Heft 3/2005 - Hoffnung Südamerika?
Denken umhüllt Dinge – zwischen ihnen liegt die Atmosphäre mit Sauerstoff, Stickstoff, Kohlendioxid, Schwefel, Blei, Aluminium, aber auch Gedankenpartikeln. Diese Partikel lösen sich von unseren Denkkörpern in Strömen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, hängen sich an Gegenstände und andere Gedanken. Sie besitzen starke Magnet- und Schwerefelder, die Bilder zerstören und verändern – alle Bilder der Dinge. Denken ist im Wesentlichen aufgeladen mit plastischer Potenzialität.
(Ricardo Basbaum)1
»Selbst-Choreografie«: Was könnte ein solches Wort bedeuten? Vorstellbar wäre die Improvisation einer einzelnen tanzenden Person, die sich dreht, dahingleitet, Bewegungen antäuscht, herumwirbelt und dabei ein verschlungenes Muster des Selbst im Raum nachzeichnet. Ebenso die allmähliche Beherrschung dieses Musters, seiner Wiederholung oder Rekonstruktion als Kunstwerk, das, autorisiert durch eine Signatur, innerhalb der weiteren Parameter eines Stils identifizierbar wird. Aber was passiert, wenn ich dem Wort Choreografie die umfassendere Bedeutung einer Gruppeninteraktion gebe, einer Inszenierung von Körpern in ihrer Bewegung durch den Raum; und wenn ich die Handlungen des Selbst als komplexere Reflexivität begreife, die von einer Vielzahl von AkteurInnen aneinander vollzogen wird? Welche Art von Selbst könnte an der Kreation einer Choreografie teilhaben, die sowohl meine eigene ist als auch die einer größeren Gruppe? Was wäre der Stil einer solchen Arbeit, wie könnte man sie umreißen, nachvollziehen, identifizieren? Was würde aus dem Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Du? Und wie würde Intentionalität – die Projektion möglicher Handlungen in eine zukünftige Zeit und einen unbekannten Raum – unter solchen Bedingungen funktionieren?
Die Vorrichtung
Innerhalb der Grenzen gewisser physikalischer beziehungsweise diskursiver Umgebungen, deren Konstitution – wenn auch offenbar unautorisiert – von Ricardo Basbaum gezeichnet ist, durchdringen dich diese Fragen, greifen auf mich über. In einer Reihe neuerer Projekte2 nehmen diese Umgebungen die Form einer speziellen Galerie- oder Museumsinstallation an. Die Wege durch diese Umgebungen orientieren sich an einer Art Miniaturzaun aus Eisen, der aber nur bis zum Knöchel reicht und die Inhalte eingrenzt, aber nicht abteilt. Diese zaunähnlichen Strukturen dienen als Hindernisse, auch »obs« (von obstacle) genannt, die eine/n zwingen, die einfachste aller Choreografien zu vollführen: das Knie zu beugen, den Fuß etwas höher zu heben als sonst, ein Hindernis zu überwinden, das zu niedrig ist, um als Barriere gelten zu können, ja fast schon zu niedrig, um wahrgenommen zu werden. Mein Besuch in der Ausstellung wird vom Rhythmus dieser fast unbedeutenden Bewegungen interpunktiert.
Unterdessen verweilt das Interesse bei Worten, die auf eine Wand geschrieben wurden: »listen to, look at, turn bodily toward, smile at, speak to, express wishes, make bodily contact, ask personal questions, show off« etc.3 Diese Worte beschreiben Handlungen, die mich in Beziehung zu anderen setzen. So wird der von Hindernissen unterbrochene – und somit an gewisse minimalistische Arbeiten von Robert Morris aus seiner Zusammenarbeit mit dem Judson Dance Theater erinnernde – physische Bewegungsraum mittels diskursiver Indikatoren verdoppelt und zurückgeworfen, wobei diese Indikatoren auf die interaktiven Möglichkeiten einer gemeinsamen Umgebung hinweisen – als würde die Wahrnehmung durch ein linguistisches Bewusstsein vom Anderen zu einer Emotion bewegt.
