet. Die Subjektivität wird als Konstruktion entlarvt, Identität als ein Spiel multipler, gebrochener Aspekte des Selbst. Sich eins fühlen mit dem Bild bedeutet, viele bewusste und unbewusste Momente einzuschließen, bedeutet auch ein Spiel mit Fiktionen. Ileana Pintilie charakterisiert diese Phase im Werk von Grigorescu als ein Zeichen für »das für diese Periode charakteristische Verschwinden der Privatsphäre – für die Diktatur ein wichtiges Stadium bei der Schaffung des Neuen Menschen, jenes furchtsamen Hybriden, dessen persönliches wie kollektives Gedächtnis ausgelöscht wurde. Diese Figur war eines der häufig wiederkehrenden Themen des Künstlers.«
»Arme Materialien« kommen bei der Serie »Ölbilder auf Fotopapier« zum Einsatz, die teilweise in absurder Konsonanz zur politischen Entwicklung standen. Die ärmliche Erscheinung der Fotos ging einher mit der politischen Restriktion der Mittel für Nahrung, Wärme und Licht für die rumänische Bevölkerung. Da es kein Fotopapier für Farbfotografie gab, behandelte Ion Grigorescu das schwarz-weiße wie farbiges und appellierte an die Vorstellungskraft der BetrachterInnen oder bearbeitet manche händisch mit Farbe. Teilweise handelt es sich um Found Footage-Material, wie bei »Party« (1977).
Die in der kunsthistorischen Retrospektive viel zitierte »schizophrene« Situation während der Diktatur weist Ion Grigorescu von sich. »Vielleicht akzeptiere ich dieses Wort in diesem Zusammenhang nicht, weil ich mich schäme. In meiner Jugend fühlte ich mich von Militäruniformen nahezu penetriert und hatte Misstrauen gegen alle öffentlichen Institutionen. Als ich im Gymnasium Zeichnen unterrichtete, lernte ich die Korruption kennen. Der allgemeine Tenor zuhause und unter Kollegen war, dass man die Diktatur kritisierte. Man ging sogar so weit zu sagen, die überall infiltrierte Securitate höre die Kritik nicht, man mache sich verdächtig, wenn man nicht kritisierte, dann glaubten sie, man hätte etwas zu verstecken. Ich schloss mich der Künstlervereinigung an und versuchte diese zu kritisieren, ich wollte die erlaubten Grenzen austesten. Durch dieses Vorgehen befand man sich nicht in einer schizophrenen Situation, sondern vielmehr mitten in der Selbstzensur. Und ich machte Filme und Fotos, die ich nicht ausstellte, aber all diese Dinge waren bekannt oder wurden vermutet. Es gab keinen Skandal, das Regime wollte Skandale nicht. Ein Schizophrener macht Skandale, befreit sich selbst, wird ein offener Dissident, er wird weggesperrt und medizinisch behandelt. Warum schizophren? Nur weil wir uns befreien und zu einem Normalzustand zurückkehren wollten, Korruption ist ein Bruch!«
Der Zyklus der Body-Art wurde sukzessive durch Schreiben und Kritik ersetzt, bis Grigorescu in den achtziger Jahren genug von der Kunst hatte, seiner eigenen Karriere, den Ansprüchen der KünstlerInnen, und sich die Frage stellte, ob er ein Lügner sei, ob er die Kunst nur um der Kunst willen mache, isoliert und ohne Bezug zum wirklichen Leben. Er suchte nach dem anonymen Leben, dem alltäglichen Leben der Menschen und hatte die Möglichkeit bei Restaurierungsarbeiten an Wandgemälden weit entfernt von der Stadt zu arbeiten.
Schon in den Texten aus den siebziger Jahren ist für Grigorescu das soziale Feld ein »Raster dessen, was das Reale ausmacht«. Es ist »eine ungewöhnliche Form der Komposition, sie lebt durch Kommunikationsfähigkeit des Künstlers und ähnelt einem politischen Diskurs«. 1991 trat Ion Grigorescu öffentlich mit einer Installation in Temeschwar in einem politisch aufgeheizten Klima in Erscheinung. Der Titel der Arbeit »Das Land gehört nicht dem Militär, der Securitate oder den Kommunisten« war auf einem Banner auf einem großen Platz zu lesen.
Seit den späten siebziger Jahren beschäftigte sich Ion Grigorescu immer wieder mit Formen der Erinnerung. Seine Performances überschritten die Kunst und führten zum Privaten, zum persönlichen Leben. Seine neuesten Arbeiten sind Bekenntnisse des Alltags. Sie zeigen Aufnahmen seiner Familie, intime Momente. Die BeobachterInnen sehen Momente der Teilhabe als Gast und nicht wie in seinen früheren Arbeiten als Eindringlinge Aspekte des Voyeurismus. Die Fotos haben fast filmische Qualitäten, sie haben eine dichte Präsenz, sie halten die Zeit an, wie wenn einzelne Kader plötzlich still stehen und langsam, ganz langsam die Erzählung sich weiterdreht: Meditative Gegenwart und selektive Erinnerung in der Sprache des Alltags.
1 Der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Michel Foucault, der den kleinen Kreis der Intellektuellen beklagt. Er wünsche sich, dass die historischen Theorien und Wissensarten dieselbe Verbreitung fänden wie die künstlerischen Aktivitäten.
Michel Foucault, Dits et Ecrits Schriften, Dritter Band, Frankfurt/Main, 1993, S. 112
2 siehe formate, Bukarest ca.2004, als Beilage von springerin 4/04, S. 3