Heft 1/2006 - Lektüre



Klub Zwei:

Things. Places. Years.

Das Wissen Jüdischer Frauen

Innsbruck, Wien, Bozen (StudienVerlag) 2005 , S. 74

Text: Doro Wiese


»Things. Places. Years. Das Wissen Jüdischer Frauen« verdankt seinen Titel einem Proust-Zitat. Dort erwacht ein Ich-Erzähler, versucht sich vergeblich in der Gegenwart zu verorten, während vor seinem inneren Auge unwillkürlich »Dinge, Orte, Jahre« erscheinen: »Jedes Mal, wenn ich beim Erwachen angestrengt und erfolglos darüber nachdachte, wo ich eigentlich war, tauchte in der Dunkelheit alles vor mir auf«. Der Textauszug stellt somit nach, wie jemand sich erinnert; er legt nahe, dass ein anfängliches Unbehaustsein im Erinnern aufgehoben werden kann. Für Proust birgt dieser Vorgang die
Gefahr, dass Dinge fixiert, als Immergleiche wahrgenommen werden. »Vielleicht entsteht die Unbeweglichkeit der Dinge, die uns umgeben,
nur aus der festen Vorstellung, dass sie so und nicht anders sind.« Gegen diese Stilllegung einer vergegenwärtigten Vergangenheit tritt »Things. Places. Years« an.
Freilich mit ungleichen Mitteln, sind doch die Dinge, Orte, Jahre, von denen die interviewten jüdischen Frauen berichten, bisweilen nicht nur unwiderbringlich vorbei, sondern auch mit dem Trauma der nationalsozialistischen Vernichtung belegt. »Wir lebten die ganze Zeit mit Fotoalben« berichtet beispielsweise Nitza Spiro, deren Familie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg aus Galizien nach Israel ausgewandert ist. »Durch diese Alben erfuhren wir von unseren Familienangehörigen, erfuhren insbesondere durch die Tränen meiner Mutter, dass sie umgekommen waren.« Hier erlebt die Tochter jüdischer Überlebender die ProtagonistInnen der Familiengeschichte nicht leibhaftig, sondern als fotografische Repräsentation und schmerzerfüllte Abwesenheit. Andere Frauen erzählen von
der Sprachlosigkeit, dem Schweigen-Müssen ihrer Eltern. So schildert Ruth Sands, ihre Mutter habe nie über ihre Zeit in Wien gesprochen. »Sie ging aus Wien weg, als sie dreiunddreißig war, und es war, als hätte ihr Leben erst mit dreiunddreißig begonnen.« Die Weigerung der Mutter, ihre Tochter an persönlicher Geschichte teilhaben zu lassen, hinterlässt eine Leerstelle, die vielfältige Deutungen, aber keine Gewissheit erlaubt. Es ist dieser Entzug der Vergangenheit, dem die interviewten Frauen ausgesetzt sind, dem sie jedoch handlungsmächtig begegnen. Denn die jüdischen Überlebenden der ersten und zweiten Generation, die in »Things. Places. Years« zu Wort kommen, haben es sich zur Aufgabe gemacht, verbliebene Spuren der Vergangenheit zusammenzutragen und dem Schweigen-Müssen das Wort anzubieten. Sie begegnen, wie Nicola Lauré al-Samarai im Vorwort schreibt, »den komplexen Herausforderungen und Schwierigkeiten …, die mit dem Zusammentragen und dem historischen und kulturellen Beheimaten von Dingen, Orten, Jahren einhergehen.«
Indem sie Musikinstitute und Museen, Organisationen, Archive, Bildungseinrichtungen und Verlage gründeten, sorgen die Frauen für das Gegenwärtig-Bleiben von jüdischer(n) Geschichte(n) und Traditionen.
Diese Arbeit des »Beheimatens«, wie al-Samarai sie nennt, wird jedoch von Erfahrungen der Vertreibung, des Verlustes und des Exils begleitet, die in den Beschreibungen der Frauen allgegenwärtig sind. Orte, Sprache(n), Eigentum, Geschichte(n) bieten nur eine vorübergehende Bleibe an, sie werden nicht als selbstverständlich erfahren. »Aber ich bin in vielerlei Hinsicht zu einer Person ohne Geschichte geworden. Was eigentlich ganz interessant ist, und
ich habe mich auch daran gewöhnt«, kommentiert beispielsweise Ruth Rosenfelder das familiäre Schweigen in aller Nüchternheit. Unscheinbare Details lassen die Entwurzelung erahnen, die das Exil mit sich bringt, und zeugen gleichzeitig von der ungeheuren Kraft der Frauen, die Geschichte nicht nur zu (er)tragen, sondern auch voranschreiten zu lassen. »Ich mache aus jedem Ort,
an dem ich bin, das Beste. Ich möchte meinen Beitrag leisten zu dem Ort und der Zeit, in der ich lebe«, umschreibt Elly Miller ihre Lebenseinstellung. Es ist der sorgsamen herausgeberischen Arbeit von Klub Zwei zu verdanken, dass diese unentwegte und teilweise unscheinbare Arbeit ans Licht tritt und in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt wird, der dem Wunsch ihrer Interviewpartnerinnen entspricht: den Beitrag jüdischer Menschen zu dieser Welt zu zeigen. Die Genauigkeit der Fragestellungen, der überall spürbare Respekt und das Vertrauen in das Kleine, Unscheinbare, Alltägliche, das verbindende Wort anstelle der großen Geste lassen »Things. Places. Years« zu einem Ereignis werden, das auch die Lesenden einbezieht und dazu ermutigt, der eigenen Familiengeschichte nachzugehen, auch in den Ländern der TäterInnen wie Deutschland oder Österreich, und so zur Entfaltung der Geschichte(n) beizutragen.
Nitza Spiro beschreibt an einer Stelle im Buch, dass es im biblischen Hebräisch keine Gegenwart gebe. »Es gibt nur Vergangenheit und Zukunft, und das will uns auf etwas aufmerksam machen: Das menschliche Dasein in der Gegenwart ist ein Dasein zwischen Gegenwart und Zukunft … Dann verstehst du, dass du die Aufgabe hast, dieses Zwischenstück in der Kette zu sein, damit die Kette nicht reißt.« Die interviewten Frauen sind Kettenglieder zwischen Vergangenheit und Zukunft, und doch bewegen sie sich fortwährend in Differenz zu sich und anderen, so dass vielleicht, letztendlich, die Dinge niemals gleich, sondern immer verschieden sind, eingebunden in eine lebendige Erinnerung, die sich im Dialog mit den Spuren der Vergangenheit und der Antizipation der Zukunft befindet.