Gleichzeitig wird es möglich, aus bestimmten Positionen im Raum Bilder meiner und anderer Handlungen zu betrachten; sie werden von einer Reihe unauffälliger Mikrokameras live übertragen. Ein damit verbundener Sequenzer lässt einen Zyklus wandernder Perspektiven entstehen. Der Künstler nennt das »Systema-Cinema«: ein Echtzeit-Überwachungsfernsehen, das meine Wahrnehmung des Raums steigert, während es gleichzeitig Bilder aufzeichnet und so Material für zukünftige Vorhaben sammelt und eine Reihe weiterer Bezugspunkte – diesmal technologischer Art – für das Verständnis der Umgebung hinzufügt, die man vorübergehend bewohnt.
Die oben aufgelisteten Elemente bilden eine räumliche Vorrichtung, die die eingeschränkte Bewegung mit gesteigerter Wahrnehmung, erhöhter Sensibilität und vermehrter Reflexion verbindet und mich dazu einlädt, meine eigene physisch-diskursiv-affektive Haltung zu verändern, und zwar während ich mit dir interagiere. Diese Vorrichtung ist ihrerseits der Ausgangspunkt für eine Erfahrung, in der »ich« und »du« durch die Identitäts- und Positionsänderungen, die von den Regeln des Spiels bestimmt werden, gleichzeitig objektiviert und in Beziehung gesetzt werden.
Dieses Spiel besteht aus einer Reihe von Choreografie-Workshops, die ich Selbst-Choreografien nennen würde. Sie beginnen im Museum und bewegen sich in den urbanen Raum hinein. Die TeilnehmerInnen tragen rote und gelbe T-Shirts, bedruckt wahlweise mit den Pronomen »eu« (ich) und »você« (du). Dadurch werden alle mit der Relativität ihrer Identitätspositionen konfrontiert – etwa wenn sich Gruppen von animierten »ichs« um ein Selbstbewusstsein mit der Bezeichnung »du« ranken. Der Künstler, der ebenfalls ein »eu«- beziehungsweise »você«-T-Shirt trägt, besetzt eine ostentative Schwelle, von der aus er die Handlung von außen dirigiert und informiert, von innen aber an Veränderungen beteiligt beziehungsweise diesen unterworfen ist; und genau diese Auflösung des Unterschiedes zwischen innen und außen ist die eigentliche Spielregel der Selbst-Choreografien. Sie entfalten sich unter dem Namen »Superpronomen« (superpronome): eine Art positiver Schalter mit den beiden Schreibweisen ichdu oder duich.4
Die »Superpronomen«-Choreografien basieren lose auf einer Reihe generativer Diagramme, die Muster liefern, welche nicht so sehr nachgezeichnet als vielmehr erweitert, verändert und schließlich in einem Prozess des Experimentierens aufgelöst werden. Diese auf den Wänden der Galerie dargestellten Diagramme sind selbst schon Erweiterungen, Veränderungen, Auflösungen früherer Diagramme und früherer Spiele, die alle auf eine grundlegendere Form zurückgehen: ein Rechteck mit abgerundeten Ecken und einem Kreis in der Mitte. Diese asignifkante Form ist das sofort wieder erkennbare und einprägsame Logo des gesamten Permutationsprozesses, den Ricardo Basbaum in ständig neuer Gestalt seit über einem Jahrzehnt propagiert. Das Logo existiert ebenfalls als Akronym: »NBP«, was sich wiederum aufschlüsseln lässt in »Neue Basis zur Persönlichkeit« (Novas Bases para a Personalidade). Es handelt sich dabei um ein konstruktives Programm für einen sich erweiternden Daseinsbereich. Genau das Gebiet, das »duich« nun erkunden wollen.
