Heft 3/2005 - Hoffnung Südamerika?
Ab den 1970er Jahren begannen die Agenten der Kunstwelt, immer mehr KünstlerInnen aus nicht-zentralen Regionen in ihre Diskurse und Praktiken zu integrieren.1 Allmählich entsteht ein gewisser Konsens, was die Konfiguration einer neuen Landkarte der Künste betrifft: Nicht nur die Präsenz von KünstlerInnen aus peripheren Ländern hat sich in der internationalen Szene gehäuft, sondern auch die Events und Kunstinstitutionen, die abseits der zentralen Achse Europa-Vereinigte Staaten liegen, sind auf internationaler Ebene sichtbarer geworden.
Heutzutage stellt das Überschreiten bzw. die Infragestellung von Grenzen und modernen Kategorien nicht allein eine Option dar, sondern ist für jene, die mit zeitgenössischer Kunst arbeiten, zu einer Notwendigkeit geworden.2 Doch in wie weit ist die internationale Welt der zeitgenössischen Kunst offener und demokratischer geworden? Welche sind die Interessen und die Ideologien, die das Funktionieren der zeitgenössischen Szene auf internationaler Ebene bestimmen? Welche Stellung nimmt in diesem Szenario die brasilianische Kunstproduktion ein?
Aus einer empirischen Perspektive, wie sie der Soziologie der Künste zu Eigen ist,3 habe ich versucht, die Verbreitung zeitgenössischer brasilianischer Kunst zu erforschen. In wie weit ist die brasilianische Kunst im jetzigen Szenario, das gekennzeichnet ist von einer immer größer werdenden Zahl von Events und einem starken Umlauf, wirklich in internationalen Kreisen integriert? Dies war mein zentraler Ausgangspunkt.4 Das Thema lässt sich aus verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten: die Integration von KünstlerInnen im internationalen Markt, die Analyse internationaler Ausstellungen, die Präsenz und Darstellung der brasilianischen Kunst durch die internationale Fachpresse, Forschungsprojekte und akademische Publikationen zum Thema sowie die Teilnahme brasilianischer KritikerInnen und KuratorInnen an internationalen Projekten.5
Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass eine bedeutsame Änderung auf dem Weltkunstszenario existiert, vielleicht sogar eine Änderung von Paradigmen, doch dies ist ein ständiger Prozess, der sowohl Gelegenheiten als auch Herausforderungen bringen kann für jene, die abseits der wirtschaftlichen und politischen Zentren Kunst produzieren: Sehr oft zielt die Öffnung in erster Linie auf die Stärkung der symbolischen und wirtschaftlichen Macht jener, die sich in den Zentren befinden, wodurch ein vereinfachtes, aus dem Kontext gerissenes, ja oft sogar stereotypes Bild der Produktion in der Peripherie entsteht.
Die unsichtbare Akademie6 – die die künstlerischen Werte sowie die Marktwerte festlegt – bleibt immer noch schwer zugänglich für ein Mitwirken von außerhalb der Achse Europa-Vereinigte Staaten. Was sich tatsächlich zugetragen hat, ist eine kontrollierte Diversifikation, genährt von herbeigeführten Modeerscheinungen, während die Plätze im Rampenlicht weiterhin der Produktion, den ProtagonistInnen und Institutionen der zentralen Achse vorbehalten bleiben.7
Zum Verständnis dieses Prozesses muss die Notwendigkeit der Erneuerung und der Diversifikation der zeitgenössischen Kunstszene berücksichtigt werden hinsichtlich der Nachfrage8 dreier unterschiedlicher, jedoch verknüpfter »Märkte«: der Markt stricto sensu (Galerien), der institutionelle Markt (Museen und ähnliche Institutionen) und der intellektuelle Markt (Kritikproduktion und Kuratortätigkeiten).
Brasilien im Museum of Modern Art
Wer die Geschichte des New Yorker MoMA ein wenig kennt, weiß, dass das Museum sich seit seiner Gründung tatsächlich der Sammlung »internationaler Kunst« verschrieben hat, und in dieser Kategorie waren auch einige Länder Lateinamerikas vertreten. Im Allgemeinen war die lateinamerikanische Kunstproduktion – zu der Brasilien gezählt wird – immer präsent, obwohl ihr immer nur ein geringer Raum zuerkannt wurde, in der sie wenig sichtbar blieb.
