Graz. »Beyond the Perfect Image« eröffnet ein Jenseits nicht nur in Bezug auf so unterschiedliche fotografische Normen wie die der ästhetischen Perfektion, des normalisierenden Naturalismus oder des Kontrolle und umgehende Aufklärung suggerierenden Dokumentarismus. Die so betitelte Ausstellung explodiert an allen Ecken und Enden in die politischen Theorien der Repräsentation und der Subjektivität hinein und ins Leben einer Aktivistin hinaus. Was den ebenso energetisch praktischen wie theoretischen Mehrwert schafft, ist das konsequent unkonventionelle Denken und Handeln der fotografischen Kultur- und Sozialarbeiterin Jo Spence (London 1934–1992).
Ausgebildet als Porträtfotografin mit irgendwann sogar eigenem Studio kommt Jo Spence mit vierzig Jahren zur Einsicht, dass sie mit ihrer Porträtfotografie nichts biografisch oder gesellschaftlich Sinnvolles erreichen kann. Deshalb macht sie die theoretische und politisch-praktische Auseinandersetzung mit der Fotografie zum Zentrum ihres Lebens. Oder eher umgekehrt: Sie nutzt die Fotografie, um sich mit dem Politischen ihrer Biografie und ihres sozialen Umfelds auseinander zu setzen.
Die Fotografie ist dabei Instrument, nicht Ziel oder Zentrum. Denn die gesellschaftlichen Regeln, um deren Erforschung es Spence geht, können auch von der Fotografie nicht in einer Totale zusammengefasst, überblickt oder symbolisiert werden. Die visuellen Elemente, die sie in ihrer fotografischen Sozialforschung sowohl rekonstruiert als auch benutzt, bleiben – ebenso wie die theoretischen und aktivistischen – Momente eines bis zum Lebensende unbeirrten Prozesses des Fragens. Dieser überschreitet jeden Dokumentationsversuch. Wie die Ausstellung in der Camera Austria das offensiv zulässt, und nicht Werkganzheit oder die Beschränkung auf Fotografisches oder Ästhetisches anstrebt, ist ihre Stärke und wirft ein kritisches Licht auf den Rest des Grazer Kunsthauses.
Am Beginn des theoretischen Fragens steht bei Spence die Auseinandersetzung mit der Arbeiterfotografie der 1930er Jahre und die Kritik an naturalistisch-viktimisierenden,
reformistischen und distanziert ideologiekritischen Formen des Dokumentarischen. Sie formuliert diese Kritik – wohlgemerkt am Höhepunkt (post)strukturalistischer Theoriebildung und Subjektkritik – nicht zugunsten sich unendlich entziehender Strukturen von Referenten, Signifikanten und sonstiger Zeichenspiele. Spence kritisiert im Namen eines Dokumentarischen, das gesellschaftliche Regeln und Strukturen bewusst, fassbar und veränderbar machen kann, auch wenn sie (wie sie mit Brecht weiss) längst in die Funktionale gerutscht und kaum abbildbar sind.
Spence’ praktischer Weg beginnt im »Photography Workshop« (1974). Hier werden – außerhalb üblicher Ausbildungsinstitutionen – Fotografieworkshops für Kinder angeboten, das Magazin »Camerawork« initiiert, Theorie zur visuellen Kultur produziert, diskutiert und veröffentlicht1, Bildarchive angelegt und Dokumentationscollagen (z. B. zur Frauenarbeit im Londoner Unter- und Mittelschichtviertel Hackney) erarbeitet, ihr Verleih geregelt und – mehr im Gewerkschafts- als im Galerienumfeld – Ausstellungen organisiert.
Die Grazer Ausstellung, die zuvor im MACBA in Barcelona zu sehen war2, beginnt mit »Beyond the Family Album« (1979). In konsequenter Fortsetzung der Recherchen zur Arbeiterfotografie erforscht und dekonstruiert Spence hier – am konkreten Beispiel des Albums der eigenen Familie – Funktion und Ästhetik der Amateurfotografie. Die Arbeit besteht aus einem Zyklus von Bild-Textcollagen aus Familienfotos, ihren späteren fotografischen Re-Inszenierungen, verschriftlichten realen und unrealisierten Versionen der eigenen Lebensgeschichte sowie theoretischen Überlegungen zur Exposition und Festschreibung sozialer Regeln im Familienalbum. Mit diesen Collagen führt Spence vor, welche ausgezeichnete Gelegenheit Familienalben bieten, um – vermittelt über die ausgeschlossenen Themen Krankheit, Arbeitslosigkeit, Sex, Beziehungskrisen etc. – die verborgenen Subjektivierungsregeln im Milieu der unteren Mittelschicht zu verstehen und zu verändern.
