Heft 3/2006 - Working Poor


Parrhesia, Armut, Kunst

Der parrhesiastische Akt & der künstlerische Akt der Problematisierung von Armut

Süreyyya Evren


Eisen im Bauch. Rede ich über Armut – kommt mir »Mouchette« in den Sinn. Robert Bressons »Mouchette« aus dem Jahr 1967. Der unvergessliche Schlamm in der Luft. Mouchette: Sie ist arm, sie ist unglückselig, sie wird in einem Kunstwerk dargestellt, aber man kann sie nicht verschlingen, sie lässt sich nicht verdauen, sie lässt sich nicht assimilieren. Sie muss nicht einmal wachsen. Sie ist 14, und das genügt.

Ich werde hinten anfangen. Wenn wir sagen, dass wir Armut und soziale Ungerechtigkeit thematisieren möchten, aber am Ende nicht mit einer Art Wohlfahrtskunst, mit Anmaßung oder Sozialromantik dastehen wollen, ist entscheidend, wie wir funktionieren. Wie reden wir? Über welche Art von »Kunst in Aktion« sprechen wir? Wie trägt Kunst zum herrschenden System bei, das Wissen über Armut schafft? Wie kann Kunst dieses System durch etwas anderes ersetzen, anstatt höflich dazu beizutragen?

Sicherlich ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie Armut und soziale Ungerechtigkeit für KünstlerInnen und die Kunstwelt zum »Problem« geworden sind. Wie ein unproblematisches Erfahrungsgebiet zum Problem wurde, Anstoß zu Diskussionen und Debatten gab. Dazu müssen wir jedoch zurückgehen zur Erfindung der »Ära der Kunst«, der Erfindung der schönen Künste und der hohen Kunst, der Erfindung der KünstlerInnen im Unterschied zu den HandwerkerInnen. Für KünstlerInnen, die »etwas tun« wollen, gleicht die hohe Kunst einem Keuschheitsgürtel. Sozialromantik ist für KünstlerInnen ein Tümpel. Gift. »Erwarte Gift von stehendem Wasser«1, sprach der Dichter.
An dieser Stelle schlage ich vor, Hilfe in den Diskussionen des Begriffes »parrhesia« zu suchen, wie er von Foucault in
seinen späten Vorlesungen verwendet wurde. So wird es hoffentlich möglich sein, über die Politik eines künstlerischen Aktes nachzudenken, der von wahrer Armut spricht.

Was ist parrhesia? Warum bezieht sich Foucault auf dieses alte Wort, und was können wir heute mit parrhesia anfangen?
Im Wintersemester 1983 hielt Foucault an der University of California, Berkeley, im Rahmen eines Seminars mit dem Titel »Diskurs und Wahrheit«, eine Reihe von Vorlesungen, die sich mit der Untersuchung des griechischen Begriffs parrhesia oder der »Freimütigkeit im Sprechen der Wahrheit« beschäftigten.2 Zu dieser Zeit beschäftigte sich Foucault mit dem freimütigen Sprechen der Wahrheit im Widerstand gegen Formen der Subjektivierung, die von Biomacht abhängig sind, mit Aussichten auf neue Formen der Subjektivierung, welche auf Selbstformung beruhen, sowie mit einer neuen Sichtweise intersubjektiver Beziehungen aufgrund von Freundschaft.3 In diesen Vorlesungen skizziert Foucault die Bedeutungen und Wandlungen des antiken griechischen Begriffs parrhesia und seiner Kognate sowie deren Einzug in wechselnde Praktiken des Wahrsprechens innerhalb der griechischen Gesellschaft. Dabei untersucht Foucault insbesondere »den Gebrauch der parrhesia in bestimmten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen« und »die Verfahrensweisen und Techniken, die in solchen Beziehungen angewendet werden«4.

