Talinn. Am letzten Wochenende der Ausstellung »Capital (It Fails Us Now)« in der Kunstihoone wurde das vom finnischen Architekten Pekka Vapaavuori entworfene neue Kunstmuseum Kumu eröffnet. Höchste Politehren auf estnischer und finnischer Seite begleiteten diesen symbolischen Kraftakt der jungen Nation. Der Bau eines Nationalmuseums für Kunst war schon in der ersten Phase der Staatsgründung um 1920 beschlossen worden und harrte seitdem der Realisierung. Nun konnte man den Bau mit Hilfe zusätzlicher Unterstützung aus Lottogeldern und Kasinoschecks realisieren.
Die Bilder im Kumu spiegeln die wechselvolle Geschichte der Fremdherrschaften Estlands – von Porträts baltendeutscher Adeliger bis zu den monumentalistischen Stalinbildern (die nach der Unabhängigkeit Estlands erstmals gezeigt werden). Estland setzte in den neunziger Jahren auf einen schmalen Staat und öffnete dem Neoliberalismus Tür und Tor. Der Strukturwandel ist auch an der jüngsten Veränderung der Silhouette von der im Mittelalter geprägten Hansestadt Talinn (Reval) ablesbar – durchsetzt von hochragenden Glas- und Stahlbauten des internationalen Investorenkapitals, welche die prägnanten lokalen Holz- und Kalksteinhäuser verdrängen.
In diese Umgebung setzte Kurator Simon Sheik die Ausstellung »Capital (It Fails Us Now)«, produziert vom NIFCA, das über längere Zeit kritisches Kuratieren unterstützt hatte. Der Titel der Schau ist dem gleichnamigen Song der Gruppe Gang of Four entlehnt. Sheik unternimmt mit den vorgestellten Arbeiten den Versuch zu zeigen, wie Kapitalismus in das alltägliche Leben eingreift und stellt dankenswerterweise Arbeiten vor, die Gegenstrategien und Widerstandspotenziale entwickelten: Kollektive und subjektive Alternativen zum und Darstellungen des globalen Kapitalismus, Arbeiten zum Sozialabbau in Europa und der massiven Deregulation in den postkommunistischen Ländern. Der Kurator begibt sich auf die Suche nach überzeugenden Modellen der Visualisierung und stellt sich dabei die Frage, ob es in Anlehnung an Michel Foucaults »non fascistic life« ein »non capitalistic subject « geben kann.
»What is to be done«, das berühmte Zitat von Lenin (nach Tschernischewsky) kann als ein Themenstrang der Ausstellung gesehen werden und ist sogar in zwei Arbeiten explizit als Titel vorhanden (und kommt im übertragenen Sinne in manch anderen, wie bei Oliver Ressler oder Fia-Stina Sandlund vor). Susan Kelly und Stephen Morton initiierten das Projekt »What is to be done« als reisendes Archiv. Die Installation ist Elementen von Alexandr Rodtschenkos Leseraum für Arbeiter von 1925 nachempfunden – der den Leseraum als Refugium nach der Müh und Plage der Erwerbsarbeit zur Schulung des Intellekts einrichtete – und enthält eine Serie von Kurzstatements und Fragen zu Inhalten über Beschäftigung und immaterielle Arbeit. »What is to be done« ist als partizipatives Projekt von den BesucherInnen auf das Heute anzuwenden. Wie kann ein Dialog entfacht werden, der im günstigsten Fall eine ökonomische und politische Wende herbeiführen kann?
Das »Lob der Dialektik« von Brecht ist eine wichtige Quelle der Arbeit von »Platform Chto delat?«, einer KünstlerInnen- und AktivistInnengruppe aus St. Petersburg. Tsaplya, Olga Egorova, Nikolay Oleynikov, und Dmitry Vilensky verwenden in der überzeugenden Performance »Angry Sandwich People« mit den Aktivisten der Gruppe »Worker´s Democracy« und »The Pyotr Alexeev Resistence Movement« Zitate daraus. Eine Gratiszeitung mit dem Titel »Why Brecht?« intensivierte das Projekt (http://www.chtodelat.org).
Auf eine alternative Ökonomie setzt die Installation »The Hidden Flow Shop« von Andrea Creutz, die auf dem zentralen Begriff des »ökologischen Rucksacks«, »öR«, basiert, ausgewertet vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie. Die Künstlerin bietet verschiedene Waren zum Tausch an, der auf der alternativen Währung des «öR« basiert.
Dekoration im kritischen Modus der Reflexivität zeigen die Arbeiten der Gruppe um Stephan Geene, die sich mit der Repräsentation des Tierreichs und der Fabelwesen im transnationalen Marktsystem beschäftigt: Logos von Global Player wie Puma, der Generali-Löwe, oder lokalere Zusammenhänge wie ein Meissen-Äffchen mit einer Rokokoperücke, der Adler als Wappentier, Pelz, Masken ...
Neben dem Impuls der Theorievermittlung setzt Ashley Hunt in einem riesigen dekorativen Tableau in farbigem Pastell auf die Macht der Verführung. In »A World Map« stellt er die Krise des Kapitalismus nicht als geografisches sondern als soziale, kulturelle und politische Phänomene vor und stellt deren Beziehungsgeflechte dar. Katya Sanders Video »What is Capitalism?« inszeniert eine Befragung zum gleichnamigen Thema im Niemandsland mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Witzig und ironisch verfährt Michael Blum in seinem Video »Wandering Marxwards«, der Inszenierung von Selbstdarstellungen bei der Lektüre des »Capital« von Karl Marx. »The Factory of Escape«, der Copenhagen Free University ist gleichsam als ein Motto der Ausstellung strategisch platziert, nämlich am Treppenaufgang und bedeutet gleichzeitig den Beginn und das Ende der Ausstellung und eine Handlungsoption. Die Identifikation mit den ästhetischen Strömungen der Moderne gehörte in den zwanziger Jahren zum nationalen Symbolinventar des kurz unabhängigen Estland. Sie hat jetzt ihr Museum. Der Neoliberalismus, den die Schau kritisiert, ist heute eine Gründungsfigur des neuen jungen Estland.