Heft 1/2006 - Kollektive Amnesien


Kollektive Amnesie als Projekt

Anmerkungen zur 9. Istanbul Biennale

Süreyyya Evren


Vielleicht leben wir immer noch in den letzten, wirklich faszinierenden und außergewöhnlichen Kapiteln der »Buddenbrooks«. Über die ersten hundert Seiten und eine Reihe von Ereignissen verläuft Thomas Manns »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« gleichförmig. Die Ereignisse werden im Stammbuch der Familie aufgezeichnet, auch sehr seltsame, nebensächliche Ereignisse im Leben der einzelnen Familienmitglieder, und dieses Tagebuch spielt eine sehr große Rolle für die »Idee der Familie«. Die Substanz der Familie beruht auf dem, was dort geschrieben steht, und ihr Wesen wird durch diese Geschichtsschreibung strukturiert. Antonie Buddenbrook, die sehr viel Wert auf das Tagebuch legt, gehört neben ihrem erfolgreichen Bruder Thomas auch zu den stärksten Befürwortern der Idee der Familie. Einmal wird der Tagebuchdokumentation sogar Vorrang vor dem wahren Leben eingeräumt – Antonie, die die Familienchronik mit großer Achtung und starkem Zugehörigkeitsgefühl liest, stimmt der Heirat mit einem von ihr eigentlich nicht geliebten Kaufmann zu, weil dies besser zur bereits geschriebenen Familiengeschichte passen würde. In das Tagebuch schreibt sie mit Bestimmtheit und in der Vergangenheitsform: »Antonie Buddenbrook verlobte sich«. Das bedeutet eindeutig, dass es passieren wird. Punkt. Sie schreibt zunächst so, als sei sie bereits verlobt, und verlobt sich dann später, so wie sie es niedergeschrieben hat.

Doch obwohl Antonie Buddenbrook fest an das Ideal der Familie glaubt, versagt sie hier und leidet stets darunter. Sie weiß auch, dass es ihr Bruder Thomas ist, der Familie und Familienunternehmen zusammenhält. Als Thomas noch als junger Mann stirbt, sterben gewissermaßen auch die Buddenbrooks – das Spiel ist aus. Schließlich ist Thomas’ schwächlicher Sohn Hanno nicht Teil des Familienkonzepts der Buddenbrooks; wir alle wissen, dass er es nicht weiter voranbringen wird und in einer anderen Wirklichkeit lebt. In den berühmten letzten Kapiteln, die mit Kapitel elf beginnen,1 finden wir uns zunehmend in der Welt Hannos wieder. Doch in dieser Welt aus ganz anderen Details und Perspektiven ist die Idee der Buddenbrooks bereits vergessen. Hier erhalten wir einen guten Einblick in kollektive Amnesie und die Schaffung von Autorität durch Konsens.

Zu Anfang befinden wir uns mit Hanno und seinen Klassenkameraden im Klassenzimmer. Schüler reagieren kollektiv und manipulieren, um mit der Perspektive des Lehrers harmonieren zu können. Zuerst erleben wir, wie schnell Schüler einen Klassenkameraden verabscheuen, wenn dieser dem Lehrer gegenüber versagt und dessen Ärger auf sich zieht. Dann wird der Lehrer überraschend von einem der Schüler getäuscht. Dieser gibt vor, ein Stück aufzusagen, das er auswendig lernen sollte, aber tatsächlich liest er heimlich vom Buch ab. Als der Lehrer näher kommt, kann er nicht weiterlesen. Doch Doktor Mantelsack kehrt zu seinem Pult zurück, und der Schüler, Timm, fährt mit seinem Betrug fort. Letzten Endes lässt sich der Lehrer täuschen. Er glaubt tatsächlich, dass Timm gut gelernt und sich große Mühe gegeben hat, auch wenn der Vortrag nicht perfekt war. Er gratuliert Timm und gibt ihm eine gute Note. Die Klasse, die Zeuge der Mogelei Timms gegenüber Doktor Mantelsack war, glaubt seltsamerweise ebenfalls, dass Timm ein wirklich guter Schüler ist und tatsächlich eine gute Note verdient. Noch merkwürdiger ist, dass sogar Timm dies glaubt. Hanno Buddenbrook registriert diese Verschiebung und ist sich ihrer bewusst, kann sich ihr aber nicht entziehen und glaubt schließlich auch daran.

