Heft 1/2006 - Kollektive Amnesien
Dmitri Gutov (geboren 1960) ist einer der wichtigsten Vertreter der russischen zeitgenössischen Kunst. Aber gerade der zeitgenössischen Kunst – auf deren Gebiet er als Installations- und Videokünstler sowie als Maler tätig ist – steht er voller Skepsis gegenüber. Seit Ende der achtziger Jahre gilt sein Hauptinteresse den sowjetischen dreißiger Jahren und der marxistischen Ästhetik, die sich in diesen Jahren entwickelt hat. Und zwar in ihrer konservativsten Fassung, nämlich der des orthodox-marxistischen Philosophen Michail Lifschitz (1905–1983).
1994 gründete Gutov mit seinem Kollegen, dem Künstler und Kurator Konstantin Bokhorov, das »Lifschitz-Institut«, das sich diesem leidenschaftlichen Anti-Modernisten widmet. Als Lese- und Diskussionsgruppe konzipiert, sammelt das Institut die Werke von Lifschitz, die mittlerweile bibliografische Raritäten sind, stellt sie online, organisiert Seminare und Diskussionsrunden und führt auch Ausstellungen durch, die Lifschitz und seiner Kulturtheorie gewidmet sind. Worum es dabei aber eigentlich geht, haben wir im folgenden Gespräch zu erörtern versucht.
David Riff: In den letzten 30 Jahren haben sich KünstlerInnen aus Russland immer wieder der sowjetischen Vergangenheit zugewandt. Es scheint, als wollten sie von der Peripherie der Gegenwart ins Zentrum ihrer eigenen Geschichte zurückkehren, um das verlorene Geheimnis der sowjetischen Epoche zu lüften. Besonders der Kreis der Moskauer Konzeptualisten sind für einen solchen Historizismus bekannt. Doch all die Versuche, das sowjetische Erbe – ob Kanon, Utopie oder Alltag – aufzuarbeiten, zeigen eher, inwiefern die Epoche schon in ihrem Ausklingen von einer gewissen kollektiven Amnesie befallen war. Etwas sehr Wichtiges haben sie vergessen. Aber was ist dieses »Etwas« genau? Niemand scheint es wirklich zu wissen.
Dmitri Gutov: Ende der fünfziger Jahre entdeckte die Intelligenz des Tauwetters unter Chruschtschow die Moderne wieder, aber alles, was mit der »totalitären« Stalin-Epoche zu tun hatte, lehnte sie voller Ekel ab. Erst Anfang der siebziger Jahre begannen die Konzeptualisten, sich für diese Zeit zu interessieren. Die Vorahnung, die diesem Ansatz zugrunde lag, war nicht falsch: Zu erforschen gibt es in dieser Epoche immerhin viel. Aber in der Praxis arbeiteten die Konzeptualisten wie Raub-Archäologen. Die wertvollsten Schichten zerstörten sie. Unauffälligere, aber umso wichtigere Phänomene ließen sie einfach außer Acht. Ihre Aufwertung der Stalin-Epoche betraf gerade ihre primitivsten, himmelschreiend vulgären Elemente, den sowjetischen Trash. Hinzu kommt, dass die Konzeptualisten diese Epoche als einheitlichen Stil verstanden. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich kaum von der vorherigen Generation. Das »Lifschitz-Institut« machte eine ganz andere Entdeckung (wenn man hier überhaupt von Entdeckungen sprechen kann), und zwar, dass die Ganzheit des Gesamtkunstwerks Stalin eine Illusion war. In dieser Epoche fanden wir einen inneren Bruch, der auf den Messgeräten der Moskauer Konzeptualisten einfach nicht aufgetaucht war.
Riff: Um es also in den Begriffen der Moskauer Konzeptualisten selbst zu fassen: Der konzeptuelle Historizismus strukturiert sich um ein leeres Zentrum, in dem der innere Konflikt der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre verborgen liegt. Ich denke, dieser innere Konflikt findet seinen stärksten Ausdruck in den ästhetischen Debatten marxistischer Theoretiker dieser Zeit, an denen Adorno, Benjamin, Brecht, Lukács und auch der ästhetische Philosoph Michail Lifschitz (1905–1983) beteiligt waren.
