Heft 1/2005 - Lektüre
Von 1953 bis 1973 fertigte George Maciunas Notizen zur Kunstgeschichte, die er als eine Abfolge von Daten, Ursachen und Bedingungen verstand. Diese »most important works«, die er »Charts« oder »Learning Machines« nannte, liegen jetzt faksimiliert als Buch vor. In aktuellen Ausstellungen1 werden die »Charts« unter dem der Computerkunst implementierten Prinzip der Regelhaftigkeit des Algorithmus und dem Vernetzungsbegriff verhandelt. Weil sie oft dreidimensional verräumlicht und aufklappbar sind, lassen sie sich wie Hypertexte lesen, ohne am Computer erzeugt worden zu sein. Den mit Vektoren versehenen Notizen ist außer kunsthistorischem auch ökonomisches und politisches Wissen eingeschrieben. Soweit in die verschiedenen Epochen auch gesellschaftliche oder kulturhistorische Verhältnisse Eingang finden, sind sie Beispiele eines interdisziplinären Wissenstransfers.
Leider wird im Buch nicht dargestellt, wie im Verlaufe von immerhin vierzig Jahren diese »Charts« ansonsten rezipiert wurden. Man erfährt nichts über das sich stetig verschiebende Dreiecksverhältnis von KünstlerIn, Werk, dessen Rezeptions-, Diskurs- und Legitimationsgeschichte. Die Autorin führt das Interesse, Kunstgeschichte auf raum-zeitliche Koordinaten zu fixieren, auf Maciunas’ Kritik am akademischen Ausbildungsbetrieb zurück. Wiederholt hatte er in den USA erfahren müssen, dass Einzeldisziplinen die Entwicklung der Kunst über ihr lineares Geschichtsbild reduktionistisch definieren. Angeblich soll er auch damit geliebäugelt haben, über die »Charts« an eine Professur zu kommen.
Der Text zeichnet den Einfluss nach, den Maciunas als Organisator und Chronist auf Fluxus hatte, nachdem er 1961 den Begriff für diese polymorph definierte Kunstbewegung angeregt hatte. Jeden aber, der nicht linientreu war, schloss er von »Fluxus« aus. Im Text wird diese brutale Praxis mit Guy Debords Ausschlüssen gegenüber der Gruppe Spur und mit André Bretons Ausgrenzung der Surrealisten verglichen. Maciunas setzte den Künsten Schwerpunkte in Europa, Russland, auf dem Balkan, in China, Japan und Amerika. Er befragte detailfreudig den Polymorphismus und den historischen Wandel ihrer Geschichten seit der Antike bis zu Avantgarden der Moderne des 20. Jahrhunderts. Er war ein chronischer Systematisierer. Dass sich jeder Punkt der »Charts« mit jedem anderen verbinden ließe, erscheint unterdessen als faszinierend offen. Doch anfänglich war dieser subtile Netzwerkgedanke vom Künstler gar nicht beabsichtigt.
Das größte »Chart« trägt den Titel »Diagram of Historical Development of Fluxus and Other 4 Dimensional, Aural, Optic, Olfactory, Epithelial and Tactile Art Forms«. Darin vermerkte er alle Fluxus-Aktivitäten und imitative Trends. Trotz der erwähnten Kritik an Maciunas als Promotor wird im Text diese Kartografie als »ultimative Fluxus-Chronik« eingestuft. Weil Fluxus darin als eine Kunst repräsentiert ist, die sich nicht nur auf eine Rezeption durch den Gesichtssinn beschränkte, wüsste man gerne, ob Fluxus vom Markt inzwischen als eine Kunst verfälscht wird, die sich ausschließlich an den Blick wendet. So wie immer schon alle Avantgarden die Daten für ihren Geschichtsprozess selbst zu setzen wussten, spekulierte auch Maciunas auf Historisierung. Ihm zufolge weist Fluxus jedoch hochkomplexe Geschichtsbezüge auf. Eine neue These lässt sich darum aus dem interessanten Buch ableiten: die Differenz gegenüber der Agent-provocateur-Legende gelebter Anarchie, mit der Fluxus von Kritik, KünstlerInnen, HändlerInnen usf. etikettiert wurde.
1 Noch bis Jahresende sind die textbasierten Notizen in der ZKM-Ausstellung »Die Algorithmische Revolution« und bis September 2005 in der Ausstellung »einfach komplex: Bildbäume und Baumbilder in der Wissenschaft« im Kunstgewerbemuseum in Zürich ausgestellt. Außerdem ist von Astrit Schmidt-Burkhardt erschienen: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde. Berlin (Akademie-Verlag) 2005.