Dann bleibt ein weiterer Schüler die Antwort schuldig, und auch dieses Mal wendet sich der Hass der Klasse sehr schnell gegen ihn. Schließlich ist Hanno an der Reihe. Er macht es Timm nach, täuscht den Lehrer und erhält als Lob schließlich den Applaus von Doktor Mandelsack. Merkwürdigerweise glaubt auch er schließlich, den Lobgesang verdient zu haben, und ist stolz auf sich. Er vertraut der Situation, obwohl er weiß, dass diese nicht echt ist und dies vor einigen Minuten bei der Mogelei Timms ebenso wenig war. Er fühlt sich angewidert, schwach und erschöpft.

Diese kollektive Politik der Erinnerung, die stark nach den Prinzipien der Autoritätsbildung und der Konsenskultur organisiert ist, hat also das dringende Bedürfnis, jederzeit eine kollektive Amnesie hervorzurufen, wenn diese gebraucht wird. Ich fühle mich ähnlich wie Hanno, wenn ich an großen lokalen Ausstellungen wie der Istanbul Biennale teilnehme. Ich fühle die Abscheu, die er sich selbst gegenüber empfand, und ich teile auch das Gefühl der Schwäche und der Erschöpfung.

Gespaltene Szene
In diesem Jahr fand die 9. Istanbul Biennale (9B) statt. Die Kuratoren Charles Esche und Vasif Kortun setzten ihre Absicht um, einige der Standardausprägungen der Istanbul Biennale zu ändern – indem sie den Standort des Events aus dem historischen Istanbul in ein Viertel mit vielen Unterhaltungsmöglichkeiten und kulturellen Angeboten verlegten, die Biennale mehr auf die Stadt verteilten, sie mit zusätzlichen Podiumsdiskussionen, Publikationen, Diskussionen etc. bewarben.

Die Istanbul Biennale wird von einer lokalen Elite organisiert, die mit dem großen Netzwerk aus Biennale- und Festival-OrganisatorInnen in Verbindung steht. Lokale Finanzhilfen und Unterstützungsmaßnahmen sind jedoch offensichtlich Teil eines größeren Plans, Istanbul als kulturelle Marke zu bewerben. In einem Interview sprach Kortun von einem Wettbewerb zwischen den Städten und zählte die Istanbul Biennale zu einem der vier Mega-Events, die 2005 in Istanbul stattfanden (neben dem Champions League-Finale 2005, dem Formel 1-Grand Prix und dem UIA-Weltarchitekturkongress 2005).2

Die Istanbul Biennale ist in der Türkei ein großes Medienereignis, sie erhält eine erstklassige Berichterstattung und wird überall beworben. Diese Werbung ist jedoch Teil einer Konsenskultur, die Konflikte verschleiert. Die Präsentation der Istanbul Biennale soll uns vergessen machen, dass die Kunstszene der Türkei gespalten ist und die Biennale sich auf eine winzige lokale Kunstszene stützt. Man möchte uns die »Festivalitis« vergessen lassen und auch die Tatsache, dass wir uns in einem großen Wettbewerb der großen Metropolen bewegen. Und die 9B mit ihrem Hauptthema »Istanbul« will uns darüber hinwegsehen lassen, dass das Konzept einer Stadt sich nicht durch repräsentative Großereignisse wie die Biennale von oben nach unten gestalten lässt, sondern alternative Kunstszenen von unten braucht, die sich gleichermaßen um herrschende Strömungen wie um inoffizielle Entwicklungen kümmern.