In den (auch in der Anordnung der Ausstellung) zeitlich folgenden Arbeiten wird die Collage von Techniken der Inszenierungen abgelöst. Der Zyklus »Remodelling Photo History« (1982, zusammen mit Terry Dennett) ist eine witzige visuelle Theorie über die Regeln klassischer Fotogenres. Unter den Titeln »Industrialization, »Colonization«, »Victimization«, »Realization« und »Revisualization« geht es um die Codes der Industriefotografie, der ethnologischen Fotografie, der Dokumentar-, Werbe- sowie der erotischen Fotografie. Hier ereignen sich hart gefügte jokes, die das bloße Rekonstruieren und Ausstellen fotografischer und damit auch von Realitätsregeln bei weitem überschreiten. Wenn Spence etwa in »Colonization« mit nacktem Oberkörper, massiver Halskette und einem Besen in der Hand vor dem Eingang eines schäbigen Arbeiterhauses steht, geht es nicht nur um das Offenlegen des Klischees von Eingeborenen
mit primitiven Werkzeugen vor etwas Hüttenartigem. Das Vertauschen der Hautfarbe ist mehr als ein sarkastischer Witz über uns Kolonisierer. Wenn hier Eingeborenenattribute nicht einfach einem weißen Sklavenhalter umgehängt werden, sondern einer weißen Frau, die mit zentralen Insignien der englischen Unterschicht ausgestattet ist, gibt es keine einfache Retourkutsche an die Adresse der Kolonialherren. Die Inszenierung erzeugt vielmehr unangenehme Fragen und Spannungen. Problematische Gleichsetzungen zwischen Kolonisierten und Ausgebeuteten im so genannten Mutterland werden ebenso angedeutet wie zurückgewiesen.
Eine weitere Gruppe von Arbeiten hat die Krebserkrankung von Spence zum Thema. Dabei ist ein Zyklus von Fotografien, mit denen sich Spence bewusst gegen die Abbildungsverbote und -konventionen der Krankenhauswelt auflehnt, zu unterscheiden von einerseits fast tagebuchartig-persönlichen Reflexionen ihres veränderten Lebens mit alternativer Medizin; und andererseits von Bilderserien, die im Rahmen der von ihr und Rosy Martin entwickelten fototherapy entstanden sind. Letztere handeln, in Anknüpfung an die Techniken des »Family Album«, vom fotografischen Re-inszenieren früher fotografischer und anderer Bilder, insbesondere solche der Scham.
Bemerkenswert scheint, dass mit Spence’ Arbeiten keine – wie gern gesagt wird, wenn man sich der Relevanz nicht (mehr) ganz sicher ist – historische Position der Fotografie vorgestellt wird, sondern eine zugleich visuelle und theoretische Praxis, die auch heute ihresgleichen sucht. Es ist verblüffend, wie sehr und frech Spence sich (wissend und nicht aus Ignoranz) über bestimmte theoretische Diskurse hinweggesetzt hat, und andere – man denke z.B. an die Theorien der Subjektivierung durch ungewusste kollektive Regeln von Foucault und Bourdieu – auf eine völlig eigenständige und anschauliche Weise nicht nur entwickelt, sondern zugleich zugänglich gemacht und weiterentwickelt hat, indem sie die theoretisierten Subjekte nicht verabschiedet, sondern direkt von ihnen und ihren Geschichten her soziale Regeln so erforscht, dass sich zugleich Alternativen entfalten. Man könnte von einer Lokalpolitik mit visuellen Strukturen sprechen. Spence’ Praktiken sind nämlich so spezifisch, dass man sie nicht nachmachen kann, außer man fängt im jeweils eigenen, und damit einem ganz anderen, Umfeld an, genau so hartnäckig zu fragen, wie Spence das getan hat. Und zwar mit so minimalen Mitteln, dass einem schwindlig wird.
1 Vgl. insbesondere: Jo Spence/David Evans/Terry Dennet/Sylvia Gohl: Photography/Politics. One, London (Photography Workshop) 1980; Jo Spence/Patricia Holland/
Simon Watney: Photography/Politics. Two, London (Comedia/PhotographyWorkshop) 1986.
2 Dort erschien auch der Katalog zur von Jorge Ribalta und Terry Dennett kuratierten und anschließend von der Camera Austria übernommenen Ausstellung: Jo Spence:
Beyond the Perfect Image. Photography, Subjectivity, Antagonism, Barcelona 2005.