Heft 1/2006 - Netzteil
Mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, Informationen tief greifend zu verändern, können digitale Medien jede Form von kultureller Produktion beeinflussen. Die subtilen Abweichungen, derer sich eine Medienstrategie bedienen kann, können durch das Spektakel einer neuen Erzählung, das den Massen durch eine Reihe von Spezialeffekten näher gebracht wird, zu einem Verlust der historischen Erinnerung führen. Besonders ist das im Unterhaltungsbereich der Fall, der verantwortlich scheint für viele Geschichtsumschreibungen, die viel bereitwilliger als die dokumentierten Originalversionen akzeptiert werden. Noch deutlicher wird das im Bereich der Videospiele, und zwar durch den Grad der Einbeziehung, den die SpielerInnen erfahren, bzw. durch ihr Eintauchen in die programmierte Interaktion. Die Ego-Perspektive (popularisiert durch offene Engines wie die extensiv genutzten von »Unreal« oder »Quake«) erlaubt in einem auf »wissenschaftlichen« Prämissen bauenden Simulationsprozess eine verführerische, prätentiöse Rekonstruktion berühmter Ereignisse. Spielt man diese nach und verändert dabei einzelne Variablen, so verflüchtigt sich auch die Wahrheit dessen, was tatsächlich passiert ist. Die Quantität und Qualität der Details, die in diesen Spielen zu finden sind, werten das Spiel-Erleben auf und emotionalisieren es, was, besonders bei der jüngeren Generation, dazu führt, sich für die ansprechendste Version der Geschichte zu entscheiden.
In »JFK Reloaded«1 etwa hat man die Gelegenheit, das Kennedy-Attentat so originalgetreu wie möglich zu »simulieren«. Als Lee Harvey Oswald findet man sich nicht einfach in einem Abschieß-Spiel wieder, sondern in der »Simulation« eines dramatischen historischen Ereignisses, das zur Gänze auf dem berühmten Warren-Report basiert. Aber eine willkürliche, nicht öffentlich verifizierbare Simulation ist ohne jeden Wert und ihre angepriesene algorithmische Genauigkeit bloßer Hype. Obwohl es eine große Welle der Empörung auslöste, war das Spiel sehr populär – die Medienstrategie war absolut wirksam und überzeugte die SpielerInnen davon, wie toll sich mit einer vergangenen »Realität« spielen ließ.
Gegenstrategien zu dieser spektakulären Geschichtswiedergabe sind von einigen KünstlerInnen entwickelt worden. Einer der klügsten unter ihnen im Umfeld der Videospiel-Szene ist der Italiener Paolo Molleindustria (»Molleindustria« heißt wörtlich übersetzt soviel wie »lockere Industrie«).2 Gemeinsam mit einigen anderen entwickelt er Flash-Games, die ein unterhaltsames Spiel in kritisch-gegenwärtiger Umgebung bieten. Sein »(h)a(c)ktivistischer« Ansatz, der sich in unwiderstehlicher Comics-Ästhetik präsentiert, umfasst Themen wie Arbeitsplatzunsicherheit, die Propaganda der katholischen Kirche, die Repräsentation sexueller Identitäten, die virtuelle Repräsentation von Protestbewegungen und das Spektakel des Terrors. Eine seiner wertvollsten Arbeiten ist zweifellos »Memory Reloaded«3, eine historisch inspirierte, manipulierte Version des klassischen »Memory / Finde zwei Gleiche«-Spiels. Die SpielerInnen müssen die passenden Paare berühmter Persönlichkeiten oder Ereignisse der jüngeren Geschichte finden, während die Karten im Laufe des Spiels langsam ihren Inhalt ändern bzw. sich ins Gegenteil verkehren. Aus Mussolini etwa wird ein geachteter Staatsmann oder aus einem Konzentrationslager ein Lager voller Sonnenblumen. Je mehr Zeit verstreicht, desto größer die Veränderung. Das Spiel endet mit einer Zusammenfassung der nun anders verlaufenen Geschichte. Die typischen Resultate sind Angst einflößend, weil sie frappierend an Trends in den Massenmedien bzw. an Propaganda erinnern und die SpielerInnen dem Manipulationsprozess ähnlich ohnmächtig gegenüberstehen. Glaubt man Molleindustria, »liegt die Chance der großen Videospiele in der extrem dynamischen Darstellung. In ›Memory Reloaded‹ waren wir nicht nur daran interessiert, den tatsächlichen Kampf um die Werte-Definition unseres gegenwärtigen Zeitalters zu betonen, indem man zwei konträre Visionen der Vergangenheit kontrastiert, sondern auch an einer Demonstration, was für eine extrem flexible Erzählung die Geschichte ist – abhängig vom jeweils gegenwärtigen Machtverhältnis, das seinen Ausdruck im Konflikt SpielerInnen gegen Algorithmus findet.«
