Armut und soziale Benachteiligung gehören allenfalls zu den thematischen Randbereichen der Gegenwartskunst. Zwar hat die Repolitisierungswelle der letzten Dekade vielerlei sozial engagierte Ansätze hervorgebracht. Doch ergehen sich diese meist eher in einer Art Wohlfahrtskunst anstatt analytische, künstlerische-ALS-politische Kategorien zu entwickeln. Selten nur kommen dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse en gros, geschweige denn die Lebensumstände des unteren Drittels der arbeitenden Bevölkerung in den Blick.
Die vorliegende Ausgabe fragt nach der Relevanz der Kategorie »Working Poor« – nicht nur im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Produktionsverhältnisse, sondern speziell auch in Bezug auf ihre kulturellen Verkörperungen. Gerne ist heute von der »Prekarisierung« aller sozialen Sicherheiten die Rede, doch was bedeutet dies für die davon innerhalb wie außerhalb des Kulturbereichs Betroffenen? Der italienische Theoretiker Paolo Virno befasst sich länger schon mit der
laufenden Umstrukturierung der Arbeitsbeziehungen, und im Interview mit Klaus Ronneberger erklärt er, wie aus der gerne beschworenen »prekarisierten Multitude« ein zündender
politischer Funke entstehen könnte. Beiträge zum Wandel des
Bildes ehemals sozialistischer ArbeiterInnen sowie die anstehende Aktualisierung der Frage »Was tun?«, in diesem Fall veranschaulicht durch eine Aktion der russischen KünstlerInnen-Gruppe Chto delat, runden diese Sektion ab.
»Working Poor« als Ausgangspunkt führt unweigerlich zu der Frage nach den Parametern einer Kunst, die sich der umrissenen Thematik ohne Anmaßung und Sozialromantik stellt. Süreyyya Evren führt im Rückgriff auf Foucault eine Reihe von Kriterien an, die eine solche – schwer zu realisierende – Kunst idealerweise kennzeichnen. Begleitend gibt es Features zu Projekten über die neue venezolanische Arbeiter-Selbstverwaltung, über afro-europäische Beziehungen auf revidierter wirtschaftlicher Basis sowie zu einem stadtteilbezogenen Computerspiel mit dem Fokus Migration. Schließlich dokumentiert die Fotostrecke »Jax Carwash« von Annette Weisser und Ingo Vetter, inwiefern sich die Arbeitsverhältnisse in einer ehemaligen Hochburg des industriellen Kapitalismus (dem US-amerikanischen Detroit) verflüssigt haben.
Das Syndrom »Working Poor« macht aber nicht Halt bei ehemals abgesicherten sozialen Positionen, und so ergibt der Blick über die hier diskutierten Kunstprojekte hinaus, dass die Kategorie längst nicht mehr milieumäßig einzugrenzen ist.