Gutov: Ja. Gerade die Debatten um Literatur und Kunst bilden den Nerv der dreißiger Jahre, und Michail Lifschitz ist in diesen Debatten eine zentrale Figur.
Riff: Aber scheinbar wurde dieser innere Konflikt erst mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wieder denkbar, um mit Boris Groys zu sprechen. Warum? Und warum gerade Lifschitz?
Gutov: Um zu verstehen, wie es möglich wurde, Lifschitz mit anderen Augen zu lesen, muss man sich in die Perestrojka zurückversetzen. Eine phantasmagorische, völlig eigenständige Epoche. Einerseits brach eine unerhörte Freiheit ein. Der repressive Staatsapparat hatte weder die Möglichkeit noch das Verlangen, sich in den spontan entwickelnden Lauf der Dinge einzumischen. Andererseits hat sich noch keiner wirklich vorstellen können, welche Macht das Geld eigentlich ausüben kann. Die Perestrojka war sozusagen ein Lichtblick zwischen zwei Mechanismen der Gewalt; der eine war schon verfallen, der andere noch nicht wirklich ausgeformt. Solche Zeiten nannte Michail Lifschitz Zwischenräume der Geschichte. In seiner Kulturphilosophie widmet er solchen Zuständen sehr viel Aufmerksamkeit. Auf diese Weise versteht er zum Beispiel auch die Antike, und zwar als Spalt zwischen der Archaik und den noch unentwickelten Klassengegensätzen der kapitalistischen Zivilisation. Alles, was den Menschen und die Kultur verstümmeln kann, ist in solchen Momenten geschwächt. Ähnlich beschreibt er die Situation seines eigenen Lebens, an der Grenze zwischen den zwanziger und dreißiger Jahren. Zwischen dem Vulgärmarxismus der zwanziger Jahre und der düsteren Dogmatik der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Natürlich waren die späten achtziger Jahre, die wir erlebt haben, nur ein blasser Abklatsch weitaus hellerer Lichtblicke, aber etwas Ähnliches lag in dieser Zeit doch in der Luft.
Jedenfalls war die Entdeckung der Arbeiten von Michail Lifschitz ein Schock. Für meine Generation, also für die, die in den siebziger und achtziger Jahren studiert hatten, war der sowjetische Marxismus eine trübe Suppe, eine Art Abrakadabra. Und gerade Lifschitz war als ihr orthodoxester Vertreter bekannt. Um mit Dionysius dem Areopagiten zu sprechen: Im Epizentrum dieser Finsternis entdeckten wir Licht. Es stellte sich heraus, dass es Texte gibt, die sich mit genau den gleichen hölzernen Themen befassen, die uns bis hin zum Brechreiz eingebläut wurden, die aber bei aller äußerer Einfachheit spitzfindig und raffiniert waren. Als der Hintergrund verschwand, mit dem sich
die Texte von Lifschitz verquickt hatten, fand sich der Schlüssel zu seinen Texten, und zwar, dass man sie nicht wörtlich verstehen darf. Aber das wurde, gelinde ausgedrückt, nicht jedem sofort klar.
Riff: Worin genau besteht die Besonderheit der Lifschitz’schen Ästhetik?
Gutov: Um näher zu erklären, worum es geht, können wir auf eine der bekanntesten Aussagen von Marx zur Kunst aus der Einleitung zu den »Grundrissen« zurückgreifen. Marx schreibt: »Die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, dass griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, dass sie für uns noch Kunstgenuss gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.«
Wenn man alle Überlegungen zur Normativität der griechischen Kunst beiseite lässt, sieht man in diesem Satz ein zentrales Problem. Nämlich, dass uns überhaupt ein Kunstwerk Kunstgenuss gewährt. Unabhängig von den sozialen Umständen, unter denen es erschaffen wurde. Das klingt wie eine nicht-marxistische, metaphysische Fragestellung. Im Grunde genommen folgt aus diesem Zitat, dass die Kunst einen außer-historischen Bestandteil enthält und dass dieser Bestandteil eigentlich das Wichtigste an der Kunst ist. Keine Soziologie kann ihn erfassen.