Ströme kanalisieren
Eines der klassischen Probleme avantgardistischer Kunst ist der Rahmen. Der Rahmen definiert und begrenzt den besonderen Veränderungsprozess, den unsere Kultur mit »künstlerisch« bezeichnet. Er wird als notwendig erachtet, um all jene materiellen, konzeptionellen, moralischen oder politischen Grenzen zu überwinden, zu unterlaufen, zu überschreiten oder aufzubrechen, welche die Handlungen von KünstlerInnen innerhalb einer bestimmten Definition von Kunst einschränken könnten und sie somit von der Lebenswelt trennen. Wenn sich die choreografische Erfahrung von »Superpronomen« in den urbanen Raum erstreckt, könnte man meinen, ein normativer Rahmen – der besondere Inhalt des weißen Kubus – sei überschritten, ein neues Außen erobert worden, und zwar in einem historischen Sieg über die Raum-Zeit-Grenze, welche die bahnbrechenden Arbeiten Yves Kleins, der Minimalisten und anderer Player im künstlerischen Spiel etabliert hatten. Doch wäre dieser dialektische Fortschritt in der Eroberung des Raums ein unzureichendes Verständnis dessen, was in den »ichdu«-Veränderungen auf dem Spiel steht. Der umfassende und eingrenzende Raum, den Ricardo Basbaum uns zu entdecken und in ein erfahrbares Territorium umzuwandeln einlädt, ist im urbanen Raum nicht weniger präsent als in der Galerie. Er ist das allgegenwärtige Geflecht der Kontrollgesellschaft, das die Ströme der Lebenswelt umgibt und durchdringt; und er bietet keinerlei greifbare Begrenzung, die aufgebrochen, überschritten, unterlaufen oder überwunden werden könnte. Die Eingrenzungsprobleme der Gegenwartskunst unterscheiden sich grundlegend von jenen, über die sich die Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts Gedanken gemacht haben.
Gilles Deleuze lieferte in einem bekannten, 1990 auf Französisch erschienenen Text als erster eine Definition der Kontrollgesellschaft.5 Deleuze prophezeite das Ende des Disziplinarregimes, das Körpern in den Einschließungsmilieus der Schule, der Kaserne, des Krankenhauses, des Gefängnisses und der Fabrik auferlegt worden war, und seine Ersetzung durch die allgegenwärtigen Prozesse computerisierter Überwachung und Informationssammlung, verwaltet von den durchlässigeren Hierarchien des Unternehmens. Zudem brachte er diese miniaturisierten, mobilen Überwachungsprozesse in Zusammenhang mit ihrem scheinbaren Gegensatz: der bereitwilligen Energie persönlicher Motivation, hervorgebracht und kanalisiert durch die psychologische Funktion des Marketings. Der Flucht ehemals untergeordneter Bevölkerungsgruppen aus ihren disziplinarischen Gussformen und die entsprechende Aufgabe generischer Grenzen als den symbolischen Eingrenzungen gesellschaftlicher Macht wird der Einsatz von Systemen entgegengesetzt, die den Erfahrungsfluss anpassen, »sie gleichen einer sich selbst verformenden Gussform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren.« Die Kontrollgesellschaft kann als punktuelle und dennoch quasi unausweichliche Anwendung von Zwangs- oder Verführungsstimuli verstanden werden, die dazu dienen, den Ausdruck des Individuums auf molekularer Ebene zu kanalisieren, bevor irgendeine ethische Haltung eingenommen oder eine bewusste Entscheidung getroffen werden kann. Was die Philosophie traditionell als das Subjekt des Willens bezeichnete oder die klassische Ethik als die Integrität der Person, wird auf »die Chiffre eines ›dividuellen‹ Kontroll-Materials« reduziert.
