Heft 2/2006 - Lektüre
US-Präsident Truman hielt 1949 eine Rede, in der er die westlichen Industrieländer dazu anhielt, die peripheren Staaten des Südens in das kapitalistische Weltsystem zu integrieren. Der eigene Reichtum sollte nicht gefährdet und die Armen sollten nicht dem Kommunismus preisgegeben werden. Damit war geboren, was man wenig später Entwicklungspolitik nannte. Um das Wohl der
Bevölkerung der armen Länder ging es von Anfang an kaum, und schon gar nicht um das der dort Marginalisierten. Erst nach dem Scheitern aller Konzepte der »nachholenden« Entwicklung und dem mittlerweile zehnjährigen Boom der »Nachhaltigkeit« werden nun auch diese gefragt. Wenn auch nicht von Ministerien, so doch immerhin von transnationalen Forschungsteams. Konzepte von Autonomie, die aus den Kontexten indigener Gemeinschaften heraus entwickelt worden sind, werden spätestens seit dem zapatistischen Aufstand von 1994 auch international breit diskutiert. Ein groß angelegtes Forschungsprojekt präsentiert Autonomie nun als ein selbstbestimmtes Gegenmodell zu den neokolonialen und neoliberalen Entwicklungsmodellen. Angesichts der nach wie vor eigennützigen Ausrichtung so genannter entwicklungspolitischer Zusammenarbeit ist allein der Ansatz des Projektes schon höchst lobenswert. Die aus den Befragungen in verschiedenen indigenen Bevölkerungsgruppen aus ganz Lateinamerika entwickelten, demokratietheoretischen Forderungen machen zudem den Reiz des Buches aus.
Dies auch noch aus einem anderen Grund: Von der Arbeiterautonomie (Operaismus) der italienischen 1970er Jahre über die 1980er-Bewegung der Autonomen bis zur indigenen Selbstverwaltung hat der Begriff der Autonomie auch innerhalb der Linken eine wechselvolle Geschichte. Dass nun ausgerechnet indigen geprägte Lebens- und Politikvorstellungen auf so viel positiven Widerhall stoßen, ist keineswegs selbstverständlich. Denn niemand anders als Friedrich Engels war es, der die Indigenen als rückschrittliche »Völkerabfälle« bezeichnet hatte. Und die marxistische Linke hielt sich lange an dieses Diktum.
Das Buch versammelt die Ergebnisse von Befragungen Indigener in Rio Negro (Brasilien), der Chapare (Bolivien), von Kichwa-Gemeinden in Ecuador, im Landkreis Kuna Yala (Panama), an der Atlantikküste Nicaraguas sowie in den südlichen mexikanischen Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas. In allen Regionen wurden entlang dreier Achsen – der politisch-rechtlichen Autonomie, der Kultur und Interkulturalität sowie der ökologisch-ökonomischen Entwicklung – Daten gesammelt und ausgewertet. Zusammengefasst werden die Ergebnisse in zehn Hypothesen für eine neue Form der multikulturellen Demokratie.
Methodisch orientiert sich die Forschung stark an der Systemtheorie (»System = autonomes Subjekt«). Ob damit die politisch wichtigen Fragen jenseits des entwicklungspolitischen Rahmens beantwortet werden können, muss fraglich bleiben. Eine Differenzierung zwischen begrüßenswerten und abzulehnenden Umwelteinflüssen auf das »System« jedenfalls wird in
dem Band anders als proklamatorisch kaum geleistet. Die Angriffe auf die traditionellen Geschlechterverhältnisse sind sicherlich anders zu werten als die auf gemeinschaftliche Entscheidungsstrukturen. Der Blick auf individuelle Praktiken wird aber durch ein Verständnis von Kultur blockiert, das diese nur als »kollektive(n) Wissensvorrat einer Gruppe oder einer Gesellschaft« begreift. Die mehr als vier Jahrzehnte Cultural Studies, in denen Praktiken als konstitutiv für Kultur diskutiert wurden, werden hier schlicht ausgeblendet. Zudem können die Ambivalenzen der Autonomie selbst kaum angemessen angegangen werden: Dazu gehören einerseits solche Indienstnahmen des Begriffes, bei denen sich reiche Regionen oder Milieus des armen Rests entledigen wollen (wie in Santa Cruz/Bolivien oder auch auf dem Balkan). Und andererseits ist Autonomie auch im neoliberalen Diskurs zu einer wichtigen Vokabel avanciert (als Eigenverantwortung oder Self-Management).
Die Fülle von Daten, Grafiken und Schaubildern macht aber auf weithin ignorierte Prozesse aufmerksam, ohne die alternative Entwicklung heute nicht mehr gedacht werden kann. Damit leistet der Band einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um Nachhaltigkeit und Demokratie jenseits ökonomischen Fortschrittsglaubens. Dass diese Diskussion auch nach bzw. trotz der Schließung des am Latautonomy-Projekts beteiligten österreichischen Boltzmann Instituts für zeitgenössische Lateinamerikaforschung geführt wird,
dazu fordert das Buch in jedem Fall heraus.