Laut Foucault taucht das Wort »parrhesia« zum ersten Mal bei Euripides auf (ca. 484–407 v. Chr.). Für Foucault ergibt sich die Bedeutung aus fünf Komponenten: Offenheit, Wahrheit, Gefahr, Kritik und Pflicht. Übersetzt wird der Begriff im Deutschen für gewöhnlich mit »Freimütigkeit im Reden«; und der parrhesiastes ist derjenige, der parrhesia gebraucht, derjenige, der die Wahrheit spricht: »Parrhesia meint im Griechischen soviel wie die Tätigkeit eines Menschen (des parrhesiastes), ›alles zu sagen‹, die Wahrheit frei heraus zu sagen, ohne rhetorische Spielereien und ohne doppelte Böden, auch und vor allem, wenn es riskant ist.«5 Parrhesia ist eine verbale Aktivität am Schnittpunkt der fünf genannten Elemente, wovon das erste Offenheit ist – Herz und Gedanken des Sprechers sind gegenüber den im Gespräch befindlichen Personen vollkommen offen. Zweitens kommt für Foucault parrhesia dort vor, wo Glaube und Wahrheit zusammenfallen. Das bedeutet, der parrhesiastes sagt, »was wahr ist, weil er weiß, dass es wahr ist, und er weiß, dass es wahr ist, weil es wirklich wahr ist«.6 Wahrheit besteht hier weniger in der Opposition zur Lüge oder zu etwas »Falschem« als vielmehr in der verbalen Tätigkeit des Wahrsprechens: »die Funktion der parrhesia ist es nicht, jemand anderem die Wahrheit darzutun, sondern sie hat die Funktion von Kritik: Kritik am Gesprächspartner oder am Sprecher selbst«.7 Zudem erfordert parrhesia ein Moment der Gefahr. Eine Person kann nur ein parrhesiastes sein, wenn das Sagen der Wahrheit ein Risiko oder eine Gefahr birgt. Parrhesia erfordert »Mut angesichts von Gefahr: Sie erfordert den Mut, trotz drohender Gefahr die Wahrheit zu sagen«.8 »Die Tatsache, dass der Sprecher etwas Gefährliches sagt – etwas anderes als das, was die Mehrheit glaubt, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass er ein parrhesiastes ist.«9 Das nächste Element der parrhesia ist die Kritik, die zwei Formen annehmen kann: die Kritik am Gegenüber seitens einer Person, die die Macht hat, den Sprecher zu bestrafen, oder die Selbstkritik des Sprechers. Das letzte Merkmal der parrhesia ist das Wahrsprechen als Pflicht. Ein Sprecher, der Angst vor Strafe hat, hat das Recht zu schweigen; ein parrhesiastes hingegen spricht die Wahrheit ungeachtet der Konsequenzen, weil er es als seine Pflicht ansieht.10 Foucault betont, dass der parrhesiastes im Gegensatz
zu anderen Wahrheitssprechern nur in seinem eigenen Namen spricht. Seine Worte spiegeln seine persönlichen Tugenden und seinen Charakter wider.

Foucault unterscheidet in der Folge zwischen politischer und ethischer parrhesia, die sich beide durch ein Risiko oder eine Gefahr für den parrhesiastes auszeichnen. Wenn der parrhesiastes sich »an einen Souverän, einen Tyrannen wendet und ihm sagt, dass Tyrannei Unfrieden stiftet und unerfreulich ist«, da sich Tyrannei nicht mit Gerechtigkeit vereinbaren lässt, »dann spricht der Philosoph die Wahrheit, glaubt, dass das, was er spricht, die Wahrheit ist, und mehr noch, er geht auch ein Risiko ein (da der Tyrann wütend werden, ihn bestrafen, ihn ins Exil verbannen, ihn töten könnte)«.11

Doch das Wahrsprechen gegenüber der Macht, die politische parrhesia, umfasst auch eine ethische Beziehung zu sich selbst. Für Foucault ist Sokrates die Verkörperung der ethischen oder politischen parrhesia in Form der Philosophie als Lebensweise. Insofern ist das Ziel seines Wahrsprechens »nicht, die Versammlung zu überreden, sondern jemanden zu überzeugen, dass er sich um sich selbst und die anderen kümmern muss, und das heißt, dass er sein Leben ändern muss. Dieses Thema der Veränderung seines Lebens, der Konversion, wird vom vierten Jahrhundert v. Chr. an bis zu Beginn des Christentums sehr wichtig. Es ist wesentlich für die philosophischen parrhesiastischen Praktiken.«12
Für Foucault ist ethische parrhesia untrennbar mit Intersubjektivität und gemeinschaftlichen Beziehungen verbunden. Wir werden auf diese ethische parrhesia zurückkommen, wenn wir uns mit Praktiken der »Conversational Art«, der dialogischen Kunst, beschäftigen.

Parrhesia und Kunst
Wie können wir mit parrhesiastischen Begriffen über Kunst nachdenken? Dazu möchte ich zunächst ein paar diskussionswürdige Bereiche in Bezug auf parrhesia und Kunst abstecken.