Die avantgardistische Geste der Grenzüberschreitung könnte keinen Befreiungseffekt herbeiführen, wenn autoritäre Verhaltensbeschränkungen durch die flexible Fluktuation dauerhaft überwachter Umgebungen ersetzt würden. Notwendig wäre stattdessen eine Gegen-Fluktuation, die sich von normativen Dynamiken wegbewegt. Wie Basbaum 1992 schrieb: »Schon vor langer Zeit verschwand die illusorische Möglichkeit, Modelle zu konstruieren, die die Kapazität und Notwendigkeit kontinuierlicher Bewegung nicht als Voraussetzung für ihre Existenz und ihren Fortbestand in ihre Struktur mit einbauen – Modelle, die auf diese Art zu wahrhaft strategischen Konstrukten werden, zu Systemen, die Handeln und Denken vereinen.«6 Es geht um eine Strategie des Widerstands. Im gleichen Text strich Basbaum angesichts der neuen Kontrollmaßnahmen vier Charakteristiken der künstlerischen Praxis heraus:
1. Eine autopoetische oder selbsterneuernde maschinische Umgebung, deren Autonomie sich im Widerspruch zu ihrer Umgebung entwickelt.
2. Eine Intervention, die nicht im Niederreißen generischer oder disziplinarischer Grenzen besteht, sondern stattdessen in einer absichtlich lokalisierenden Konfrontation mit diffusen, allumfassenden kulturellen Formen.
3. Ein unpersönlicher KünstlerInnenstatus, der durch die Propagierung einer »individuellen Mythologie« zum Vektor für die Theatralisierung einer gelebten Umgebung wird.
4. Eine neue Rezeption der künstlerischen Arbeit, durch die ein aktiv daran teilhabendes Publikum eine ethisch-ästhetisch-kreative Haltung einnimmt.
Es ist überraschend, wie stimmig diese vier grundlegenden Prämissen etwa dreizehn Jahre später noch sind. Heute verweisen Basbaums Raumkonstrukte immer eindeutiger auf die Problematik der Kontrolle: sowohl illustrativ – durch das miniaturisierte Drahtgewebe der einschränkenden, zaunartigen Strukturen, die auf einer unterschwellig zwingenden Ebene, also quasi unterhalb jeder direkten Konfrontation mit dem Willen der BesucherInnen angebracht sind – als auch funktional – durch die Kameras mit ihrer punktuellen, aber kontinuierlichen Überwachung der Bewegung der BesucherInnen im Raum. Und doch imitieren oder replizieren die Vorrichtungen nicht einfach einen Kontrollapparat und seine Auswirkungen auf den Daseinsstrom; stattdessen liefern sie die Basis beziehungsweise den Rahmen für eine autopoetische Umgebung techno-humaner Interaktion und Kooperation, indem sie genau die Prozesse der Wahrnehmung, des Denkens und des Fühlens stimulieren, intensivieren und schließlich verbreiten, die Kontrollmaßnahmen normalerweise in vorherbestimmte Verhaltensmuster umzulenken versuchen. Der Künstler gibt die Ursprungsparameter dieser Umgebung vor, kann aber nicht als ihr Urheber betrachtet werden: Diskret und auf unpersönliche Art bedingt er vielmehr ihre Entwicklung, aber nicht mehr durch die Schaffung einer theatralischen Mythologie, sondern durch die Einführung veränderbarer Diagramme in Organisationsprozesse und widerrufbarer Regeln in selbstreflexive Spiele. Das Resultat ist weder eine greifbare Arbeit noch ein abstraktes Modell, sondern ein dynamischer Abweichungszustand, der nicht reproduzierbar, strikt lokal und intensiv ist. Er besteht aus einzigartigen Beziehungen, die emotionale Eigenschaften generieren, welche nur teilweise in Bildern, Formen, Diagrammen oder Worten eingefangen werden können. In der Tat könnten diese nicht reduzierbaren einzigartigen Intensitäten – die in den zahlreichen relationalen Landkarten, die Basbaum von heterogenen Situationen skizziert, als asignifikante grafische Formen erscheinen – selbst als die »neue Basis zur Persönlichkeit« betrachtet werden. Qualitative Prozesse, die die Kreisförmigkeit von Feedback-Loops auflösen und jegliche Modellierung von Verhalten unmöglich machen: Das sind die ersten Merkmale eines künstlerischen Widerstands gegen die Kontrollgesellschaft.
