Bremen. »SIEV-X« – »Suspected Illegal Entry Vessel« – lautet der australische Verwaltungsausdruck für Boote auf dem Weg nach Australien. Das hinzugefügte X steht für jene Passagiere, die im Sinne der Bürokratie keine individualisierte Erwähnung finden. Sie haben zumeist kein Gesicht und keinen Namen. Wenn es zudem keine Medienbilder gibt, erscheinen Dinge ungeschehen. Von einem Schiffsuntergang, bei dem im Jahr 2001 vor der australischen Küste 353 Menschen den Tod fanden, zeugten zumindest eine Zeitungsnotiz, Gerüchte sowie Gedächtnisprotokolle von Überlebenden, welche ein Mitglied der Moschee in Sydney angefertigt hatte.
»SIEV-X: Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik« heißt der Katalog zu Dierk Schmidts aktueller Ausstellung »Geiseln« in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst in Bremen. Der Berliner Künstler versucht seit vier Jahren, sich von den Schiffsbrüchigen Bildmaterial zu beschaffen, und arbeitet zahlreiche »Porträts der Überlebenden« in seine auf großen Wandflächen ausgestreuten Erkundungsarbeiten ein. Im Kataloggespräch mit Carolin Emcke erzählt Schmidt, dass zu Beginn ein Besuch des Louvre stand. Hier hängen Géricaults »Das Floß der Medusa« und Delacroixs »Die Freiheit auf die Barrikaden« nebeneinander. Erst danach stieß er in einer Notiz der Wochenzeitung »Jungle World« auf den »Fall« – eine Notiz, die für die Bremer Ausstellung als rot markierter Einladungszettel nachdruckt wurde.
Der Untergang des völlig überladenen Fischerboots wurde von australischer Seite gebilligt, provoziert, vielleicht sogar über verdeckte Ermittler initiiert. Es sollte sinken, um die Fluchtbewegungen aus den damals aktuellen Kampfzonen Afghanistan und Irak ebenso demonstrativ wie abschreckend zu stoppen. »Es war alles sehr gut organisiert, die Art, wie die 44 Überlebenden per Boot zurück nach Jakarta gebracht wurden, wie die Presse zusammengetrommelt wurde, der sie vorgeführt wurden. Es war fast mit der Markteinführung eines neuen Produkts vergleichbar«, so das ehemalige australische Regierungsmitglied Tony Kevin in einem Telefongespräch mit Dierk Schmidt. »Nach diesem Boot gab es so gut wie kein Flüchtlingsboot nach Australien mehr. Es hörte fast über Nacht auf.«
Schon die Medusa-Affaire im Juli 1816 war ein Staatsakt: Kapitän, Offiziere und der Gouverneur verließen als erste die sinkende Fregatte vor der Kolonialküste Senegals in die sicheren Rettungsboote und sendeten auch kein Schiff aus, um die 150 auf See Verbliebenen zu retten. Nach zwölf Tagen waren nur mehr 15 Schiffbrüchige am Leben. Als »verordnete Handlungslosigkeit« bezeichnet Schmidt diese unterlassene Hilfeleistung und setzt damit das Regierungshandeln von 1816 mit dem von 2001 in enge Beziehung. Der Kurzschluss erweckt Historienbilder zum Leben und lässt sie von heute erzählen.
Schmidt siedelt das Drama innerhalb des politischen Apparats an und bildet die Köpfe des australischen Einwanderungsministers Philip Ruddock oder von Premier John Howard sowie deren getäfelte Büros ab. Die militärische Exekutive findet in Form von Waffen, Funkgeräten und Geld Abbild; die Behörden sind als Formularfetzen bildlich markiert. Sein Interesse an der »Aneignung von Realität« wie der »Positionsbestimmung von Malerei« hängen dabei ebenso eng zusammen wie das »Floß« und die im Verlauf der Erkundungen etwas vernachlässigte »Freiheit«.
Malte etwa Géricault auf Teerfarbe, die rasch nachdunkelte, nutzt Dierk Schmidt als Untergrund häufig schwarze Teichfolie (»Hello Mr. Ruddock – And why does it all remain black, then?«). Weiß gepinselte Skizzen verdichten sich nur dort zu farbigen Ausmalungen, wo sich Bildinformationen haben auftreiben lassen. Der Bildgrund wird Stück für Stück aufgefüllt, doch bleibt er »vorwiegend schwarz«, wie es Susanne Leeb in ihrer Einführungsrede formulierte. Schmidt nutzt zudem durchsichtige Plastikplanen oder Klarsichthüllen: »file under«. Er breitet seine Materialien aus, zeigt Fundstücke, Überarbeitungen, Details. »dies bild gibt es nicht«, steht am Rand und zeigt eine gemalte Wasseroberfläche auf Plastikfolie, die sich wellt. »Ähnliche Kontur« lautet der Untertitel des Bildes »Not a Seascape (I)« von 2002 und spart das Boot als unbemalte Stelle aus. Der Untergrund – hier also die Wand – scheint durch die transparente Folie. Manchmal klebt noch Kreppband auf der Folie als Bildabgrenzung.
Wie bei Allan Sekula, der für »Fish Story« den Wandel der holländischen Seemalerei untersucht hatte, fügt sich der Katalog in die Arbeit ein. Dierk Schmidt arbeitet hierbei als Kunsthistoriker, Erkunder und Vermittler. Nachdem doch noch Bildzeugnisse aufzutreiben waren, wurde der Zyklus erweitert und einer Überprüfung unterzogen. Gleich dem eingesetzten Untersuchungsausschuss arbeitet er sich in seiner »nicht lobbyistisch verankerten Recherche« Stück um Stück durch den Skandal. Eine Doppelseite des Katalogs mit den gehängten Bildern fungiert als Index, Inhaltsverzeichnis, Roadmap. Ein Gemälde wird gar für den Katalog in 25 »fokussierte Details« aufgelöst und so besser lesbar gemacht. Auch dazu gibt es eine historische Referenz: In der »Ästhetik des Widerstands« erwähnt Peter Weiss, dass ein Händler die Leinwand des unverkäuflichen Medusa-Gemäldes – immerhin sieben auf fünf Meter – zerschneiden wollte, um »die Teile als freistehende Studien zu veräußern«.
Dierk Schmidt, SIEV-X: Zu einem Fall
von verschärfter Flüchtlingspolitik ist bei
b_books Berlin erschienen.
www.sievx.com, www.truthoverboard.com