Heft 3/2005 - Lektüre



Simon Reynolds:

Rip It Up and Start Again

Post-Punk 1978-1984

London (Faber & Faber) 2005 , S. 74

Text: Pat Blashill


Im Februar 1979 gab die große englische Post-Punk-Gruppe Wire, nachdem sie mit »154« ihr drittes klassisches Album in weniger als drei Jahren veröffentlicht hatte, bekannt, dass sie in einem Londoner Club namens Electric Ballroom auftreten würden. Die Band hatte bis dahin Karriere gemacht, indem sie Punk-Rock neu definierte und in Folge diese Neudefinition abermals neu definierte. Für den Electric-Ballroom-Auftritt entschlossen sich Wire, noch einen Schritt weiter zu gehen. In seiner epischen und erdigen Geschichte der Post-Punk-Jahre gibt Simon Reynolds die Szene mit Sympathie und Ablehnung gleichermaßen wieder. In dieser Nacht »inszenierten Wire eine absurdistisch-fantastische Vorstellung, die nach den dadaistischen Kabarettaufführungen von 1916-19 roch«, schreibt er. »Jeder Song in diesem nahezu durchwegs neuen Set wurde von einem verrückten Spektakel begleitet. Sänger Colin Newman sang ›We Meet Under Tables‹ und trug dabei einen schwarzen knielangen Schleier. Bassist Graham Lewis knurrte ›Eels Sang Lino‹, begleitet und beleuchtet von einer glühenden Gans. Das Publikum war entweder verstört oder schmiss Flaschen auf die Bühne. Es war Wires letzter Auftritt für die nächsten fünf Jahre.«
Wires Kampf auf verlorenem Posten ist nicht die absurdeste Szene in »Rip It Up and Start Again«, aber er wirft ein Licht auf Reynolds’ Methode. Ob HistorikerInnen nun über den Vietnamkrieg schreiben, den Begriff »Hipness« oder über eine bestimmte Ära der Popmusik, oft tappen sie in eine der zwei Fallen: Revisionismus oder Reverenz. Reynolds hingegen tritt einer traditionellen Auffassung entgegen – er behauptet, dass das, was nach Punk kam, interessanter war als The Sex Pistols, Buzzcocks, The Ramones et al. – und macht sich dann daran, seine These mit den klaren Augen eines Journalisten und der Leidenschaft eines Fanatikers zu untermauern. Reynolds mag von dem Sprichwort geleitet worden seien, dass die Kunst stets vom Künstler zu unterscheiden sei: In »Rip It Up« ist die Post-Punk-Musik von 1978 bis 1984 eine riesige Fläche nahezu unwiderlegbarer musikalischer Meisterwerke und komplexer, inspirierter, oft auch lächerlicher MusikerInnen.
Der Umfang des Buches, wie das Klangspektrum der Musik selbst, ist überwältigend. Dadurch, dass bei Reynolds alle Art-Rock-Bands mit coolen Frisuren zu Post-Punk zählen, ist er in der Lage, eine große Banbbreite mit einzuschließen: von Johnny Rottens zweiter Gruppe, Public Image Limited, bis zu den schrägen Synthetik-Amerikanern bekannt als Devo, von Horrible-Noise-Gruppen wie Throbbing Gristle bis zu christlichen Stadion-Rockern wie U2, von der primitivistischen Pop Group bis zu den futuristischen The Art of Noise. Reynolds vertritt die provokante Ansicht, dass das, was all diese Post-Punks zusammengehalten hat, nicht nur deren jeweilige Wurzeln im Punk waren (den er im übrigens als regressive »Back-to-basics«-Bewegung kritisiert), sondern ihr Wille, fortschrittliche, gefährliche und konzeptuelle Musik zu machen.
Als Historie ist »Rip it Up« reich an Fakten und Details. Reynolds deckt die wahre Identität der lange Zeit anonymen San-Francisco-Underground-Spinner The Residents auf und zitiert die nahezu kriminell bescheidene Erklärung des Gang-of-Four-Schlagzeugers Hugo Burnhams, seine Band wäre wie »The Clash, nur ohne Cowboy-Outfits« gewesen. In einem Kapitel über Synthiepop-Gruppen wie Soft Cell, Gary Numans Tubeway Army und The Human League gräbt der Autor die Geschichte eines mit größter Anstrengung gefertigten Remix-Albums des Human-League-Produzenten Martin Rushent aus: »Am Ende«, schreibt Reynolds, »enthielt das Mastertape von ›Love and Dancing‹ so viele Klebestellen – 2200 Hauptedits und um die 400 weitere kleine Edits für Wiederholungseffekte –, dass es ständig zu zerreißen drohte.« Die vielleicht überraschendste Enthüllung im Buch betrifft Malcolm McLaren, den Manager der Sex Pistols, und seine Post-Punk-Versuche so etwas wie ein Kinderporno-Auteur zu werden – mit einem Musical »namens ›The Adventures of Melody, Lyric and Tune‹, das sich um ein 15-jähriges Mädchen und seine sexuelle Ausbeutung durch Erwachsene drehte und vor dem Hintergrund verschiedener Pariser Sehenswürdigkeiten spielte.«
Das Buch kontextualisiert Geschichten wie diese mit kulturkritischen Einsichten über Breakdance, Ethnizität sowie die »Revolutionen« Reagans und Thatcher. Eine berührende Verschmelzung von kritischem Denken und gesundem Menschenverstand findet sich in Reynolds’ Erklärung des Erfolges erbärmlicher britischer Elektro-Gruppen in den amerikanischen Popcharts. »Seit Bowie, wenn nicht früher, gibt es im amerikanischen Rock-Bewusstsein eine direkte Verbindung zwischen England und ›gay‹. Was gleichermaßen Anglophobie und Anglophilie erklärt: Denen, die sich vom vorherrschenden Heterosexismus des Mainstream-Rock befremdet abwenden, winkt ›England‹ als Fata Morgana, wie eine Utopie der Androgynität.«
Leider sind diese Momente analytischer Klarheit kurz und süß: Reynolds macht nur kurz Halt, wirft sie den LeserInnen hin wie eine Handvoll Feenstaub, um uns dann zurückzuführen zum Haupterzählstrang, wer was wann mit wem und wie gemacht hat. »Rip It Up« wimmelt von hunderten faszinierenden Charakteren, und Reynolds organisiert ihre Geschichten (und das Buch selbst) in einzelne Fächer, die eine Spur zu ordentlich wirken. Wenn überhaupt, dann hätte das Buch mehr von Reynolds’ geistreichen Einsichten und weniger vom Geschwätz der Post-Punk-ProtagonistInnen vertragen können. (Die »tiefen« Gedanken von Slits-Sängerin Ari Up oder Throbbing Gristles Genesis P-Orridge wegzulassen, wäre kein großer Verlust gewesen.)
Von solchen Kleinigkeiten abgesehen, überzeugt »Rip It Up« über weite Strecken durch Simon Reynolds’ Liebe zu dieser Musik. Selbst wenn er eine Strategie des Post-Punk aufgreift, indem er die MusikerInnen entmystifiziert, ist seine Leidenschaft unter anderem für »Second Edition« von Public Image Limited und »Meat Puppets II« fieberhaft genug, um noch die skeptischsten LeserInnen in den nächsten Plattenladen laufen zu lassen. Besser kann Musikjournalismus kaum sein.

Zusatzmaterialien zum Buch finden sich unter http://www.faber.co.uk und http://www.simonreynolds.net.

 

Übersetzt von Brandon Walder