Im Gegensatz zu vielen landläufigen Betrachtungen der europäischen Moderne geht Virginia Santos-Rivero in ihrer Studie davon aus, dass dieser Epoche bereits Ende des 15. Jahrhunderts das Tor geöffnet wird. Und zwar durch Spanien. Ein Land also, das vierhundert Jahre später ebenfalls den Anfang vom Ende macht. Nach dem Abschluss der Reconquista beginnt für die iberische Nation die Conquista, die Eroberung von Übersee-Territorien, was nicht nur das Weltbild revolutioniert, sondern auch Europa im Weltsystem als Zentrum etabliert. Amerika wird für das europäische Festland, in erster Linie für Spanien, zum identitätsstiftenden Ort. Als sich das spanische Imperium im 19. Jahrhundert aufzulösen beginnt und 1898 das endgültige Ende bevorsteht, nachdem es mit Kuba, Puerto Rico und den Philippinen die letzten Kolonien abtreten muss, herrscht in Spanien auf allen Ebenen eine tiefe Krise, die durch die Entwicklungen in Übersee verschlimmert wird. Postkoloniale Fragen werden hüben wie drüben gleichzeitig mit nationalen Fragen aufgeworfen: Während sich die unabhängig gewordenen Gebiete unter postkolonialen Bedingungen zu Nationalstaaten formieren, steht die spanische Nation davor, sich noch einmal grundsätzlich neu zu erfinden – doch selbst dieser Prozess läuft nicht losgelöst von der Peripherie ab. Santos-Rivero konstatiert in diesem Zusammenhang eine »Emanzipation der nationalen Identität vom physischen Territorium« sowie deren kontextuelle Verschiebung in die entterritorialisierte und fragmentierte Dimension der Postmodernität.
Um dieses theoretische Argument zu differenzieren, aber auch um es anschaulich zu machen, betrachtet die im US-amerikanischen Universitätsbetrieb Tätige das Werk von Miguel de Unamuno, der im Spanien der Jahrhundertwende zu den herausragenden Intellektuellen zählte und vermutlich die größte Autorität auf dem Gebiet lateinamerikanischer Literatur war. In jungen Jahren Kommunist, zugleich baskischer Nationalist und um den rechten Glauben ringender Katholik, wurde Unamuno im Laufe seiner von Protesten, Positionsänderungen und Stimmungsumschwüngen geprägten Karriere
zu einem der eifrigsten Verfechter des »castellanocentrismo«. Der Philologe nutzte die Sprachwissenschaft als quasinaturwissenschaftliches Instrument, um über die Verbreitung des Spanischen den Einzugsbereich seines Vaterlandes zu definieren. Während seine lateinamerikanischen Kollegen, mit denen er im regen Austausch stand, davon überzeugt waren, dass die linguistische Uniformität aufgrund der künftig mehr denn je abweichenden Kulturpraktiken und der Verarmung des kulturellen Milieus in Spanien gezwungenermaßen erodieren würde, sah Unamuno in dieser existierenden Uniformität eine »spirituelle« Basis für die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Verbindungen unter spanischsprachigen Nationen. Sein vor diesem Hintergrund entwickelter Begriff der »Hispanität« – die neue Sinntotalität der Beziehungen zwischen Spanien und seinen ehemaligen Kolonien – leitete sich dialektisch von Aufbruch und Verfall des Nationalstaats ab und stellt heute nicht nur einen Schlüsselbegriff in der spanischen Geschichte, sondern auch einen aufschlussreichen Filter für den europäischen Blick auf Lateinamerika dar. Um Unamunos Konzept der »Hispanität« erfassen zu können, analysiert Santos-Rivero zunächst den historischen und politischen Kontext von Unamunos Position, daraufhin seine Haltung gegenüber der baskischen Sprache, dann den Zusammenhang von Nation und Nationalsprache unter Berücksichtigung von Unamunos Perspektive auf das Katalanische, und schließlich seinen utopischen Entwurf einer neuen nationalen Einflusssphäre, deren lateinamerikanische Konstituenten der Philologe selbst niemals besuchte.