Was das theoretische, 1992 skizzierte Programm angeht, bleiben jedoch wichtige Fragen offen. Erstens, welche Art von »Konfrontation« wird durch die diffusen, allgegenwärtigen Formen der Gegenwartskultur erreicht? Und zweitens, was ist heute über die »ethisch-ästhetisch-kreative Haltung« zu sagen – also über die Haltung der einstigen BetrachterInnen?
»Towards a Diagram of the Swarm«
In seinem Text von 1990 bemerkte Deleuze, dass »wir am Beginn von etwas Neuem stehen«. Nehmen wir die jüngsten Entwicklungen der Kontrollgesellschaft. Kurz nach den Ereignissen vom 11. September wurden im Zuge der Bestrebungen, öffentliche und private Informationsquellen in Bezug auf die Bewegungen von Personen innerhalb der Vereinigten Staaten zu vereinen, große amerikanische Datenerfassungsunternehmen wie Seisint, ChoicePoint und Axiometric von den Nachrichtendiensten angesprochen.7 Daraus ging eine Maschinerie hervor, die, wie könnte es anders sein, unter dem Namen »Matrix« bekannt wurde: ein Netzwerk von miteinander verbundenen Datenbanken und Suchprotokollen, das Einzelne nicht nur anhand von Informationsfetzen aufspüren kann – »Haarfarbe, eine oder zwei Ziffern des Nummernschilds, vielleicht auch frühere Flüge in ein bestimmtes Land« –, sondern auch ein Profil ihrer Gewohnheiten erstellen sowie persönliche Beziehungen und Bekanntschaften kartografisch erfassen und Prognosen über mögliches zukünftiges Verhalten abgeben kann. Glücklicherweise wurde das Matrix-Programm vom U.S.-Kongress ebenso gestoppt wie sein unmittelbarer Vorläufer, ein noch umfassenderes Programm mit dem Titel »Total Information Awareness«, das entworfen wurde, um diese Art von Überwachung auf globaler Ebene auszudehnen. Aber es besteht wenig Zweifel daran, dass solche Techniken von den Geheimdiensten benutzt werden, und zwar nicht nur in den USA.
Diese Art der Integration von Öffentlichem und Privatem hat zweierlei Effekt. Auf der einen Seite haben gigantische Orwell’sche Bürokratiegebilde (wie etwa das Schengen Information System) zunehmend nahtlosen Zugang zu Informationen über das persönliche Reiseverhalten, Eintragungen bei Ämtern und Behörden, Konsumgewohnheiten, Bevölkerungsstatistiken und intime Gespräche und Korrespondenzen von Millionen von BürgerInnen, die von Geldautomaten, Mobiltelefonen, Computernetzwerken, Online-Ticket-Services, dem öffentlichen Gesundheitswesen etc. Gebrauch machen.
