Heft 3/2006 - Working Poor
In London haben die letzten Jahrzehnte eine wachsende Zahl an Galerien sowie deren Einbindung in die Unterhaltungsindustrie mit Ereignissen wie dem Turner Prize oder der Frieze Art Fair gebracht. In der Verbindung dieser Entwicklung mit Luc Boltanskis und Eve Chiapellos Buch »Der neue Geist des Kapitalismus«, das gerade erstmals auf Englisch erschienen ist1, widmet sich die alljährliche Konferenz der Londoner Showroom Gallery der Position von Kunst auf dem Markt und im Staat. »Der neue Geist des Kapitalismus« wird hier als Werkzeug gesehen, um die Bewegung vom Marktgedanken der Thatcher-Zeit zur Instrumentalisierung von Kultur durch New Labour und der dabei konstatierten »Krise« der Kunst zu analysieren. Diese Krise wird in einer Art Selbstzensur von ProduzentInnen diagnostiziert, um öffentliche Förderungen zu erlangen bzw. zu behalten, sowie von öffentlichen und privaten Einrichtungen wie eben »Frieze«, wo öffentliche Gelder nahtlos in eindeutig kommerzielle Unterfangen einfließen. Die Idee der Krise selbst ist jedoch auch Resultat des Mangels eines neuen Diskurses, der diese Entwicklungen in der Kulturproduktion beleuchten könnte.
Die Grundzüge von Boltanskis und Chiapellos soziologischer Analyse der Arbeitsbedingungen in Frankreich am Ende der neunziger Jahre werden so auf die Londoner Kunstszene 2006 übertragen. In der Folge wird das Konzept der künstlerischen Kritik, das im Wesentlichen dem Ideal von Authentizität und Autonomie der KünstlerInnen des neunzehnten Jahrhunderts entspricht, mit der Kritik des Kapitalismus in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis gleichgesetzt. Künstlerische Kritik als Forderung nach Individualität und Kreativität, erfüllt sich scheinbar im Konsum in der »Erlebniswirtschaft«, der zur »Transformationswirtschaft« hinführt. Darin manifestiert sich das Produkt als Veränderung in den KonsumentInnen, die dabei zu TeilnehmerInnen werden. Konsumkultur und künstlerische Kritik teilen das Ideal der einzigartigen Erfahrung; das Streben nach Veränderung ist eine integrale Forderung kritischer Kunst ebenso wie eine Grundlage der Transformationswirtschaft, so Suhail Malik vom Goldsmiths College. Und das Konzept des Konsums, auch des Kunstkonsums, bezieht sich unmittelbar auf die staatlichen Definitionen von Kunst als Werkzeug in der Sozialpolitik.
Ziel staatlicher Kulturpolitik ist nämlich die Verbesserung der Lebensumstände der BürgerInnen durch Teilnahme an der Kultur.2 Mit der Studie »Culture Vultures«3 des konservativ angehauchten Think Tanks Policy Exchange reiht sich deren Herausgeberin Munira Mirza in die Kritik der Kulturpolitik von New Labour ein, die sich gegen die Instrumentalisierung von Kunst durch »social inclusion« und Besucherzahlen-motivierte Projekte wenden. In der Folge zeigt sie auf, dass die auf der Beweisführung durch Datenerhebung basierenden Bewertungen der Verbesserung verschiedener sozialer Missstände durch Kunst von politischen Interessen motiviert und methodisch fehlerhaft sind. Diese Art der Kritik neigt jedoch, wie Mirza einräumt, selbst dazu, eine reaktionäre Unterscheidung zwischen sozialen Thematiken und Kunst anzudeuten, und auf die Idee des autonomen Kunstwerks bzw. Kunst als formaler Untersuchung zurückzugreifen. Mirza selbst ist diesbezüglich keine Ausnahme, wenn sie eine Opposition von »Qualität und Kunstverständnis« und Sozialem formuliert.