Seit dreißig Jahren schrumpft unter dem Druck der Medienindustrie jene Zeit, die HistorikerInnen gegönnt ist, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Die gegenwärtig obligatorische Aktualisierung in Echtzeit ist ein Prozess, der wenig Zeit für Reflexion und Forschung lässt, und andererseits zu einer viel schnelleren Entscheidung darüber drängt, was von Wert ist und was nicht. Die akademischen Zirkel sind, wie viele andere kulturelle Felder auch, darum bemüht, ihre Methodologien zu kultivieren, ohne jedoch eine breitere Aneignung voranzutreiben, wohingegen die Unterhaltungsindustrie schnell ihre eigenen Versionen ohne jegliche Kontrolle produziert. In »Memory Reloaded« geht es darum, eine Hintergrundgeschichte der Menschheit zu schreiben, Kämpfe und Veränderungen in dieser langen Geschichte gegenübertreten zu lassen, um letztlich so und auf gewisse Weise um politische Werte zu werben. Wie Molleindustria sagt, ist »diese Dynamik auch funktionell für die Beschreibung mehrdeutiger und veränderlicher Prozesse, die die Basis neuer Formen der Arbeit bilden. Wir sind der Überzeugung, dass die Krise der Arbeiterbewegung parallel zur Krise der Darstellung der ArbeiterInnen verläuft: Die alte Popikone des Blaumanns kann nicht die Bilderwelt der neuen prekären Massen stimulieren, weil sie auf (stereotypen) Charakterisierungen basiert sowie auf starren Identitäten und Gegensätzen. Wütende und schmutzige ArbeiterInnen gegen fette und schmierige Angestellte. Die grundlegende ›Variabilität‹ der Videospiele (in der Manovich’schen-Bedeutung) kann uns dabei helfen, eine neue Mythologie des flexiblen Arbeiters zu schaffen, der gezwungen ist, Anzüge in mehreren Farben zu tragen und mehrere Arbeitgeber zu haben.«
Molleindustria ist einer der klarsichtigsten Kritiker der neuen Trends und Verzerrungen in den geschichtsbezogenen Videospielen. Das oben erwähnte »JFK Reloaded« kommentierend meint er: »Da die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Voraussetzungen nicht gestellt wird, liegt das Problem in der umfassenden Vermitteltheit die interaktive Dokumentation betreffend. Der entscheidende Wechsel vom Original hin zum Modell wird nur als qualitative (mehr oder weniger realitätsgetreue) Aufgabe betrachtet. Um die KundInnen von der implementierten Präzision zu überzeugen, führen die ProduzentInnen die Einbindung von ExpertInnen an, ballistische BeraterInnen, und die notorischen ›vielen Monate harter Arbeit‹. Dies ist die wesentliche Gefahr von Simulationen mit einem realen Bezug: Die grundlegende Tatsache, dass der Modellierungsprozess eine fragwürdige und willkürliche Evaluation impliziert, gerät dabei in Vergessenheit. Das Ergebnis wird in eine Black Box verpackt, die ein Input mit einem Output verbindet, ohne dass dabei jene Mechanismen erklärt werden, die den UserInnen verborgen bleiben. Die SpielerInnen können irgendetwas machen und ihre Schlüsse ziehen, ohne dass ein Michael Moore ihnen sagt, was davon eigentlich zu halten ist. In Wahrheit sind sie aber weiter als je zuvor von den Originaldokumenten entfernt.«
Molleindustria verweist auch auf ein anderes Underground-Spiel, »Soviet-Unterzögersdorf«4, entwickelt von der österreichischen Gruppe Monochrom. Unterzögersdorf ist dort die letzte existierende Teilrepublik der UdSSR, die getreu der sozialistischen Prinzipien regiert wird, und die Hauptfigur Vladislav ist der Parteisekretär der lokalen kommunistischen Partei, der gegen die westliche Kulturinvasion und gegen die Nahrungsmittelknappheit kämpft. Wie Molleindustria anmerkt, »liegt eine andere, im Moment nicht besonders modische Möglichkeit von Videospielen darin, eine ironische Version der Vergangenheit vorzuschlagen. Sie ließen sich historische Systeme durch Simulation wiederherstellen. Die Simulation lässt vergangene Fakten, die schnell von der Furie des massenmedialen Informierens gelöscht wurden, wieder ans Licht kommen.« Letztlich könnten so geschichtliche Videospiele sogar einen Vorzug unserer gemeinsamen Bilderwelt darstellen (und nicht immer nur Bugs).
Übersetzt von Brandon Walder
1 http://jfkreloaded.com
2 http://www.molleindustria.it/home-eng.php
3 http://www.molleindustria.it/clic.php3?url=www.molleindustria.it/
games/memory.swf
4 http://www.monochrom.at/suz-game