Auf der anderen Seite konnten die privaten Unternehmen, die diese Überwachungssysteme entwickelt haben, dadurch deutlich ihre Möglichkeiten verbessern, das Verhalten von Personengruppen statistisch zu imitieren und vorauszusagen. Womit sich nicht nur die verführerischen Abbilder der Werbung – die sich mit zunehmender Präzision an individuelle Neigungen und Geschmäcker anpasst –, sondern auch die äußere Form und der imaginäre Inhalt kulturell-informativer Umgebungen (öffentliche Räume, Computerinterfaces, kommerzielle und Unterhaltungsbereiche, Transportsysteme) effektiver gestalten lässt. Wie ein enormes dreidimensionales Fernsehgerät kann die urbane Umgebung selbst ständig neu programmiert werden, um das Verhalten der BürgerInnen-KonsumentInnen zu lenken. Das Resultat dieser doppelten Entwicklung der Kontrollgesellschaft ist ein alles umfassendes Identifikations- beziehungsweise Anreizsystem, das die lästigen Ideologien und Machtdemonstrationen, die früheren autoritären Gesellschaften zu Eigen waren, umgeht. Eine Begleiterscheinung dieses Trends ist das diffuse Bewusstsein: Wenn wir alle beobachtet werden, ist ein grenzenloser Opportunismus – oder eine Chance, im neuen System mitkontrollieren zu dürfen – für mich die bessere Option. Das Ergebnis ist ein formbarer, kontinuierlich zur Disposition stehender Individualismus, eine Bereitschaft, durch ständige Anpassung an sich willkürlich ändernde Regeln persönliche Vorteile zu erringen. Das Krankheitsbild der Herrschaft/Unterwerfung, das ich als »die flexible Persönlichkeit« analysiert habe, ist nun in den westlichen Gesellschaften vollständig etabliert.8
Die Rolle der Technologie in diesem neuen Verhaltensregime hat neuere Untersuchungen von Subjektivität dazu veranlasst, auf der Form des Netzwerks zu bestehen. Auch Basbaum hat die weitschweifigen Kreisläufe künstlerischen Experimentierens mit dem Internet verfolgt und unter anderem mit Jordan Crandall zusammengearbeitet, der seit Mitte der 1990er Jahre dem Subjektivierungsprozess an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine durchweg aufschlussreiche Arbeiten gewidmet hat.9 Doch wo der amerikanische Künstler vornehmlich versuchte, mit Hilfe von landeskundlichen und philosophiekritischen Werkzeugen die normativen Formen dieser Beziehung offen zu legen, versuchte sich der Brasilianer an seinem nicht-dialektischen Anderen: dynamische Muster selbstorganisierender Beziehungen, die nicht die Bahnen identifizierbarer Körper oder die Profile vorhersehbarer Wünsche skizzieren, sondern stattdessen versuchen, die Rhythmen kollektiver Intensivierung und Verbreitung umzuverteilen, die durch das Vermengen von Wahrnehmungserfahrung, intellektuellem Diskurs und emotionalem Austausch erzeugt werden. Die Evolution zu einer, wie ich es nennen würde, Trans-Subjektivität bildet das Herzstück des NBP-Projekts; dieses fungiert als »das Bedeutungsfeld, welches die Entwicklung eines einzelnen Subjekts ohne die intensive Präsenz des Anderen für unmöglich hält.«10 Angesichts des neuen Identifikations- beziehungsweise Anreizregimes mit seinem geschmeidig opportunistischen Individualismus könnte das Prinzip von NBP als »kollektive Heterogenese« bezeichnet werden.
