Heft 2/2005 - Netzteil


Auswärtige Angelegenheiten

Zur Videoarbeit »How to fix the World« von Jacqueline Goss

Vera Tollmann


Usbekistan liegt in Zentralasien, südlich von Kasachstan, nördlich von Afghanistan, und gilt derzeit als das billigste Produktionsland für die westliche Textilindustrie, noch vor Pakistan und Vietnam. Hier soll es aber nicht um eine Bestandsaufnahme der ökonomischen und politischen Gegenwart gehen, sondern um einen kulturgeschichtlichen Exkurs zu den Anfängen der Sowjetunion. 1924 wurde in Usbekistan eine sozialistische Republik gegründet. 1931 reiste der russische Psychologe und Marxist Alexander Romanowitsch Luria (1902–1977) nach Usbekistan, um mit BaumwollarbeiterInnen Interviews zu führen, die an einem staatlichen Bildungsprogramm gegen Analphabetismus teilgenommen hatten. Transkripte davon veröffentlichte er später in seinem Buch »Cognitive Development. Its cultural and social foundations« (1976). Ausgehend von diesen Interviews hat die amerikanische Videokünstlerin Jacqueline Goss ihre Videoarbeit »How to Fix the World« (2004) konzipiert.

Luria wollte mit den Interviews die Folgen des zentral organisierten Bildungsprogramms untersuchen, das von Moskau Ende der zwanziger Jahre für die muslimischen Randgebiete des sowjetischen Staatenbündnisses initiiert worden war. Ihn interessierten die kognitiven Unterschiede zwischen AnalphabetInnen und Gebildeten. Dabei ging es ihm insbesondere um einen Beweis für die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, um damit die Verbindung von Psychologie und Marxismus nicht nur theoretisch zu vollziehen, sondern auch als real existierende lebenspraktische Notwendigkeit zu verdeutlichen. Durch die Interviews will Luria festgestellt haben, dass diejenigen UsbekInnen, die unterrichtet worden waren, ihr Denken von situationsabhängigen praktischen Strategien auf logische und taxonomische Muster umstellen konnten.

Doch bevor Goss den Gesprächsfaden aufnimmt, stellt sie im Opening Shot des Videos die massiven Gebirge im Ferghanatal1 als bis zum Horizont gestaffelte Landschaftskulissen vor, über die Wolkenbänder eilen. Dazwischen fallen weiße grafische Kreise wie Schnee herab, eine stilisierte Darstellung des »weißen Golds« Baumwolle, des Hauptexportguts Usbekistans damals wie heute. In den darauf folgenden Interviewsituationen übernimmt Goss Lurias Rolle als fragende Offstimme: »Die Voice-overs habe ich selbst gesprochen, um mir meine Identifikation mit ihm einzugestehen, als Autorin, aber auch als gebildete Person. Dadurch knüpfe ich auch an meine anderen Videos an, in denen die Stimme immer wichtig ist als ein Medium für subjektive Erfahrung.«

Zu den einfachen Testaufgaben Lurias gehörten das Ordnen von Gegenständen nach Begriffsgruppen, das Beschreiben von Formen und das Lösen logischer Aufgaben. Dabei argumentierten beispielsweise Ungeschulte, dass Hammer, Säge, Beil und Baumstamm alle in eine Gruppe gehörten, weil die drei Werkzeuge ohne den Gegenstand der Anwendung (Baumstamm) nutzlos seien.
Was hingegen fehle, sei ein Arbeiter. Auf die Frage »Baumwolle kann nur dort wachsen, wo es heiß und trocken ist. In England ist es kalt und feucht. Kann dort Baumwolle wachsen?« antwortete ein Interviewter: »Ich weiß es nicht. Ich war in Kashagar, darüber hinaus kenne ich mich nicht aus.« Ein alter Mann, im Video dargestellt mit einem Papagei auf der Schulter, antwortet trotzig auf die Frage, ob es in Deutschland Kamele gebe: »Wenn es dort große Städte gibt, dann wahrscheinlich ja.« Und auf Nachhaken der Interviewerin: »Wenn es große Städte sind, gibt es wahrscheinlich nicht genug Platz für Kamele.« Eine Frau weigert sich, einen Baum zu beschreiben, denn schließlich sei allgemein bekannt, was das sei, es gebe überall Bäume.