Während Boltanski und Chiapello in Bezugnahme auf Prekaritätsdiskurse die Veränderungen des Kapitalismus in Bezug auf Arbeitsbedingungen beleuchten, meidet Mirzas Interpretation eine Analyse von Arbeit, um sich der des Konsums von kulturellen Ereignissen und Objekten zu widmen. Die Arbeit von KünstlerInnen und GaleristInnen wird im anekdotischen Beitrag von Paul Hedge, Mitgründer der Hales Galerie in London, auf den Punkt gebracht. Er beschreibt eine auf wirtschaftlicher Notwendigkeit beruhende pragmatische Haltung, in der effizientes Management, nicht Ideologien und Manifeste zählen. Genausowenig führt die Diskussion von »Der Neue Geist des Kapitalismus« zu einer Hinterfragung, wie sozial engagierte Kunst von New Labour tatsächlich instrumentalisiert wird und wodurch dieser Zustand sich reproduziert. Potenzielle Faktoren hierfür sind die relative Machtposition von KünstlerInnen, der Charakter des transformierenden Erlebnisses und der Fokus auf Selbstverbesserung, wie er von Malik und Mirza beschrieben wird, der letztlich eine Disziplinierungsmaßnahme darstellt. Hinzu kommt im Allgemeinen die Forderung, dass die KünstlerInnen als ForscherInnen eine objektive oder sogar neutrale Position innerhalb eines Projekts einnehmen und in der jeweiligen sozialen Thematik nicht Partei ergreifen sollen. Folglich haben sie auch nicht wirklich Anteil an den kollektiven, sozialen Positionen des Projektkontexts.
Die Analyse der Konstruktion von Wertsystemen und deren Veränderung in »Der neue Geist des Kapitalismus« kann jedoch helfen, die ideologischen Stützen der Kulturpolitik, die im auf – scheinbar objektiven – Datenerhebungen gegründeten Förderungssystem verschleiert werden, aufzuzeigen und eine umfassendere Kritik der Kulturpolitik zu ermöglichen. Wie auch von Boltanski und Chiapello als Ausgangspunkt ihrer Studie genannt, besteht ja kein Mangel an Anlässen der Kritik. Weder die Ziele von Autonomie und Authentizität noch die im neuen Geist an soziale Kritik gekoppelten Ansprüche von Gleichstellung und Solidarität sind – was sehr offensichtlich und banal ist – tatsächlich realisiert, man denke nur an die Maßnahmen gegen asoziales Verhalten oder Antiterrorbestimmungen.
Insgesamt zog die Konferenz interventionistische oder auch »aktivistische« Kunst jenseits der Institution gar nicht in Betracht, woraus sich aufschlussreiche Parallelen ergaben. In einem aktuellen Artikel im »Journal of Aesthetics and Protest«, einem Magazin, das sich auf diese Form von Kunst konzentriert, kritisiert der US-amerikanische Kurator und Autor Nato Thompson die Szene der aktivistischen Kunst.4 Diese sei häufig einer nur scheinbaren Kritik verhaftet, die sich auf Kulturkonsum bezieht, der sich vom »Mainstream« zu differenzieren und so die eigene Identität als kritisch, authentisch und autonom zu definieren sucht. Thompson betont die Notwendigkeit, materielle Bedingungen in und jenseits des identitären Konsums aufzuzeigen, und so Diskurse der Solidarität sowie kritische Forderungen zu ermöglichen.
Die Konferenz »Artist-culture and the spirit of capitalism« fand am 18. März 2006 in der Showroom Gallery London statt.
1 Deutsche Ausgabe: Luc Boltanski & Eve Chiapello:Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003
2 So lese ich den Subtext von Dokumenten wie dem aktuellen Report des Department for Culture Media and Sports. Eines der vier strategischen Ziele des DCMS ist beispielsweise: »(to) increase and broaden the impact
of culture and sport, to enrich individual lives, strengthen communities and improve the places where people live.« Vgl. http://www.culture.gov.uk
3 Munira Mirza (Hg.): Culture Vultures. Is UK arts policy damaging the arts?, http://www.policyexchange.org.uk
4 Nato Thompson: The Flip Side to the Commodification of Revolution. A Critique of the Activist Scene, in: The Journal for Aesthetics and Protest,
Volume 1, Issue 4, http://www.journalofaestheticsandprotest.org/