Erinnern wir uns daran, dass die tief gespaltene türkische Kunstwelt aus zwei Hauptlagern besteht: in erster Linie aus dem Lager der zeitgenössischen Kunst und dem der konservativ-traditionellen Kunst. Die TraditionalistInnen bilden das größere Lager, dem in erster Linie Akademien, SammlerInnen, Institutionen und Galerien angehören. Das Lager der zeitgenössischen Kunst ist klein und hat im Land wenig Einfluss. Wer Kontakt zur zeitgenössischen türkischen Kunstszene hat, kennt alle in Frage kommenden Galerien und Orte – denn davon gibt es nicht viele, und sie liegen nah beieinander. Zweieinhalb Galerien, so heißt es häufig. Und doch ist die Welt der zeitgenössischen Kunst noch immer stark, denn die (westliche) Kunst beobachtet aufmerksam, was dort geschieht. Das größere traditionalistische Lager ist lokal stark, international gesehen jedoch schwach. Große Ausstellungen wie die Biennale stellen unterschwellig Kriegsschauplätze dar: Das Lager der TraditionalistInnen hasst sie. Für die Medien befinden sich beide Lager jedoch auf derselben Marketingschiene. Diese Nebeneinanderstellung spielt keine große Rolle. Die meisten zeitgenössischen türkischen KünstlerInnen arbeiten regelmäßig für Ausstellungen und Events im Ausland, während sie im Inland keinen vergleichbaren Bewegungsspielraum haben. Das führt zu Problemen hinsichtlich der Repräsentanz. Einige von ihnen sind es leid, dazu gezwungen zu sein, Kultur und Land für ausländische BetrachterInnen zu repräsentieren, und reden in diesem Zusammenhang häufig von »Exotismus« und »Orientalismus«. Andere sagen, es gäbe für türkische KünstlerInnen bereits akzeptable Programme. Das Problem der Repräsentanz wurde erst kürzlich in der »Focus Istanbul-Krise« deutlich. Die von Christopher Tannert kuratierte Ausstellung »Urbane Realitäten: Fokus Istanbul« fand von Juli bis Oktober 2005 im Martin-Gropius-Bau in Berlin statt. Einige türkische KünstlerInnen und KuratorInnen protestierten jedoch gegen die Veranstaltung und zogen ihre Mitwirkung zurück. In einem offenen Brief nannten sie einige Gründe für ihre Nichtteilnahme. Hinter dem Unmut steht vor allem eine »allgemeine Ermüdung über Ausstellungen, die auf der nationalen Herkunft von KünstlerInnen basieren«3.

Die Biennalen in Istanbul hatten zumeist eine pädagogische Funktion. Da sich die zeitgenössische Kunst fernab von Istanbul bewegte, waren Biennalen große »Vorlesungen« für die junge Generation, vor allem die Biennale unter dem Kurator René Block im Jahre 1995. Es herrschte eine Atmosphäre des Aufholen-Wollens, ähnlich wie beim postsowjetischen Run auf Kunst, nach dem Motto »schneller als die Geschichte«. Mit dieser pädagogischen Funktion ist jedoch jetzt Schluss. Es gibt einen neuen Trend zu Firmenmuseen (so eröffnete beispielsweise das Istanbul Modern während der 9B die Ausstellung »Centre of Gravity«, kuratiert von Rosa Martinez, das Sakip Sabanc?-Museum richtete direkt im Anschluss eine Picasso-Ausstellung aus, und das Pera-Museum eröffnete ironischerweise eine Ausstellung von Jean Dubuffet4). Die Botschaft der Ausstellung im Istanbul Modern lautete: »Wenn Sie nach hohen Maßstäben (oder Stars) suchen oder sich einfach informieren möchten, was angesagt, wirklich zeitgenössisch und gut ist und wer in der ersten Liga spielt«, da haben wir es wieder, »dann müssen Sie nicht zu einer Biennale gehen, sondern kommen Sie einfach ins Istanbul Modern.« Es scheint, als würde und wird die Istanbul Biennale das Bedürfnis an »Erziehung und Bildung« nicht mehr decken.

Das beste Resultat der Biennalen ist die Energie, die sie außerhalb erzeugen, die Rivalität, die Anreize und die Ermutigung, etwas zu tun (meist dagegen). Es wäre also zu einfach, Biennalen als reine »Festivalitis« zu betrachten – denn auch innen gibt es viele Kräfte, die kämpfen. Perspektiven und Motivationen von KünstlerInnen, KuratorInnen, OrganisatorInnen und SponsorInnen und auch Beiträge des Publikums (die umso effektiver sind, je mehr Raum Arbeiten für Einbeziehung des Publikums erhalten). Die von diesen Großereignissen erzeugten Wellen können sehr wirksam sein.