In den dreißiger Jahren entdeckten einige Denker im Marx’schen Vermächtnis einen konsequent anti-relativistischen Inhalt. Diesen kann man mit der größten Klarheit sozusagen am Rande der klassischen Marx’schen Themen erkennen. In der Kulturphilosophie von Marx. Vor Lifschitz meinte man, dass eine solche überhaupt nicht existiert. Er rekonstruierte sie anhand von akribisch gesammelten Aussagen von Marx und Engels zu Kunst und Literatur, die er als Anthologie herausgab. An seinem Lebensende sagte er, dass er gerade diese Arbeit weitaus mehr schätzt als seine anderen, originären Beiträge.
Riff: Dennoch frage ich mich, ob es bei den ästhetischen Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre um den »Kunstgenuss« ging, den Marx in seiner Einleitung beschreibt. Und wie verstand Lifschitz diesen Genuss? »Kunstgenuss« klingt für mich nach Spät-Romantik, nach Biedermeier, nach einem kurzweiligen, bürgerlichen Luxus.
Gutov: Das Wesen dieses Kunstgenusses ist damit verbunden, dass dem Menschen im Spiegel der Kunst der Sinn seines eigenen historischen und persönlichen Lebens mit größerer Klarheit erscheint. Bekanntermaßen sprach Marx nicht gerne von ewigen Dingen. Seit seinem frühen Artikel »Debatten zum Holzdiebstahlgesetz« (1842) konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf materielle Verhältnisse. Dennoch, und hierin besteht die große Entdeckung der dreißiger Jahre: Die äußerst bodenständige Sprache von Marx enthält mehr treffsichere Ansätze zu traditionell als metaphysisch aufgefassten Fragen denn Lehren, die solche Fragen frontal auslegen. Auf Marx projizierte man in den Dreißigern sozusagen das alte Sprichwort aus dem Orient: »Der Wissende spricht nicht; der Sprechende weiß nicht.«
Riff: In diesem Sinne ging es also in den Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre um die Wahrheit und nicht um den Genuss, also um das Diktum Lenins: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.«
Gutov: Genau. Lifschitz formuliert seine wichtigste Entdeckung wie folgt: »Der echten marxistischen Klassik ist ein absoluter Standpunkt bei weitem nicht fremd. Für sie sind Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit keine Bedingtheiten der Zeit, sondern der höchste Inhalt des Klassenkampfes, und echte Werte gehören überhaupt zu den objektiven Prädikaten der Wirklichkeit selbst.« Das war Marx, nicht einfach durch Hegel, sondern durch Platon gelesen.
Riff: Eine weitere Frage: Du sagst, dass Lifschitz bei Marx den ultimativen Inhalt der Kunst außer-historisch versteht. Aber es gibt auch eine nicht weniger interessante Art, dieses Zitat aus den »Grundrissen« zu lesen. »Die Griechen«, schreibt Marx dort, »waren normale Kinder.« Für uns hängt der Reiz ihrer Kunst damit zusammen, »dass die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter der sie entstand …, nie wiederkehren können.« Wie normale Kinder antizipieren sie ein Erwachsenwerden, aber die Entzauberung des Erwachsenseins gibt ihrer Hoffnung keine Chance: »Wo bleibt Jupiter gegen den Blitzableiter?« Was dennoch vom Kunstwerk bleibt, ist seine Vorahnung einer kommenden Wahrheit, einer Erlösung. Aber die Erlösung lässt auf sich warten. Das Resultat: Eine Kluft zwischen einer »kommenden Gemeinschaft« und der Wirklichkeit, deren historische Kräfte uns wie Vieh zusammentreiben. Gerade diese Erwartung ist in jedem Kunstwerk spürbar, stellt seinen Nutzwert dar und rechtfertigt seine Zirkulation als Ware, die trotz aller Unwiederholbarkeit die Reproduktion erzwingt. So werden wir im Endeffekt die Hoffnungen der »normalen Kinder« immer wieder betrügen. Könnte man hier nicht eine Verbindung zu den zwanziger und dreißiger Jahren herstellen? Zu dem Bewusstsein eines katastrophalen Verrats, der gerade stattfindet oder gleich stattfinden wird? Wenn es nicht darum geht, dann sind all unsere Gespräche um die Unwiederholbarkeit der zwanziger oder dreißiger Jahre nichts als Historizismus.