Goss verwendet Fotografien des sowjetischen Fotografen Max Person, der zwischen 1925 und 1945 den usbekischen Alltag dokumentierte, als Montagevorlage für die InterviewpartnerInnen im Video. Sie verfremdet die Personen auf den Fotos stilistisch in der Tradition des sozialistischen Realismus und animiert etwa ihre Augen in comichafter Form, wie man es aus Flash-Animationen kennt. Durch diese Reduktion auf monochrome Farben und minimale Bewegungen wird die Enge des stalinistischen Systems visuell vermittelt. Die Figuren sind quasi Abbilder der idealen SowjetbürgerInnen, so wie Luria sie sehen wollte, dessen voreingenommene Rezeptionshaltung durch die zweidimensionale Darstellung seiner Gegenüber entlarvt wird. Ziel des Bildungsprogramms war es, die muslimische Kultur gemäß der sozialistischen Gesellschaftstheorie zu verändern. Aber erst wenn die Leute lesen konnten, waren sie empfänglich für sozialistische Indoktrination.

Im Zuge des stalinistischen Imperialismus prallte eine eben erst erfundene auf eine alte Kultur; die beiden kommunizierten eine unterschiedliche Logik. Die Interviewten wirken schlau und gewitzt in der Art, wie sie sich den Interviewaufgaben widersetzen. In der Videosequenz »Studying the writing of Lenin« sieht man einen Unterrichtssaal, in dem SchülerInnen über Stalins Schriften gebeugt versammelt sind. Ein animierter Kreis bewegt sich wie eine Lupe darüber und verändert die lateinischen Buchstaben in kyrillische Schriftzeichen. Goss scannt dokumentarische Bilder ab und übersetzt ihre Botschaften. Im Zentrum des Videos wird ein Lobesgedicht auf Stalin rezitiert, »Be immortal, great Stalin«. Dieser konstruierte Text steht als extremes Beispiel für Schriftlichkeit – und damit in starkem Kontrast zu oralem Relativismus. Die politische Indoktrination wird auch in einer konkreten Frage-Antwort-Situation deutlich. Auf die Frage, ob alle Menschen gleich seien, antwortet ein alter Mann, wie aus dem Parteiprogramm zitierend, dass er nur einen Unterschied zwischen Landbesitzern und Landarbeitern sehe.

Mit »How to Fix the World« erinnert Goss daran, welche Rolle die Sprache im Versuch von Regierungen spielt, die Zukunft ihres Landes und anderer Länder zu beeinflussen. Nicht zuletzt ist der lapidare Titel ihrer Arbeit als Hinweis auf das absurde wie plumpe Vorhaben zu lesen, kulturellen Eigensinn verändern zu wollen. So endet das Video dann in einem Sprechchor: »Precious metals do not rust. Gold is a precious metal. Do precious metals rust? Precious metal rusts.«
Die politische Relevanz von Lurias Arbeit wird noch durch eine andere Anekdote deutlich. Nachdem er AnalphabetInnen Trompe-l’Œil-Bilder gezeigt hatte, soll er einem Kollegen in Moskau ein Telegramm mit der Nachricht »Usbeken haben keine Illusionen« geschickt haben. Die Sowjets interpretierten das Telegramm als politischen Kommentar: Usbeken machten sich keine Illusionen über den sowjetischen Sozialismus. Worauf Luria angeblich sofort nach Moskau zurückgerufen und ihm für ein paar Jahre Reisen nach Zentralasien verboten wurden.

 

 

1 Die usbekische Stadt Andischan, in der am 13. Mai 2005 hunderte DemonstrantInnen durch das Militär erschossen wurden, liegt im Ferghanatal.