Einer davon betrifft die berühmte »Zola-Methode«, die legendäre »Ich klage an!«-Methode.13 Aber ebenso wie PhilosophInnen können auch KünstlerInnen das parrhesiastische Spiel akzeptieren, »in dem das eigene Leben exponiert wird: Man riskiert den Tod, um die Wahrheit zu sprechen, anstatt in der Sicherheit eines Lebens auszuruhen, in dem die Wahrheit unausgesprochen bleibt.«14 Foucault räumt ein, dass die Androhung des Todes vom Anderen ausgeht und von daher eine Beziehung zum Anderen voraussetzt. »Aber der parrhesiastes wählt in erster Linie eine spezifische Beziehung zu sich selber: Er bevorzugt sich selbst als Wahrheits-Sprecher gegenüber sich selber als einem lebendigen Wesen, das zu sich unehrlich ist.«15

Dies ist die direkte Version der politischen parrhesia.
Dem Tyrannen oder der Tyrannin mit Worten direkt die Wahrheit sagen (nicht durch ein Kunstwerk oder einen künstlerischen Akt). Nackte Wahrheiten ohne jegliche Rhetorik, ohne Stil und dergleichen. Anstatt an die Behörden zu appellieren oder die Position staatlicher BeraterInnen einzunehmen, anstatt die Pflicht als Pflicht gegenüber dem eigenen Land oder Staat oder irgendeinem anderen repräsentativen Organ zu verstehen, sieht man es als seine Pflicht an, die Wahrheit zu sagen.

Obwohl ich die Entwicklung bloß andeuten möchte, welche die Dinge nehmen könnten, seien diejenigen, denen »die Androhung des Todes« heute als zu dramatisch erscheint, an den Fall des nigerianischen Schriftstellers Ken Saro-Wiwa erinnert, der die Wahrheit über multinationale Ölgesellschaften aussprach und dafür gehängt wurde. Kenule Beeson Saro-Wiwa (10. Oktober 1941 – 10. November 1995) war auch Umweltschützer. Er gehörte den Ogoni an, einer ethnischen Minderheit, deren Heimat im Nigerdelta seit den fünfziger Jahren für Erdölbohrungen ins Visier genommen wird. Zunächst als Sprecher, später dann als Präsident der Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes (MOSOP) führte Saro-Wiwa eine gewaltlose Kampagne gegen die Umweltzerstörung durch die Operation multinationaler Ölgesellschaften an, insbesondere gegen Shell. Am 10. November 1995 wurden Saro-Wiwa und acht weitere führende Mitglieder der MOSOP von der nigerianischen Militärregierung unter General Sani Abacha hingerichtet (gehängt). In der Erklärung, die Saro-Wiwa unmittelbar vor seiner Hinrichtung abgab, sagte er: »Ich habe meine intellektuellen und materiellen Möglichkeiten, mein ganzes Leben, einer Sache gewidmet, an die ich fest glaube und von der mich weder Erpressung noch Einschüchterung abbringen können.«