Wenn man die Gesamtheit der brasilianischen Werke betrachtet, die sich in der Sammlung des MoMA befinden, so bemerkt man, dass es in bestimmten Perioden ein »spezielles« Interesse seitens der Institution für Brasilien gegeben zu haben scheint, mit quantitativ wichtigen Akquisitionen und einigen Ausstellungen. Dieses Interesse kulminierte in der Periode des Zweiten Weltkrieges bzw. danach, während der 1960er Jahre, und war von politischen und wirtschaftlichen Faktoren geprägt, die von der Institution selbst – die als Vermittlerin innerhalb des nordamerikanischen Kooptationsprojektes fungierte – ausführlich diskutiert und auch anerkannt wurden.9 Seit den späten 1960er Jahren waren Akquisitionen und Ausstellungen von Werken brasilianischer Künstler seitens des MoMA nur mehr selten. So fand etwa 1967 die Ausstellung »Latin American Art 1931-1966«, organisiert von Alfred H. Barr, dem Direktor und Gründer des MoMA, statt. Danach kam es erst 1993 wieder zu einer großen Retrospektive, die Lateinamerika gewidmet war: »Latin American Artists of the Twentieth Century«10. Im Großen und Ganzen scheinen die KuratorInnen des Museums die hohen ästhetischen Werte, die sie in ihre Sammlungen und Projekte einfließen lassen wollten, in der in Brasilien produzierten Kunst nicht erkannt zu haben. Ende der 1980er Jahre begann sich dies zu ändern,11 jedoch erst in den 90ern wird eine bedeutende Zahl zeitgenössischer brasilianischer Werke in die Sammlung aufgenommen. Dies fällt zusammen mit einer breiteren Diversifikationsbewegung der internationalen Kunstszene und der Öffnung von international prominenten Institutionen gegenüber der Kunstproduktion peripherer Länder.
Aber es ist klar, dass das MoMA während seiner ganzen Geschichte nie bloß von dem einfachen Wunsch getrieben wurde, die Kunst um der Kunst willen zu fördern. Wenn es Momente eines größeren Interesses für die lateinamerikanische (oder brasilianische) Kunstproduktion gab, so sind diese auf das Zusammenfließen von generellen Determinanten (politische, wirtschaftliche und soziale Interessen) und spezifischen Determinanten (Werdegänge und Interessen von KuratorInnen, SammlerInnen, Mäzenen, KünstlerInnen) zurückzuführen. Heute muss man die Tatsache berücksichtigen, dass die lateinamerikanische Bevölkerung zur größten »Minderheit« der Vereinigten Staaten geworden ist, und eine Reihe öffentlicher Politiken sind auf Projekte gerichtet, die diese Bevölkerungsgruppe betreffen. Dies eröffnet Institutionen wie dem MoMA die Möglichkeit, wichtige Finanzierungen für Projekte mit »identitärem« Charakter zu erhalten. So wird auch Raum geschaffen für Intervention wie jene der venezolanischen Sammlerin Patricia de Cisneros,12 deren Einfluss bei neuen Zielsetzungen dieser Institution enorm ist. Auch hat das Wirken von brasilianischen SammlerInnen, GaleristInnen und KuratorInnen in bisher nie da gewesenem Maße dazu beigetragen, brasilianische Kunst innerhalb der Institution stärker sichtbar zu machen.
