Heft 1/2006


Kollektive Amnesien

Editorial


In den übervollen digitalen und analogen Archiven der Gegenwart erscheint der Zugriff auf Materialien künstlerischer oder politischer Bewegungen leichter denn je. Erinnerungskultur, einschließlich ganzer »Gedenkjahre«, ist ein mächtiger Zweig des Kulturbetriebes geworden. In dessen allgegenwärtiger Arbeit an und mit der Geschichte ereignen sich aber auch eigenartige Ausblendungen und Klitterungen, Verdrängungen und Verwerfungen. Nicht dass damit ein gezielter Gedächtnisverlust einhergehen würde, aber die Wirkungen mancher Arten von Geschichtsaufarbeitung kommen einem solchen gefährlich nahe.

Das vorliegende Heft sucht nach Themen und Figuren von kollektiven Amnesien und fragt nach deren Hintergründen. Da sind zunächst die zahlreichen Verknotungen von individuellen und kollektiven Geschichten, welche in der aktuellen Kunst aus Erinnerungslücken und Zeitlöchern geborgen werden. Das sind in Vergessenheit geratene Figuren wie der russische Philosoph Michail Lifschitz, der für eine junge KünstlerInnengeneration provokante Anknüpfungspunkte im Hier und Heute bietet. Und da sind unbewältigte historische Kapitel wie etwa die Berliner Afrika-Konferenz 1884/85, die Anlass zu einem umfassenden Bildbeitrag in dieser Nummer gegeben hat.

Dass Großveranstaltungen wie die Istanbul-Biennale sich gerne mit zeitgeistigem Flair umgeben, traumatische Geschichtskatastrophen wie die Genozide an KurdInnen und ArmenierInnen darin aber weitgehend ausgespart bleiben, wird in einer eigenen Sektion diskutiert. Schließlich kommt auch das fatal kurze Gedächtnis imperialer Unternehmungen wie jenes der USA im Irak zur Sprache. Dazu beleuchtet ein Künstlerprojekt, was es heißt, wenn mitten in der westlichen Gesellschaft arabischstämmige StaatsbürgerInnen plötzlich unter Generalverdacht stehen.