Unter Berücksichtigung anderer Texte von Foucault über die Rolle der Intellektuellen können wir festhalten, dass diese Rolle für Intellektuelle innerhalb von Wahrheitsspielen nicht repräsentativ ist. Hier ist der Philosoph-Künstler ein Diogenes.
Der unverdauliche, nicht-assimilierbare »Zyniker« Diogenes von Synope, der auf Alexander den Großen trifft. Es heißt, Alexander der Große, begeistert von der Aussicht, dem berühmten Philosophen in der Tonne von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten, habe gefragt, ob er ihm einen Gefallen tun könne. Diogenes antwortete: »Geh mir aus der Sonne!« Wenn Diogenes Sonne fordert und über die Wahrheit spricht, glaubt er dies auch. Diogenes lebt so sehr außerhalb des Konsenses, dass die Kategorie des Souveräns bei ihm nicht funktioniert. Ohne Konsens erscheint Alexander der Große wie ein Mann mit einem Körper ohne Schatten. Diogenes ist wie ein kleines buntes Insekt – ein Chrysippusfalter im Exil. Chrysippusfalter verteidigen sich gegen ihre Feinde durch ihren schlechten Geschmack; der Räuber, der sie frisst, stirbt. Chrysippusfalter sind »übel schmeckend und giftig, da sie sich als Raupen von Wolfsmilch ernähren und dabei Cardenolide aufnehmen. Beide Formen verkünden ihre Ungenießbarkeit durch leuchtende Farben und hohe Kontraste auf Haut oder Flügeln.« Ist parrhesia eine Möglichkeit, zu einem Chrysippusfalter zu werden? Wie können KünstlerInnen »übel schmeckend und giftig« sein?
KünstlerInnen können sich auf ein parrhesiastisches Spiel einlassen, durch das nicht ihr Leben, sondern ihre »Karriere« aufs Spiel gesetzt wird. Sie können Erfolg riskieren, um die Wahrheit zu sagen, anstatt in der Sicherheit eines künstlerischen Lebens auszuruhen, in dem die Wahrheit unausgesprochen bleibt. Dies ist eine recht konsequente Version von politischer parrhesia. Es ist die Szene, in der der Künstler oder die Künstlerin die Wahrheit über Machstrukturen in der Kunstwelt sagt. Die TyrannInnen der Kunstwelt könnten die Kunstinstitutionen sein, KuratorInnen, RedakteurInnen, KulturfürstInnen und offizielle Controller unkontrollierbarer Kunst-Flows, PolizeichefInnen der Kunstwelt, legitimierende Mechanismen des Kunstsystems, verschiedene herrschende Machtpositionen und ganz allgemein der Umstand, dem Kunstkonsens der Zeit unterworfen zu sein. Das ist kein Avantgardeschock, das sind keine routiniert und achtlos erinnerten »Aktionen«, die durchgeführt wurden, um eine Anti-Karriere zu starten. Dies ist ein Ansatz, der mit Umsicht eine Lücke gelassen hat zwischen sich selbst und jeglicher Avantgarde-/Vorreitervision oder/und jeglichem Avantgarde-/Vorreiterprojekt.

Hier haben wir es in der Kunst mit zwei offensichtlichen Bereichen politischer parrhesiastischer Spiele zu tun: Sollen
wir den TyrannInnen im Alltagsleben die Wahrheit sagen, oder den TyrannInnen in der Galerie bzw. im Museum? Beide Arten des Wahrsprechens vollziehen sich verbal (oder schriftlich, wenn dies auf die gleiche Art und mit der gleichen Direktheit geschieht und alle rhetorischen Techniken vermieden werden).

Doch müssen wir noch einen weiteren Bereich beleuchten, den Bereich, in dem Wahrheit durch ein Kunstwerk, in einem Kunstwerk oder mit einem künstlerischen Akt gesprochen wird. Hier ist das Sprechen kein direkter verbaler Akt, sondern es wird durch die Kunst gesprochen. Ist das möglich? Ist es möglich, einen parrhesiastisch-künstlerischen Akt zum Thema Armut zu machen? Kann Kunst etwas sein, was dazu passt, oder kann parrhesia zur Kunst passen? Kann ein künstlerischer Akt funktionieren wie ein Sprechakt? Dies kann sowohl die Machstrukturen im Alltag als auch die der Kunstwelt kritisieren. Wichtig ist, dass der parrhesia-Akt diesmal kein Akt der direkten Rede ist, sondern einer der »direkten Kunst«.

Am Ende seiner Vorlesungen sagt Foucault ein paar Worte über das Seminar, wobei er ganz explizit das allgemeine, objektive Ziel dieses Seminars definiert: die Konstruktion einer Genealogie der kritischen Haltung in der westlichen Philosophie. Wenn wir dieses Ziel mit der Kunstgeschichte kombinieren, werden wir ermutigt, eine Genealogie der kritischen Haltung in der Kunst zu konstruieren (oder, um es mit Foucault auszudrücken, der »westlichen Kunst«). In der parrhesia findet Foucault Wurzeln der »kritischen« Tradition des Westens. Würde uns eine Untersuchung der parrhesia in der Kunst womöglich helfen, die Wurzeln der »kritischen« Tradition in der Kunst zu finden?

Wir haben es heutzutage mit zwei Problemen zu tun. Beim ersten geht es um die Direktheit. Sollte ein Kunstwerk etwas Indirektes an sich haben müssen, etwas Rhetorisches? Fällt ein künstlerischer Akt durch totale Direktheit aus dem künstlerischen Rahmen? Das zweite Problem ist die Frage, ob indirekte Formen des Kunstschaffens notwendigerweise bedeuten, dass dahinter eine rhetorische Haltung steckt? Kann es Erscheinungsformen politischer oder philosophischer parrhesia geben, die sich gut mit Kunst vertragen? Um es etwas einfacher auszudrücken: Welche Art von künstlerischem Handeln könnte als Wahrsprechen im Sinne eines parrhesiastischen Aktes funktionieren?