Um Trans-Subjektivität ging es von Anfang an, beispielsweise in dem 1994er-Projekt »Würden Sie gern an einer künstlerischen Erfahrung teilhaben?« (Você gostaria de participar de uma experiência artística?). Jeweils einen Monat lang leihen sich die TeilnehmerInnen entsprechend dem NBP-Diagramm ein großes, emailliertes Stahlobjekt aus und schaffen und dokumentieren etwas, was man als »Gebrauchswerk« bezeichnen könnte, dessen Urheberschaft geteilt, verdoppelt, multipliziert wird, bis man sie nicht mehr präzise zuordnen kann. Trans-Subjektivität ist auch im Museum erfahrbar, und zwar in Form der »Capsules«, die erstmalig 2000 im Museum für Moderne Kunst in Rio de Janeiro vorgestellt wurden: vier unterschiedliche »Behälter« aus Drahtgewebe, von denen jeder für zwei liegende Personen konzipiert wurde. Der persönliche Raum jeder Person kann abgetrennt, teilweise oder ganz offen gelassen werden, je nachdem, wie das Objekt konfiguriert wurde – und vor allem, was man damit vorhat. Diese Art von Projekt hat einen hohen Referenzcharakter: Die Variationen in Bezug auf die Form individueller Abkapselung und Kopplung könnten ein Verweis auf das Werk Foucaults sein; das Beziehungsdiagramm an der Wand könnte als eine Weiterführung von Guattaris Kartografie von Komplexität in »Cartographies schizoanalytiques« erscheinen. Doch kann dasselbe Vokabular im alltäglichen Erfahrungsraum auch in intuitiv populären Begriffen entwickelt werden. Die Installation »Transatravessamento«, die 2002 auf der São Paulo Biennale vorgestellt wurde, bestand aus drei Drahtgewebestrukturen: einem Eingangsmodul, einem »Systema-Cinema«-Sichtungsraum und einem L-förmigen Fußballfeld, ausgestattet mit mehreren Bällen, unklaren Regeln und einem großformatigen Beziehungsdiagramm. Die Kakophonie aus abprallenden Bällen, vom Video abgespielten Dribbel- und Täuschungsmanövern, sich kreuzender kultureller Ebenen und gegenteiliger Meinungen über das angemessene Verhalten innerhalb eines Museums boten reichlich Gelegenheit für anspruchsvolle Selbstreflexionsprozesse in einem konkreten und vorhersehbaren institutionellen Rahmen.
Dieses Prinzip sich spiralförmig um einen strukturierten Rahmen rankender Variationen wird in einer Arbeit wie »Nós Nós« (2002) ganz explizit präsentiert. Das »affirmative all-inclusive Manifesto«, bringt das portugiesische Wort für »wir« (nós) mit seinem Homonym und dessen Bedeutung »Knoten« in Verbindung. Hier wird eine vernetzte Form sozialer Bindung angedeutet, die sich nicht durch die simple Anhäufung von Identitäten erweitert, sondern durch die skalare Umverteilung relationaler Formen. Wie Basbaum bemerkt: »Denkt man sich die Gruppe als Kreislauf, symbolisieren die Knoten nicht einzelne Individuen, sondern eine weitere Gruppe an sich – die fraktale Struktur ist offensichtlich.«11
Trans-Subjektivität scheint eine solche fraktale Struktur anzunehmen, konstituiert sie doch Beziehungen nicht durch die erzwungene Aufspaltung des Individuums in »dividuale« Elemente (die typische Handlungsweise der Kontrollgesellschaft), sondern durch die Dispersion und Rekonfiguration prä-individueller Sinn- und Emotionspartikel auf einer Skala von mikro bis makro. »Interessant wird es, wenn man davon ausgeht, dass Überlebenstechniken gänzlich abhängig sind vom Prozess der erfolgreichen Verbindung von immer mehr Knoten«, führt der Künstler dazu aus. Der Betrachter oder die Betrachterin wird dann zugleich Substanz und Vektor eines Selbstorganisationsprozesses, einer vernetzten Choreografie. Ohne dass dabei die Knoten der Macht vergessen wären.