Gutov: Nun ja, bei der Rückbesinnung an die sowjetischen zwanziger und dreißiger Jahre handelt es sich nicht um Historizismus. Die Einmaligkeit dieser Zeit liegt in ihrem Vorgriff auf die Zukunft. Breiter gefasst könnte man ähnliches vom gesamten Marxismus behaupten. Das Interesse an ihm ist das Interesse an einer Zukunft, die für einen kurzen Augenblick sichtbar wurde, mit einer Intensität, die fast jenseits aller Wahrnehmung liegt. Deshalb hat das historische Gedächtnis diese Erfahrung nur mit größter Mühe festhalten können. Heute muss man diese Erfahrung aus Fragmenten wieder zusammenfügen, aus schwachen Spuren in den Ruinen, aus Bruchstücken, Andeutungen und Schatten.
In diesem kurzlebigen Einblick in die Zukunft lag ein riesiger Widerspruch. Einerseits war das eine Welt nach dem Kapitalismus. Die realisierte Vorahnung einer klassenlosen Gesellschaft. Die Materialisierung einer Theorie von einer höheren Form des Lebens. Der gefundene Schlüssel zum Geheimnis der Geschichte. Viele Aspekte des Alltags trugen schon die Züge des realen Kommunismus. Aber die Rückseite dieser Erfahrung war ein im Laufe der dreißiger Jahre wachsendes Bewusstsein, dass die Revolution eine fatale Niederlage erlitten hatte. Dass sie in ihren wichtigsten Zügen unrealisiert blieb. Dass sie sich in einen völlig irrationalen Alptraum verwandelt hatte. Der Zusammenbruch des Realsozialismus, den wir in den achtziger Jahren erlebt haben, war nichts als ein schwacher Widerhall dieser Niederlage.
Die Quintessenz der dreißiger Jahre liegt also darin, dass der Kommunismus gleichzeitig durchgesetzt wurde und sich als undurchführbar erwies. Diese Einheit – die die innere Erfahrung einer ganzen Generation prägte – bleibt auf unabsehbare Zeit lebendig. Gerade deswegen kann man sich auf diese Erfahrung noch stützen, auch wenn uns die heutige Situation noch so hoffnungslos erscheint. Es war doch irgendwann einmal Wirklichkeit.
Um noch einmal auf Amnesie zurückzukommen: Der Schock dieses beispiellosen Fehlschlags hatte seine posttraumatischen Folgen; das Wertvollste wurde gelöscht. Gerade deshalb erscheint die Marx-Lektüre der dreißiger Jahre so unschätzbar. Das, was sie bemerkt haben, ist unter anderen Umständen unsichtbar. Das Zwielicht der gleichzeitig siegreichen und sterbenden Revolution ist einmalig. Unsere Erfahrung hat viel weniger Farbe. Als Überlebende des Untergangs der Illusionen waren die Menschen der dreißiger Jahre viel nüchterner als wir, doch als Zeugen der realisierten Revolution, die nicht illusorisch war, gehören sie dem morgigen Tag.
Riff: Dennoch war gerade Lifschitz ein konservativer Philosoph, ein überzeugter Gegner des Modernismus. Ein weiterer Widerspruch! Worin liegt sein revolutionäres Potenzial, seine Vorwegnahme der Zukunft?