Die parrhesia muss eine direkte Kritik sein, eine direkte Form des Wahrsprechens. Foucault ging es nicht um das Problem der Wahrheit, sondern um das Problem der Person, welche die Wahrheit spricht bzw. um das Wahrsprechen als Tätigkeit. Und für alle, die Kunst immer noch als schöne Kunst bzw. hohe Kunst verstehen: Kunst ist nicht Kunst, wenn sie so direkt ist.16 Die Definition von Kunst ist entscheidend. Wir müssen ganz gewiss über die »Ära der Kunst« hinausdenken, um in der Kunst parrhesiastische Handlungen zu finden. Noch wichtiger ist jedoch: Wenn diese etwas mit den Wurzeln der kritischen Tradition in der Kunstgeschichte zu tun haben, dann sollten alle Versuche, Direktheit und somit parrhesiastische Handlungen aus dem Bereich der Kunst zu vertreiben, als ernsthafter Angriff auf eine kritische Haltung innerhalb der Kunst gewertet werden.
Und was die Erscheinungsformen einer politischen oder philosophischen parrhesia angeht, die sich gut mit Kunst verträgt, könnte es hilfreich sein, noch einmal bei Foucault nachzulesen, wenn er die Entwicklung der parrhesia von der öffentlichen Kritik zur Selbstkritik hervorhebt: »Erstens kommt parrhesia als seine Tätigkeit im Rahmen kleiner Gruppen vor oder im Kontext des Gemeinschaftslebens. Zweitens kann parrhesia in den menschlichen Beziehungen beobachtet werden, die im Rahmen des öffentlichen Lebens vorkommen. Und schließlich kommt parrhesia im Kontext der individuellen persönlichen Beziehung vor.«17 In Platos Dialog »Laches«, so Foucault, »übernimmt Sokrates die Funktion des parrhesiastes nicht mehr in dem Sinn, die riskante Widerrede in politischem Sinn auszuüben, sondern dadurch, dass er seine Zuhörer dazu bringt, Rede zu stehen über sich selbst und sie zu einer Selbstbefragung zu führen, die nach der Beziehung zwischen ihren Aussagen (logos) und Lebensweisen (bios) fragt.«18 Wie Raunig weiter ausführt: »parrhesia ist hier keine Eigenschaft/Kompetenz/Strategie einer einzigen Person, sondern eine Verkettung von Positionen im Rahmen der Beziehung zwischen der Kritik des parrhesiastes und der dadurch hervorgerufenen Selbstkritik […] parrhesia nicht als Kompetenz eines Subjekts, sondern als Bewegung zwischen derjenigen Position, die nach der Übereinstimmung von logos und bios fragt, und derjenigen Position, die angesichts dieser Befragung Selbstkritik übt […] Es braucht parrhesia als doppelte Strategie: als Versuch der Involvierung und des Engagements in einem Prozess der riskanten Widerrede, und als Selbsthinterfragung.«19

Hier können wir eine Brücke schlagen zwischen parrhesia und Praktiken der »Conversational Art« oder der »Dialogue-based Public Art«, in der KünstlerInnen »offene Räume schaffen, wo Individuen sich von existierenden Rollen und Verpflichtungen frei machen und neu und spontan reagieren und interagieren können«20. Diese dialogbasierten Kunstpraktiken könnten darin bestehen, mittels politischer und insbesondere ethischer parrhesia Raum für die Problematisierung gesellschaftlicher Probleme zu schaffen, wie etwa das der »arbeitenden Armen«.
Könnte »parrhesia als Bewegung«, »parrhesia als Zweifachstrategie« in derartigen dialogischen künstlerischen Handlungen funktionieren? Eine zentrale Frage, wenn es um ein erneutes Nachdenken über das Kritische in der Kunst geht.