Doch dies wäre nicht möglich gewesen, hätte das Museum sich nicht dazu entschlossen, auf allgemeinere Weise in die Aufwertung der lateinamerikanischen Kunst zu investieren. So wurde eine Bibliothek eingerichtet, die der lateinamerikanischen Kunst gewidmet ist und in der seit kurzem auch SpezialistInnen arbeiten, etwa Miriam Basilio, die verantwortlich zeichnet für einen großen Teil der minutiösen Erforschung der Geschichte des MoMA, seiner Beziehungen zu Lateinamerika, seiner Einkaufs- und Ausstellungspolitik sowie der Geschichte der Ausstellungen lateinamerikanischer Kunst in den Vereinigten Staaten, deren Resultate im Katalog der Ausstellung »Latin American & Caribbean Art – MoMA at El Museo» veröffentlicht wurden.13
All diese Aktivitäten sind die Konsequenz einer Unterscheidungs- und Auszeichnungsstrategie der Institution – die dazu übergegangen ist, die Vorreiterrolle in Bezug auf die Förderung lateinamerikanischer Kunst in den Vereinigten Staaten für sich zu beanspruchen, sowie der Unterscheidungsstrategien einzelner Agenten, die auf internationale Ebene versuchen, ihr Sozialkapital zu erhöhen. Solche Initiativen können eine gewisse Öffnung der Institution gegenüber neuer Horizonte bedeuten und – wer weiß – in einer Aufwertung der brasilianischen (und lateinamerikanischen) Kunst münden, wie dies ihre BefürworterInnen (darunter auch einige VertreterInnen des Museums) wünschen. Dennoch hat das Museum noch keine neuerliche Evaluierung der Kunstgeschichte durchgeführt, um die Beiträge der lateinamerikanischen Kunstproduktion besser integrieren zu können, und es hat auch in der Tat nicht viel Platz für diese Produktion im Museum zur Verfügung gestellt. Dies wurde ziemlich deutlich während der Ausstellung »Latin American & Caribbean Art« im vergangenen Jahr.14 Die Ausstellung fand im Museo del Barrio statt, einer interessanten Institution, aber von peripherer Bedeutung in der New Yorker Kunstszene. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass einzelne Aktionen gesetzt wurden und eine getrennte »lateinamerikanische Sammlung« eingerichtet wurde, nicht automatisch, dass diese innerhalb des MoMA einen ausreichend wichtigen Status erlangt hätte. Andere Tatsachen belegen dies: Der Großteil der erworbenen Werke ist auf Papier, was bedeutet, dass die getätigten Investitionen von wirtschaftlich geringem Ausmaß sind.
Andererseits ist die Trennung zwischen internationaler Sammlung und »lateinamerikanischer« Sammlung im neuen museografischen Projekt des Museums, das 2004 wiedereröffnet wurde, verschwunden. Noch nie waren so viele brasilianische KünstlerInnen ausgestellt: Hélio Oiticica, Lygia Clark, Fernando Campana, Mira Schendel und Rivane Neuenschwander.15 Es ist sicher kein Zufall, dass sechs von 16 der ausgestellten Werke von Patricia de Cisneros gestiftet wurden oder der Kauf von ihr finanziert wurde. Man beachte zudem, dass der Großteil der erworbenen Werke dem Konkretismus und Neokonkretismus zugerechnet wird, einem der Schwerpunkte der Cisneros-Sammlung.16
Wenn wir den Trend der Aufwertung kultureller Spezifika, der in den letzten Jahren in der Kunstszene en vogue war, berücksichtigen, so könnte es sein, dass das MoMA lediglich einen gewissen Opportunismus an den Tag legt. Erst die Zeit wird dies weisen. Sicher ist jedoch, dass das plötzliche Interesse an Lateinamerika nicht aus dem Nichts kommt – wie nichts im Bereich der Kunst. Und dass die brasilianische Kunst immer noch nicht die internationale Anerkennung erfahren hat, die ihr zusteht, obwohl sie in den letzten Jahren eine größere internationale Sichtbarkeit erlangt hat.
Beitrag zu dem internationalen Symposion »Patterns in Disarray – Contemporary Thought in Art«, organisiert von der Kunsthalle »The Paço das Artes«, São Paulo, und »The Permanent Forum: Art Museums, Between the Public and Private Realms«;
http://forumpermanente.incubadora.fapesp.br/portal_en/
Übersetzt von Igor Metzeltin
1 Die Ausstellung »Information«, die 1970 im MoMA gezeigt wurde, deutete bereits auf eine Öffnung der internationalen Kunstszene hin. In der Einführung des Ausstellungskataloges behauptet Kynaston McShine: »It is no longer imperative for an artist to be in Paris or New York. Those far from the ›art centers‹ contribute more easily, without the often artificial protocol that at one time seemed essential for recognition.« An dieser legendären Ausstellung, einer der ersten, die der Konzeptkunst gewidmet war, nahmen Cildo Meireles, Arthur Barrio und Hélio Oiticica teil. Es war auch die erste Teilnahme von Joseph Beuys an einer Ausstellung in den Vereinigten Staaten.
2 Über die formellen und konzeptuellen Grenzüberschreitungen, die der Kunst und den Institutionen der zeitgenössischen Kunst zu Eigen sind, vgl. Vera Zoblerg, Outsider Art. Contesting bounderies in contemporary culture, Cambridge/New York 1997; Nathalie Heinich, Le triple jeu de l’art contemporain, Paris 1998, sowie Ana Letícia Fialho, Transgressions géographiques et esthétiques de l’art contemporain: discours et pratiques. (Paper vorgelegt beim XVII Congrès Internationale des Sociologues de Langue Française, Tours, Juli 2004).