Alternativen von unten
Die 9B war anders, denn diese Biennale hatte größere Auswirkungen auf die gesamte Stadt und erweckte den Eindruck, als passiere in der ganzen Stadt etwas mit Kunst. (Die 9B fand tatsächlich in jener Gegend von Istanbul statt, in der der Großteil der Kunst angesiedelt ist, nämlich im Viertel Beyoglu-Taksim; es gab jedoch auch »externe« Kunstausstellungen auf den städtischen Fähren.) Die Idee einer mit der Stadt vermischten Biennale ist in vielerlei Hinsicht ansprechend. Sehr viel versprechend. Allerdings gibt es diesen »Flaneur-Fetischismus« der Kunstleute. Eingebildeten Kunstflaneuren gefällt vielleicht die Entdeckung in der Stadt verteilter Elixiere. (Wieder ist dabei nicht die ganze Stadt gemeint, sondern das Amüsierviertel und sein Umfeld.) Und mit dieser äußerlichen Entdeckung und der Schaffung von etwas, das entdeckt werden soll, wird dafür gesorgt, dass das eigentliche Gedächtnis der Stadt ausgelöscht wird. Aber auch der Körper erinnert sich, und das Gedächtnis des Körpers kann nicht auf Konsens beruhen, es kann keine kollektive Amnesie hervorrufen. Der Körper hat eigene Sehnsüchte, wie auch der Körper der Stadt5, und diese lassen sich nicht mit einem Rahmenereignis wie der Biennale abdecken. Auch wenn die Kuratoren der 9B es in gewisser Hinsicht zu umgehen versucht haben, ist dies in einem solchen Rahmen offensichtlich nicht möglich. Um an die Energie heranzukommen, die von den Zellen der Stadt ausgeht, brauchen wir eine alternative Kunstszene von unten.

Jede erfolgreiche Biennale hat auch einen Selbstzweck. Wir entfernen uns sehr weit von echten Antagonismen und Konfrontationen mit der Wahrheit und gewöhnen uns stattdessen an Werbeaktionen und Nebeneinanderstellungen wie im Warenregal; wir verlieren angesichts einer wachsenden Zahl von privaten Museen und rivalisierenden großen Ausstellungen den Blick auf die Schaffung von etwas, das das Verlangen unserer Körper, der Körper unserer Städte oder der Körper kultureller Existenz mit einbezieht. In gewisser Hinsicht kommt mir dabei trotz des Erfolgs dieser Biennale der Gedanke an einen Pyrrhus-Sieg. »Noch eine so erfolgreiche Biennale, und es ist aus mit uns.«

Es besteht eine gewisse Notwendigkeit, sich an die Sehnsüchte des Körpers zu erinnern, sich die Arbeiten der nicht professionalisierten Kunst ins Gedächtnis zu rufen und auf dieser Ebene zu arbeiten. In der türkischen Kunstszene gibt es so viel »Erfolg« – meist dominiert von Großereignissen. In der Literatur ist es ähnlich. Derzeit gibt es in der Belletristik einen Boom an Neuveröffentlichungen – zu viele erfolgsorientierte Vermarktungskampagnen, aber keine wirklich unabhängige Literaturlandschaft, um das zu diskutieren, was gemacht wird. Der Markt beruht auf Geschwindigkeit, nicht auf Körperdenken.

Das Radikalste, was viele KünstlerInnen heutzutage tun könnten, wäre vielleicht, für einige Zeit in der Versenkung zu verschwinden. Als »Amateur« zu arbeiten, den Entstehungsprozess bzw. ein neues Werden wahrzunehmen. Initiativen, die mit Absicht »erfolglos« sind, werden immer wichtiger. Die vielen parallelen Erfolge bilden in ihrer Gesamtheit eine »Erfolgsgeschichte«, in der es keine wirklichen Überraschungen und keine Sehnsucht mehr gibt, keine Ermächtigung, sondern lediglich eine vergessliche und harmlose Kunst. Ich gehöre zu denen, die glauben, dass Kunst nicht lange harmlos bleiben kann.

Es kommt mir so vor, als befänden wir uns in Hannos
Klassenzimmer. Es fällt uns leicht, Kunst zu hassen, die nicht erfolgreich ist. Und wir haben kein Problem damit zu manipulieren, um es Doktor Mandelsack recht zu machen. Wir sind uns dessen zwar bewusst, und doch können wir nicht anders als weiter daran zu glauben. Wenn kollektive Amnesie in dieser Situation denkbar erscheint, so ist es kein posttraumatischer Zustand; es ist Konsenskultur bzw. Kultur schlechthin. Ein Projekt, auf das wir hinarbeiten.
In Christopher Nolans Film »Memento« (2000) sieht man, wie der unter dem Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses leidende Leonard Shelby rennt und sich dabei die Frage stellt: »Okay, was mache ich hier?« Er sieht einen anderen Mann (Dodd), der ebenfalls rennt, und sagt sich: »Ich verfolge diesen Mann.« Aber Dodd hat eine Waffe, und er schießt auf Leonard. Darauf sagt Leonard: »Nein. Er verfolgt mich.«