Es ist kein Zufall, dass das »Nós Nós«-Projekt auch auf »coletivo formigueiro« verweist, eine Gruppe brasilianischer KünstlerInnen und Kulturschaffender, die sich dem Medienaktivismus verschrieben haben. Der Wunsch, den Bereich der Alltagskultur in einen politischen Raum umzuwandeln, ist wohl die häufigste Reaktion auf das Heraufziehen der Kontrollgesellschaft. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren begab sich nicht nur in Brasilien, sondern weltweit eine neue Generation von KünstlerInnen auf die Suche nach den konzeptionellen und affektiven Potenzialen neuer kollektiver Praktiken, welche die äußerst individualisierenden Machtstrukturen der Kontrollgesellschaft auf sich selbst zurückzuwenden vermochten, wodurch trans-subjektive Territorien des Widerstands entstanden. Dieser Weg beinhaltete unzählige Experimente mit der Auflösung der klassischen Subjekt-Objekt-Beziehung, genauer gesagt, mit der Multiplikation selbstreflexiver Prozesse durch die fraktal organisierten Knoten – die »ichdu«-Partikel – eines erweiterten Beziehungsfelds. Die Experimente sind weder abgeschlossen noch ausschließend. Dennoch ist klar, dass sie in jüngster Zeit zu einer neuen Art von Gesellschaftsbildung beigetragen haben, einer neuen Intentionalität, die zunehmend in der Lage ist, sich mittels trans-individueller Prozesse selbst zu organisieren, Prozesse, die nicht so leicht zu identifizieren oder auszumachen sind, die in der Verteilung ein konstituierendes Prinzip gefunden haben. Hier haben wir eine Choreografie des multiplen Selbst, einen zeitgenössischen Daseinsbereich.
Wenn ich von einer kulturellen Landschaft aufschaue, die von tausenden einzelner lokal intensiver, rastlos umherziehender Projekte und Abenteuer überzogen ist, sehe ich manchmal ein Gebilde in der Luft hängen: mannigfaltig, durchscheinend, dahinschwindend, sich unablässig vereinigend und im Wind zerstreuend. Erst so konnte ich seine Bewegungen wahrzunehmen, sein Potenzial erkennen. Nennen wir es ein Diagramm des Schwarms.
Übersetzt von Gaby Gehlen
1 Ricardo Basbaum, What is NBP?, Manifest, 1990.
2 Die folgende Beschreibung basiert auf einer Installation in der Galerie A Gentil Carioca in Rio im November 2004 und auf den Plänen für die aktuelle Ausstellung.
3 Basbaum entlehnt diese Liste deskriptiver Termini bei dem Verhaltenspsychologen Kurt Lewin, Survey of experimental investigations, Kapitel VIII in: A Dynamic Theory of Personality. New York 1935, S. 261-264, englischer Text unter http://gestalttheory.net/archive/lewin1935.html ; Lewin behandelt das »Beziehungsfeld« der Begegnung eines Kindes mit einem Fremden (zuhören, ansehen, zugewandte Körperhaltung, lächeln, reden, Wünsche äußern, Körperkontakt, persönliche Fragen stellen, angeben etc.).
4 Die Dokumentation eines »Superpronomen«-Workshops findet sich in »re-projetando + sistema-cinema + superpronome«, dem Ausstellungskatalog der Cândido Portinari Galerie der staatlichen Universität von Rio de Janeiro, 19. August bis 10. Oktober 2003.
5 Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Der Text findet sich auf verschiedenen Internetseiten und in einer Reihe von Anthologien, etwa auf http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html
6 Ricardo Basbaum, Quatro características da arte nas sociedades de controle, Manuskript eines Vortrags im Curso de Mestrado em Comunicação e Cultura, ECO-UFRJ, 1992.
7 Vgl. die Radioreportage »No Place to Hide« (2005) von John Biewen und Robert O’Harrow Jr., eine Produktion von American RadioWorks und dem Center for Documentary Studies der Duke University. Transkript unter http://americanradioworks.publicradio.org/features/noplacetohide/. Information zur MATRIX siehe http://www.aclu.org/Privacy/Privacy.cfm?ID=14240&c=130 (American Civil Liberties Union).
8 Brian Holmes, The Flexible Personality: For a New Cultural Critique, in Hieroglyphs of the Future (Zagreb: Arkzin/WHW, 2002), englischer Text unter http://www.u-tangente.org/ , deutsche Übersetzung unter http://www.societyofcontrol.com/.
9 Eine ausführliche Dokumentation zu Jordan Crandalls Arbeiten findet sich unter http://www.jordancrandall.com.
10 Ricardo Basbaum, Differences between us and them, http://www.static-ops.org/archive_october/essay_12.htm
11 Ibid.