Gutov: Um diese Frage zu beantworten, müsste ich den Lifschitz’schen Begriff des Konservativismus auslegen, einen seiner zentralen Begriffe. Um ihn aufs Wesentliche zu reduzieren: Jegliche mechanische Gegenüberstellung von Revolutionärem und Konservativem ist oberflächlich und geradezu sinnlos. Es gibt Formen des Ultrarevolutionären, in dessen Herzen ein reaktionärer Konservatismus verborgen liegt. Die Träger eines solchen Bewusstseins illustrieren diese Idee oft mit ihrem Schicksal, besonders wenn sie stufenlos vom radikalen Bruch zum religiösen Obskurantismus übergehen. Es gibt aber auch Konservatismus mit einem innigen demokratischen Inhalt, mit einem kolossalen Protestpotenzial. So verstand Lifschitz Sokrates, Platon, Aeschylos, Aristophanes, Dante, Shakespeare, Goethe, Pushkin und Dostoevskij. Hierher rührt auch sein Interesse am konservativen Kunstideal von Marx und Lenin. All diese Überlegungen sollte man auch auf Lifschitz selbst anwenden, der meist als erzkonservativer Obskurant und Reaktionär verstanden wird. Er nannte das die große Wiederherstellung der Wahrheit alter Kulturen ohne retrograde Ideen.
Riff: Daher also auch Lifschitz’ Kritik der künstlerischen Avantgarde …
Gutov: Eine der Mappen aus dem Archiv von Lifschitz, das unlängst zum Teil veröffentlicht wurde, heißt »Der Sinn der Welt.« In dieser Mappe gibt es ein Fragment, das Licht auf den Zorn wirft, mit dem sich Lifschitz auf das gesamte ästhetische Projekt des 20. Jahrhunderts stürzt. Es klingt wie folgt: »Die Idee des Absurden ist äußerster Ausdruck des Irrationalismus (gibt es schon bei Dada). Das Absurde ist die Negation der ›Logodizee‹, adaequatio rei et intellectus [die Übereinstimmung der Dinge und des Intellekts]. Nicht die Irrationalität als die beste Art der Einsicht in die Welt, sondern die Irrationalität der Welt an sich, das Absterben ihrer Vernunft – nicht nur in dieser konkreten Form, sondern in der Form der Möglichkeit.« Die Richtung, die die Kunst nach Picassos »Die Jungfern aus Avignon« endgültig eingeschlagen hat, versteht Lifschitz als plastisches Äquivalent zum »Absterben der Vernunft der Welt
in der Form ihrer Möglichkeit«.
Riff: Also eine totale Ablehnungshaltung gegenüber der zeitgenössischen Kunst, im Nahmen der Wahrheit und der Vernunft. Du aber bist ein zeitgenössischer Künstler und findest trotzdem gerade in Lifschitz deine wichtigste Inspiration. Wie ist das möglich?
Gutov: Ich sehe im Projekt der zeitgenössischen Kunst insgesamt etwas Unbefriedigendes. Besonders in den Manifestationen, die als erfolgreich gelten. Beim Durchblättern von Kunstzeitschriften und der Teilnahme an Ausstellungen überkommt mich ein nahezu körperliches Unbehagen. Aber hier würde ich auch gerne die Beobachtung anwenden, die ich vorher über die sowjetische Erfahrung der dreißiger Jahre gemacht habe. Innerhalb dieser Ganzheit gibt es auch einen inneren Bruch. Etwas, das einem tiefen Unbehagen entspricht. Aber gerade dieses Unbehagen kommt der Kunst einer künftigen kommunistischen Gesellschaft am nächsten.
Meine Hinwendung zu den dreißiger Jahren ist die Hinwendung zu einem Anfang, der kein Ende gefunden hat. Auf der Ebene der künstlerischen Praxis entspricht dies einer Rückbesinnung auf die Grundlagen, zu elementaren mimetischen Versuchen, zur Arbeit an Werken, die irgendetwas abbilden. Nach all den künstlerischen und sozialen Experimenten des vergangenen Jahrhunderts ist das, als wolle man eine Fischsuppe in ein Aquarium verwandeln.
In deutscher Sprache sind folgende Bücher von Michail Lifschitz erschienen:
Karl Marx und die Ästhetik. Dresden 1967.
Krise des Hässlichen. Vom Kubismus zu Pop Art. Dresden 1972.
Die dreißiger Jahre. Ausgewählte Schriften. Dresden 1988.