Sich nach dem Aufwachen erinnern. Sich an den Traum erinnern. Wie Benjamin so schön in seiner »Einbahnstraße« bemerkt, befindet man sich, solange man nach dem Aufwachen nicht isst, noch immer im Reich der Träume. Und man sollte den Traum nicht erzählen, bevor man etwas isst, denn sonst erzählt man ihn, während man sich noch teilweise im Traum befindet.6

Diese Schwelle der Nahrungsaufnahme, der Fütterung des Körpers, wäre äußerst kritisch, wenn wir die Traummetapher negativ betrachten, als den Traum, an den zu glauben wir uns selbst manipuliert haben. Es lässt sich aber auch umgekehrt denken. Man befindet sich im Traum kreativer, multipler Wahrheiten, und dann »isst« man etwas. Und man findet sich im Reich der Konsenskultur wieder und erzählt den Traum mit den Worten dieser kollektiven Amnesie. Man vergisst kollektiv einen Traum, indem man ihn erzählt …

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

1 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main 2005,
S. 694 ff. Der erste Absatz im elften Kapitel ist in dieser Hinsicht interessant. Mann erzählt, wie wir uns manchmal an Personen erinnern, an sie denken und feststellen, dass wir sie eine Weile nicht gesehen haben. Dann hören wir, dass sie bereits tot sind. Dann zählt Mann einige Verstorbene auf, jeden in einem separaten Absatz; bemerkenswerter ist jedoch, dass auch die »Idee der Familie« tot ist und auf den folgenden Seiten nicht mehr lebendig wird.

2 Kortun betont außerdem, dass sie dem Wettbewerbsauftrag zugleich nachkommen und ihm mit der eigentlichen Ausstellung Widerstand leisten. Das könnte heißen, dass sie ihm durch Widerstand von innen nachkommen wie auch durch die Einbeziehung sich widersetzender Elemente. (So verfügte zum Beispiel die »Hospitality Zone« der 9B über die meisten politisch ausgerichteten Arbeiten und Diskussionen. Das Magazin »Express-Roll«, die von Halil Altindere kuratierte Ausstellung »Free Kick« und die Gruppe Hafriyatcilar waren dort vertreten.) Die Frage ist jedoch, wenn
die Notwendigkeit eines solchen Widerstandes akzeptiert ist, warum gilt die Form der Biennale dann weiterhin als gültig? Und warum »von innen« Widerstand leisten?

3 Der vollständige Text des offenen Briefes ist im Ausstellungskatalog abgedruckt. Folgende KünstlerInnen haben sich gegen eine Teilnahme entschieden: Can Altay,
Hüseyin Alptekin, Halil Altindere, Memed Erdener, Gülsün Karamustafa, Ahmet Ögüt, Neriman Polat, Canan Senol, Hale Tenger und Vahit Tuna. Außerdem haben Erden Kosova, Vasif Kortun und Fulya Erdemci ihre Katalogtexte zurückgerufen.

4 Ich denke, es ist wichtig zu sehen, dass Jean Dubuffet nicht verstanden wird, dass seine Definition von Kultur und seine harten Worte zu dieser Art von Museen, die von »Herren« eingerichtet werden, keine Berücksichtigung finden; stattdessen werden seine Kunstwerke wie jede andere »große Sache« präsentiert – als ginge es darum, ein Beispiel dafür zu liefern, wie der Kulturkonsens funktioniert.

5 Der türkische Dichter Fazil Hüsnü Daglarca schreibt in seinem modernen Klassiker türkischer Poesie »Çocuk ve Allah« (Kind und Allah): »Das Gedächtnis meines
Körpers erinnert / die kleinen Kleider wie Traum, Erzählung und Schlaf« (Hatirliyorum vucudumun hafizasinda / Ruya, masal, uyku kadar o kucuk elbiseleri). Auch diese
Zeilen kamen mir ins Gedächtnis, als ich an das »Gedächtnis des Körpers der Stadt« dachte.

6 Walter Benjamin: Einbahnstraße. Frankfurt am Main 1972.