Neuere Studien über parrhesia reflektieren verschiedene Ansätze einer Suche nach politisch aktiven parrhesiastischen Vorgehensweisen. So analysiert etwa David Novak drei Reden, die Malcolm X in unterschiedlichen Phasen seines Lebens hielt, und wertet sie im Hinblick auf parrhesia neu aus, während Alex Neiwirth das Cyber-Publishing-Experiment des Independent Media Center Network (IMC) auf parrhesia untersucht.21 Das IMC lässt sich durchaus mit dialogischen Kunstpraktiken vergleichen und kann als politischer Ausgangspunkt dienen. Das IMC hat eine parrhesiastische Form, die sich aus einem zeitgenössischen Verständnis horizontaler Politik ergibt. Wie David Graeber bemerkt22, gründet seine Form in der Ideologie der alternativen Globalisierungsbewegungen. Eine Form, die kein »stehendes Wasser« ist, wie ich meine.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 William Blake: Collected Poems. Hg. v. W. B. Yeats. London/New York 2002, S. 167. Dt. Ausgabe: Die Hochzeit von Himmel und Hölle. Ausgewählte Dichtungen, Übers. Lillian Schacherl, Erftstadt 2005
2 1996 erschienen sie als deutschsprachiger Text, der auf den Tonbandaufzeichnungen von sechs Vorlesungen basiert, die Foucault auf Englisch gehalten hat; vgl. Diskurs
und Wahrheit: die Problematisierung der Parrhesia; 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität von Berkeley/Kalifornien. Hg. von Joseph Pearson. Aus dem Engl. übers. von Mira Köller, Berlin 1996
3 Vgl. Alan Milchman & Alan Rosenberg: Michel Foucault – Crises and Problematizations, in: The Review of Politics, Frühjahr 2005, S. 67
4 Vgl. Michael A. Peters: Truth-telling as an Educational Practice of the Self. Foucault, Parrhesia and the ethics of subjectivity, in: Oxford Review of Education, Vol. 29, No. 2, 2003. Siehe auch Nancy Luxon, Truthfulness, Risk, and Trust in the Late Lectures of Michel Foucault, in: Inquiry, 47, S. 464–489
5 Gerald Raunig: Die doppelte Kritik der ›parrhesia‹.
Beantwortung der Frage »Was ist eine progressive (Kunst-)Institution?«, http://www.republicart.net/disc/institution/raunig04_de.htm
6 Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 12
7 Ebd., S. 17
8 Ebd., S. 15
9 Ebd., S. 14. Wie Gerald Raunig anmerkt, war parrhesiastes im antiken Griechenland nicht nur grammatikalisch, sondern auch real immer maskulin. Während heute im Gegensatz zum antiken Griechenland sowohl der Begriff als auch das Phänomen zunehmend in feministischen Diskursen thematisiert werden. Als Beispiel nennt er den Aufsatz »Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik«, in: Hito Steyerl & Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch?
Migration und postkoloniale Kritik. Münster 2003, S. 270–290. Hinzufügen kann man hier noch Valerie Harwoods Gebrauch des Begriffs in schwul-lesbischen politischen
Zusammenhängen; Valerie Harwood, Telling Truths. Wounded Truths and the Activity of Truth Telling, in: Discourse: studies in the cultural politics of education, Vol. 25, No. 4, Dezember 2004
10 Vgl. David R. Novak: Engaging Parrhesia in a Democracy. Malcolm X as a Truth-teller«, in: Southern Communication Journal, Vol. 71, No. 1, März 2006, S. 25–43
11 Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 14f
12 Ebd., S. 109
13 Als der Schriftsteller Emile Zola durch seinen berühmten offenen Brief an Präsident Félix Faure unter der Überschrift »J’accuse!« die Dreyfus-Affäre enthüllte, schrieb man den 13. Januar 1898.
14 Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 15
15 Ebd., S. 16
16 »Die Erfindung der Kunst« wird sehr kompetent erörtert in Larry Shiner: The Invention of Art. A Cultural History, Chicago 2003. Zu Diskussionen über die »Ära der Kunst« und das »Ende der Kunst« siehe Arthur C. Danto After The End of Art, Princeton 1998; Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, sowie Donald Kuspit: The End of Art, Cambridge 2005
17 Foucault: Diskurs und Wahrheit, S. 111
18 Raunig: Die doppelte Kritik der ›parrhesia‹
19 Ebd.
20 Grant H. Kester beschreibt hier unter anderem den Ansatz von WochenKlausur. Eine ausführliche Diskussion über die politische Relevanz von »Conversational Art«
findet sich bei Kester: Conversation Pieces, Community + Communication in Modern Art, University of California Press 2004
21 Vgl. Novak: Engaging Parrhesia in a Democracy sowie M. A. Neiwirth: Parrhesia – An Old Term and a New Way of Making News, Boise State University, 2004, http://www.indymedia.org.uk/media/2004/11/301351.pdf
22 Vgl. David Graeber: The New Anarchists, in: New Left Review, Januar–Februar 2002, http://www.newleftreview.net/NLR24704.shtml