Heft 3/2006 - Netzteil


Karten für die Menschen

Aktuelle Netzprojekte zu Fragen von Kartografie und Territorialvermessung

Alessandro Ludovico


Die Repräsentation von Territorien spielt beim Ausbau von Machtprivilegien geschichtlich eine wichtige Rolle. Die Verfügungsgewalt über geografische Daten lag stets in den Händen der Macht. Heute hingegen steht die Wiederaneignung von territorialer Repräsentation in Form einer persönlichen bzw. geteilten Perspektive dank neuer Gemeinschaftswerkzeuge und der damit einhergehenden Neugewichtung der Landkarte bevor. Sie wird in
Hinkunft nicht mehr ausschließlich von Machtstrukturen gewährt, sondern von Individuen aufgebaut werden.

All dies hängt auch mit dem Ausbau des globalen Handels und der Macht zusammen, durch enorme Geldbeträge ein Geschäfts- und Ästhetikmodell zu konstruieren, das in den meisten davon betroffenen Ländern Zuspruch findet. Diese Modelle müssen schnell, hochprofitabel und gleichermaßen »witzig« sein. Aber solche Entwicklungsmodelle sind nicht nur zweifelhaft, sondern auch kulturell gefährlich, weil sie mit der lokalen Wirtschafts- und Sozialkultur in Konkurrenz treten.

Eine Möglichkeit, sich diesem Modell zu widersetzen, bietet der »Delocator« des politischen Kollektivs Finishing School in April. Er ist ein effektives Werkzeug, um die heimischen Cafés in einem bestimmten Gebiet zu verbessern, mit all ihren Eigentümlichkeiten, und sie mit den Filialen der globalen Kaffeehauskette Starbucks im selben Gebiet zu vergleichen. Die Kaffeehäuser sind immer noch gesellschaftliche Treffpunkte, manchmal sogar Inspirationsquellen für ihre sozial vielschichtige Klientel. Ein Vergleich von Rohdaten soll dabei deutlich machen, wie die laufende Überwachung eines bestimmten Gebiets zur Visualisierung eines Prozesses beiträgt, der als stiller Konkurrenzkampf stattfindet und soziale Langzeitkonsequenzen haben wird. Das Ergebnis soll das soziale Bewusstsein durch Netzwerk-Möglichkeiten wach halten bzw. politisch-gemeinschaftliche Kunstwerke schaffen, die ein Medienumfeld ähnlich einer journalistischen Recherche etablieren. Die Software kann kostenlos heruntergeladen werden, und ein abweichender Gebrauch für andere kommerzielle Felder (Fastfood, Hardware, Kleidung etc.) wird stark ermutigt.

Kartografische Praktiken können auch als visuelle Formalisierung von Wissen betrachtet werden, die abstrakte Daten (wie etwa die territorialen) durch verschiedenartige Konstruktionsprozesse synthetisiert. Historisch beschäftigten sich professionelle Designer mit dieser Praxis, aber in den letzten Jahren können sie von jedem verändert werden, der ein Vektorgrafik-Programm zu bedienen versteht. Geografische Daten repräsentieren letztlich ein Instrument, um die Abstraktion des Raumes zu forcieren und zu teilen. »Map-o-matix« von Yves Degoyon, Sergio Moreno und Jaume Nualart sowie anderen Mitgliedern des spanischen Kollektivs hackitectura ist ein Projekt, das die Fähigkeit befördern möchte, geografische Daten auf freie und gemeinschaftliche Art zu verarbeiten. Das Werkzeug erlaubt es, direkt im Web mit bestimmten Grundfunktionen zu experimentierten: etwa der Einbindung bestimmter Knoten und der Beziehung zwischen ihnen auf einer Karte, die von vielen gleichzeitig benützt und erweitert werden kann. Dabei könnten die Anwendungen dieses Instruments sogar noch leistungsfähiger sein, die Möglichkeit »taktischer Karten« mit eingeschlossen, welche die Beziehungen zwischen Machtstrukturen oder sozialen Infrastrukturen auf jeder Ebene markieren. In diesem bestimmten Feld sind die typischen Organigramme unternehmerischer Organisationen nichts als eine grafische Konvention zur Beschreibung von Ebenen der Macht.

Die Macht, die Gesellschaft zu verändern, führt auch ins Zentrum eines anderen Projekts, dessen Start unzweifelhaft der 11. September 2001 war. Damals flossen in
Institutionen heuchlerische Tränen, um der menschlichen Desaster mit einer Auswahl morbider Bilder zu gedenken, die schließlich denselben medialen Terror säten, wie er in den Print- und Fernsehmedien nach Terrorangriffen der letzten Jahre üblich geworden ist. Ein Knackpunkt dieses krankhaften Prozesses sind die Vorhersagen des nächsten Angriffs, basierend auf Gerüchten und Expertenmeinungen. Das Projekt »Where-next« wendet diesen Mechanismus gegen seine Fürsprecher. Es ist ein Spiel, das aus der strategischen Partnerschaft zwischen Guerrigliamarketing.it und den Molleindustria-Gruppen hervorging. Es geht darum, über den nächsten Angriff, die Zeit, den Ort und seine Ausführung Wetten abzuschließen (alles unter Benutzung des so genannten Google Maps Application Program Interface). Das Spiel kombiniert zwei extreme Aspekte der gegenwärtigen Realität: die globale Legitimierung von Wetten als Technik zur Gestaltung unserer persönlichen Zukunft und die (über die Massenmedien unerträglich verstärkte) Unsicherheit durch terroristische Angriffe. Die GestalterInnen haben diesen verstörenden Hybriden geschaffen, der bereit ist, inkompetente JournalistInnen zu täuschen. Andererseits wird das Spiel jeden zur Reflexion darüber zwingen, wie eine Formalisierung des (von den Medien bei jeder Gelegenheit inszenierten) Massakerspiels durch ein Online-Game komplexe Reaktionen auslösen kann. Auf diese Weise werden die offiziellen Quellen delegitimiert, vor allem wenn es darum geht, uns zu sagen, wie die Zukunft denn wirklich aussehen wird. Vielmehr können wir uns hier die Bilderwelt des Realen dank einer sarkastischen und spielerischen Form wieder aneignen. Als Endergebnis wird der induzierte Terror wortwörtlich heruntergespielt, und die latente Panik (als gegenwärtig obligatorische psychologische Komponente des Westens) geht dabei in Brüche.

Wie viele Visionen in Bezug auf Territorien das Google Maps API auslöste! Eine der schrulligsten ist »GarbageScout«, ein Werkzeug, um Sperrmüll auf einer Stadtkarte einzuzeichnen. Es wird hauptsächlich in amerikanischen Städten (New York, San Francisco und Philadelphia) verwendet, und die Menschen benützen dabei ihre Handykameras, um Bilder von interessantem Müll samt seiner exakten Position zu versenden. In diesem Fall wird der metropolitane Überschuss, der neben einer Mülltonne platziert wurde, wieder in den sozialen Kreislauf eingebracht durch ein kollektives Auge, das auswählt und Teile davon dem Verbraucherverhalten zuführt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass dadurch die Dynamiken des Kapitals effektiv gestört und ein Stadtteil als lebendes Gebiet begriffen werden kann. Dies lässt vielleicht auch eine praktische Neukonfiguration des Raumes mit virtuellen Werkzeugen und wirklichen Konsequenzen zu.

http://www.delocator.net/
http://mapomatix.sourceforge.net/
http://www.where-next.com/
http://www.garbagescout.com/

 

Übersetzt von Brandon Walder