Während Unamuno seinen kolonialen Traum träumte, kannten auch die Lateinamerikaner in den eigenen Reihen Verfechter einer spanischsprachigen Einflusssphäre. So hatte etwa Simon Bolivar einen lateinamerikanischen Großstaat angestrebt. Doch seine Motivation stand den Visionen von Unamuno quasi diametral gegenüber: Die lateinamerikanischen Territorien sollten sich vereinigen, um sich auf diese Weise besser gegen die spanischen Rückeroberungsgelüste zur Wehr setzen zu können. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bahnt sich eine Renaissance dieser Gemengelage von Interessen und Projektionen an, und so spendet Bolivar den Namen für einen weltweit für Furore sorgenden Wandel. Unter der Führung des demokratisch gewählten Hugo Chávez hat sich Venezuela die »Bolivarische Revolution« auf die Fahnen geschrieben. Das in den siebziger Jahren noch als Saudi Arabien der Karibik bekannte Land soll im Zuge dessen aus dem Elend der krisengeschüttelten achtziger und neunziger Jahre geführt werden, als Feindbild dient nunmehr die USA, die ein besonderes Interesse für das mit Ölreichtum gesegnete Venezuela hat. Die seit 1998 verfolgte Politik des Parteilosen Chávez hat viele europäische Intellektuelle zu großen Anhängern Venezuelas gemacht, die dort eine beispiellose Veränderung registrieren, einen demokratischen Wandel zwischen Graswurzelbewegung und Großbühnen-Partizipation. Allerdings gibt es ebenso viele, die die Entwicklungen in Venezuela ins Licht der Lächerlichkeit ziehen.
Um mehr Sachlichkeit und Sachkenntnis in diese Debatte einzuführen, wurde im Juli 2003 eine Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Lateinamerika der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz veranstaltet, die Oliver Diehl und Wolfgang Muno nun in einer Anthologie aufgearbeitet haben. Das Spektrum der insgesamt sieben Essays reicht von historischen Darstellungen der venezolanischen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, Analysen der Außenpolitik bis hin zu Betrachtungen filmischer Erzeugnisse aus Caracas. Gemeinsam ist den Beiträgen, dass sie eine differenzierte Sicht auf das Phänomen Venezuela zu elaborieren suchen. Enthusiasmus steht genauso wenig an der Tagesordnung wie Schwarzmalerei. Eine gewisse Faszination können und wollen die deutschen AutorInnen aber dennoch nicht verbergen: Wie konnte der 1954 geborene Sohn eines Dorfschullehrers, der Berufssoldat wurde und Politikwissenschaft studierte, einen Putschversuch gegen die korrupte Regierung der neunziger Jahre anführen und dann vor laufender Kamera nicht nur seine Verantwortung, sondern auch dessen Scheitern eingestehen? Und wie kann es sein, dass dieser Mann einige Jahre später im Rahmen von regulären Wahlen nicht nur gewählt, sondern seitdem immer wieder neu gewählt wurde – trotz Widerstand der Oberschicht und im Grunde aller mächtigen Player im Land sowie der USA, die er offen attackiert und für die Armut Venezuelas verantwortlich macht? Ein interessantes Erklärungsangebot liefert Oliver Diehl in seinem Beitrag »Hugo Chávez – Charisma als soziokulturelles Phänomen«, wenn er sagt: »Chávez tritt als Indiz einer – ungern zugestandenen – Diskrepanz zwischen kulturellen Soll- und Istzuständen im Gewissen der venezolanischen Gesellschaft auf.« Die Politik des mit einer wöchentlichen Sendung im Fernsehen auch in den Wohnzimmern der Unterprivilegierten präsenten Staatschefs wird somit konstruktiv mit dem allenthalben zirkulierenden Populismusvorwurf konfrontiert. Denn der Psychologe weist in seinem lesenswerten Beitrag darauf hin, dass aus einer ganze gesellschaftliche Klassen trennenden Kluft nun ein Kommunikationsraum geworden ist, der die Nation zusammenführen könnte, sie gleichzeitig aber auch einer ungeheuren Zerreißprobe aussetzt. Wenn Diehl erklärt, dass Chávez teils kriegerisch, teils versöhnlich auftrete, dann beschreibt er nicht nur die partiell widersprüchliche Kombination bestimmter Eigenschaften, die ihn zu einem überaus beliebten Menschen gemacht hat, sondern auch die in diesem Raum vorherrschenden Codes.
Krieg und Heilserwartungen stehen dort so dicht beieinander, dass die im Titel des Readers auftauchende Frage »Aufbruch oder Niedergang?« als rhetorisches Programm der Annäherung zu begreifen ist. Weniger gilt es, diese Frage umfassend, geschweige denn eindeutig zu beantworten, als sie vielmehr als unauflösbaren Widerspruch der gegenwärtigen Situation zu begreifen. Eine Situation, die in den nächsten Jahren Bestand haben wird und sich früher oder später zum Guten wenden könnte. Wie die Herausgeber in ihrem Schlusswort anmerken: »Das Experiment der ›Bolivarischen Revolution‹ wird so lange toleriert werden, wie es Hugo Chávez gelingt, demokratische Mehrheiten an die Wahlurnen zu ziehen. Da dies auf absehbare Zeit der Fall sein wird, steht es ausländischen Beobachtern gut an, sich differenzierter mit dem Phänomen ›Chávez‹ auseinander zu setzen. Es könnte durchaus sein, dass das Experiment in Lateinamerika Nachahmer findet!«