Danzig. Selten betritt man eine Ausstellung mit einem Passierschein für das Gelände. Genauso wenig erwartet man ein Kunstinstitut an einem Ort wie einer Schiffswerft. Dabei ist das 137.000 Hektar große Terrain nicht irgendeines. In der Danziger Werft, damals noch bekannt unter dem Namen Lenin-Werft, entfachten am 14. August 1980 die ArbeiterInnen einen Streik, der zur Gründung der ersten freien Gewerkschaft in Polen führte und letztendlich im Zusammenbruch des Kommunismus in ganz Osteuropa mündete. Zehn Millionen Menschen sollen es gewesen sein, die damals in Polen mit der Solidarnosc sympathisierten. Jacek Kuron, regimekritischer Intellektueller, nannte die Solidarnosk »einen Zug, der ohne Fahrplan auf den Gleisen fuhr«. Früher oder später musste es zum Zusammenstoß kommen. Die damalige Bewegung ist heute zersplittert. Sie ist eine Art Mythos der Entstehung des neuen Polens geworden. Vieles hat sich seitdem verändert, sodass der Mythos manchmal unbequem erscheint. Nach dem historischen Sieg der Solidarnosc kam die Ernüchterung. Für die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Wende verantwortlich gemacht, verlor die Solidarnosc ihre einst wichtige Rolle.
Heute wird die Werft nicht mehr von Streikenden besetzt. Längst hat sich neben den ArbeiterInnen eine Kunst- und Kulturszene etabliert. Das progressive Paar der Kulturszene Polens, der Künstler Grzegosz Klaman und die Kuratorin Aneta Szylak, suchten seit dem Beginn der Wende neue Orte der Präsentation. Das von ihnen gegründete Instytut Sztuki Wyspa, das seit 2004 auf dem Werftgelände in Danzig aktiv ist, zeigt im Rahmen des 25-jährigen Jubiläums der Gewerkschaftsbewegung die Ausstellung »Wächter der Werft«. Dabei geht es der Kuratorin Szylak um die Frage, wie objektive historische Ereignisse individuell und allgemein gesellschaftlich erlebt werden. »Wenn wir über die Wächter der Werft sprechen, denken wir an die Wächter der Geschichte, wie viele persönliche Seiten die Solidarnosc hat und welch unterschiedliche Versionen der Erzählung es gibt«, heißt es im Einladungstext. Die Ausstellung erinnert sowohl an bekannte als auch vergessene Gestalten, Gesichter, Symbole und Bilder der 1980er Jahre in Polen.
In diesem Zusammenhang ist auch Andrzej Wajdas paradokumentarischer Film »Der Mann aus Eisen« zu sehen, der die Eingangshalle schmückt. Das Meisterwerk, in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnet, zeigt die Geschichte der gesellschaftlichen Umbrüche, die parallel zu den politischen Ereignissen im Land passierten. Die Frage dabei ist, in welchem Moment der Film zu einem Teil der Geschichte wurde, über die er selbst erzählt. Als Videoinstallation zu sehen, bildet der Film den Ausgangspunkt der Ausstellung, um den sich eine Reihe vielfältiger individueller Erfahrungen der KünstlerInnen gruppieren. Grzegosz Klaman baute eine Stube für Walesa an dessen ehemaligem Arbeitsplatz – der Elektrikerwerkstatt. Der eingerahmte Nobelpreis hängt neben anderen Requisiten. Eine Art »American Dream« – vom Elektriker zum Präsidenten. An zeitgenössischen Porträts der damals Streikenden mangelt es nicht. Michal Szlaga fotografierte Anna Walenterowicz vor dem Hintergrund ihres ehemaligen Arbeitsplatzes. Die Arbeit trägt den Titel »Proletarierin Anna«. Die Werftarbeiterin, die 1980 dreißig Tage vor ihrer Rente aus der Werft entlassen wurde, gab den Anlass zu dem Streik, der in eine nationale Aktion umschlug.
Außer den Arbeiten, die sich direkt auf die Ereignisse und deren GestalterInnen beziehen, sind auch solche zu sehen, die Zweifel und Befürchtungen der Wahrheit gegenüber zum Ausdruck bringen. Die junge Künstlerin Jadwiga Sawicka hat hunderte von historischen Lehrbüchern der damaligen Zeit, aus offiziellem wie auch inoffiziellem Umlauf, in Papier eingewickelt und sie mit dem Aufdruck »Vergangenheit und Lüge« versehen. Unter den vielen kontroversen Fragestellungen jüngerer polnischer KünstlerInnen finden sich auch Eindrücke Außenstehender. Dazu lud Aneta Szylak ausländische KünstlerInnen für einen Monat in die Werft ein. René Lück war bereits in der letzten Ausstellung in der Wyspa vertreten, seine Arbeit »Himalaja Bahn«, eine Holzbahn mit dem dazugehörigen Transparent »Hoch lebe die internationale Solidarität« befindet sich bereits in der Sammlung und ist nun ein weiteres Mal zu sehen. Lück widmet seine Arbeiten einem besonderen Teil der kulturellen Erinnerung, der »deutschen Identität«. Zur Ausstellung rekonstruierte der in Berlin lebende Künstler mit ingenieurhafter Genauigkeit eine Konzertbühne und zieht Parallelen zwischen der Solidarnosc und Bürgerbewegungen der 1980er Jahre in Deutschland. Die riesige Holzkonstruktion, die sich vor der ehemaligen Werftschule ideal an die Umgebung anpasst, ist ein Nachbau der Bühne des Festivals »Rock gegen Rechts«, das 1979 in Frankfurt am Main stattfand. Den Anlass dazu sahen viele Linke, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsjugendliche darin, dass die NPD am damaligen Tag der deutschen Einheit zu einem »Deutschlandtreffen« aufgerufen hatte.
Subtiler und zurückhaltender ist der Beitrag von Fanny Adler und Cecile Paris. Fast poetisch nimmt sich die Videoinstallation der beiden jungen Künstlerinnen aus Frankreich aus, deren Ausgangspunkt der den Menschen der Solidarnosc gewidmete U2-Song »New Year's Day« ist. »Under a blood-red sky/A crowd has gathered in black and white ...« tönt es aus den Mauern des Museums. Den Text singen die Künstlerinnen als Hymne gemeinsam, die Musik haben sie weggelassen, stattdessen bekommt das Lied eine Easy-Listening-Untermalung. Das Video dazu zeigt Aufnahmen der Werft im Dunkeln, wo Lichter angezündet werden als Hommage an die Solidarnosc. Zusätzlich brachte Cecile Paris auf dem vor dem Werftgelände platzierten Souvenirladen einen Leuchtschriftzug an, den man ein- und ausschalten kann. Wie flüchtig und vergänglich ist doch die Erinnerung.
»Wächter der Werft« ist keine publizistische Ausstellung, warnt Szylak: »Wir stellen uns auf keine Seite, und wir stellen auch keine Diagnosen auf. Wir wollen, dass es eine Ausstellung über uns wird und für uns alle, verwickelt in die Medienbilder der Geschichte.« Was HistorikerInnen schon immer Kopfzerbrechen bereitet hat, fand sich in der Ausstellung bestätigt, nämlich dass Zeitgeschichte niemals objektiv sein kann. Sie hängt eben immer auch mit subjektiven Erinnerungen zusammen, und jeder erlebt sie anders, so auch die Kunst und deren MacherInnen.