3 Einige Publikationen geben komplexere Analysen über die Globalisierung und die Welt der Künste, vgl. Néstor García Canclini, Culturas Híbridas, São Paulo 2000; Gerardo Mosquera et al., Zones de Silence. Amsterdam 2001; Virginie Garreta (Hg.), Pour une nouvelle géographie artistique des années 90, Bordeaux 2000.
4 »A inserção da arte brasileira nos circuitos internacionais« lautet der Arbeitstitel meiner Dissertation, an der ich seit 2001 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris arbeite.
5 Von den bei internationalen Konferenzen vorgelegten Artikel und Papers möchte ich folgende hervorheben: Les expositions internationales d’art brésilien: discours, enjeux, pratiques, dargebracht beim »Primeiro Encontro Cultura no Brasil« in der Brasilianischen Botschaft in Frankreich, Februar 2004; Mercado de Arte: Internacional e Desigual, veröffentlicht 2005 in der Online-Zeitschrift Revista Trópico; Hélio Oiticica volta à cena internacional americanizado, veröffentlicht 2002 in der Online-Zeitschrift Revista ArteWebBrasil.
6 Vgl. Raymonde Moulin, L’artiste, l’institution et le marché, Paris 1999.
7 Wie Alain Quemin in seinem Bericht für das französische Außenministerium vortrefflich gezeigt hat, der ohne dessen Wissen und unter dem Titel »L’art contemporain international: entre les institutions et le marché (Le rapport disparu)«, Nîmes 2002 veröffentlicht wurde.
8 Diese Nachfrage hat historische, soziale, politische und wirtschaftliche Determinanten, doch in der vorliegenden Arbeit ist nicht genug Platz, um diese näher zu erörtern. In meiner Dissertation differenziere ich die »spezifischen Determinanten« – die dem Kunstbereich inhärent sind – und die makro-sozialen Determinanten«, und ich zeige in der Folge auf, wie die Änderungen im Betrieb der Systeme der Künste nur nach umfassender Analyse verständlich werden. Zum Thema habe ich auch das Paper »Identity and territorial representation in contemporary art institutions: the gap between discourse and practices« verfasst, das im April 2004 beim Seminar »Belonging: Community, Commonality, and the Politics of Singular« an der New York University vorgestellt wurde.
9 Nach Miriam Basilio, Reflecting on a History of Collecting and Exhibiting Works by Artists from Latin America. Dieser Text wurde im Katalog der Ausstellung »Latin American & Caribbean Art – MoMA at El Museo« in New York 2004 veröffentlicht.
10 Die Ausstellung wurde zuerst in Spanien, Frankreich und Deutschland gezeigt und zum Abschluss in New York (MoMA, 2. Juni bis 7. September 1993).
11 Gegenwärtig entstehen einige Projekte, die der lateinamerikanischen Kunstproduktion gewidmet sind. Brazil Projects zum Beispiel hat individuelle Schauen von Künstlern wie Cildo Meireles und Burle Marx erwogen.
12 Abgesehen von direkten Gaben finanziert Patricia de Cisneros verschiedenste Projekte. Dank ihrer Lobby wurde das Amt des Adjunct Curator erschaffen, das lateinamerikanischen Kuratoren vorbehalten ist. Es wurde zuerst von Paulo Herkenhoff (2000-2003) bekleidet, dann folgte Luis Pérez-Oramas (2003 bis heute), der auch als Berater der Cisneros-Stiftung tätig ist.
13 Darüber hinaus existiert ein Fonds, der Reisen der KuratorInnen des Museums nach Lateinamerika sowie diverse andere Programme im Bereich der Kunst/Erziehung, Ausbildung für KuratorInnen und die Zirkulation von Ausstellungen finanziert. Drei Publikationen, in denen Texte von lateinamerikanischen KritikerInnen Berücksichtigung finden, sind gerade in Arbeit (eine Publikation wird Mario Pedrosa gewidmet sein).
14 Zur Ausstellung vgl. Ana Letícia Fialho, MoMa (re)descobre a América Latina, Revista Trópico online.
15 Diese Informationen und die Abbildungen der Werke wurden vom MoMA via E-mail im März 2005 zur Verfügung gestellt. Ich hatte noch keine Gelegenheit, das Museum nach seiner Wiedereröffnung zu besuchen.
16 Nähere Details zur Sammlung Cisneros können dem Text von Luis Pérez Oramas, La Colección Cisneros: una colección ilustrada? entnommen werden, in: Mari Carmen Ramírez (Hg.), Collecting Latin American Art for the 21st Century, Houston 2002.