Heft 4/2006 - Lektüre



Sven Lütticken:

Secret Publicity

Essays on Contemporary Art

Rotterdam / Amstedam (NAi Publishers / The Netherlands Foundation for Visual Arts, Design and Architecture, Fonds BKVB) 2005 , S. 74

Text: André Rottmann


Der Begriff des Spektakels, mit dem Guy Debord die zunehmende Distanzierung direkt erlebter Erfahrungen durch einen auf Warenförmigkeit beruhenden kapitalistischen Repräsentationsmodus in den westlichen Massen- und Konsumgesellschaften der Nachkriegszeit beschrieben hat, findet in der zeitgenössischen Kunstkritik eine nahezu ubiquitäre Verwendung. Selten wird er allerdings historisch wie theoretisch genauer gefasst und infolgedessen eher schlagwortartig aufgerufen denn auf sein kritisches Potenzial für die aktuelle Auseinandersetzung mit einer durch Eventkultur, Celebrity-Logik und Gossip-Blogs selbst zunehmend »spektakularisierten« Kunstwelt hin befragt. Den Essays des niederländischen Kunsthistorikers und Kunstkritikers Sven Lütticken, die größtenteils bereits in »De Witte Raaf« und der »New Left Review« publiziert wurden, nun aber in Buchform unter dem Titel »Secret Publicity« zum Teil erstmals in englischer Übersetzung vorliegen, kommt diesbezüglich ein besonderes Verdienst zu: Diskutieren sie doch vermeintliche theoretische Standards wie die situationistische Spektakelkritik, aber auch Roland Barthes’ und Georges Batailles Entwürfe einer ideologiekritischen Mythologie sowie den damit einhergehenden Begriff der »Appropriation« anhand von konkreten künstlerischen Praktiken seit den sechziger Jahren – beispielsweise den Arbeiten und Schriften von Daniel Buren, Hans Haacke, Andrea Fraser, Marcel Broodthaers, Andy Warhol, Stan Douglas, Bik Van der Pol und Roy Villevoye –, und zwar hinsichtlich ihrer spezifischen historischen
Voraussetzungen und politischen Prämissen. Damit soll, so Lütticken, sowohl ihrem marktkompatiblen Einsatz in kunstkritisch legitimierten Sales Talks als auch in idealistischen Beschwörungen eines angeblich inhärent politischen Potenzials von Kunst entgegengetreten werden.
Lüttickens weniger monografisch denn systematisch vorgehenden Überlegungen, die sich neben dem engeren Bereich der bildenden Kunst beispielsweise auch der Konjunktur von Verschwörungstheorien nach dem 11. September, der Tendenz zu Remakes im Hollywoodfilm sowie der Rockband Pere Ubu widmen, nehmen dabei eine dezidiert historische Perspektive ein. Dazu werden die Grundlagen eines generischen (und nicht medienspezifischen) Kunstbegriffs – wie er seit den US-amerikanischen und europäischen Neo-Avantgarden bis heute bestimmend ist – wiederholt in den ästhetischen wie politischen Programmen der deutschen Romantik und der französischen Aufklärung verortet. Der Fokus der – trotz aller Heterogenität der behandelten Gegenstände – kohärent argumentierenden Aufsatzsammlung liegt jedoch auf der Gegenwartskunst und den durch sie idealiter etablierten Formen von (Gegen-)Öffentlichkeit. Diese beinhalten für Lütticken auch unter den Bedingungen des Spektakels zumindest die Möglichkeit, vorübergehend eine wahrhaft kritische, reflexive Praxis zu realisieren – und sei es nur unter der Prämisse, die ideologische Überdetermination von Kunst taktisch einzusetzen oder gegen sich selbst zu wenden. Die mit bewusst normativem Anspruch auftretenden Ausführungen Lüttickens zielen mithin auf die Frage ab, inwieweit zeitgenössische Kunst, die Objekte, Diskurse und Bilder aus der sie umgebenden Kultur inkorporiert und damit offenkundig an der kapitalistischen Logik des unausgesetzten Konsums partizipiert, über das Potenzial verfügen kann, Differenz oder Dissens zu erzeugen. Und dies obwohl die Kunstwelt Lütticken zufolge selbst nichts anderes denn ein Teilbereich des Spektakels ist, das, wie er unter anderem anhand der Performances von Tino Seghal und den sie begleitenden theoretischen Apologien zeigen kann, auch durch sich kritisch gebende Kunstpraktiken strukturell affirmiert und perpetuiert wird.
Lüttickens fortwährender Rekurs auf den Spektakelbegriff wirkt durch dessen kulturpessimistische Konnotationen zunächst irritierend, gewinnt im Laufe seiner vielschichtigen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen historischen Konstellationen des Ästhetischen – von dadaistischen Readymades über Verfahren der Pop Art bis hin zu Filminstallationen – aber immer wieder von neuem theoretisch und politisch differenzierte Konturen. Diesbezüglich zeichnet sich der in »Secret Publicity« verfolgte Ansatz dadurch aus, Debords Vorhaben einer radikalen Verneinung von Kunst im Namen eines »unentfremdeten« Lebens für die zeitgenössische Kunstkritik produktiv zu machen. So macht Lütticken in Debords eigenen, auf der Aneignung von im weitesten Sinne popkulturellem Bildmaterial basierenden Filmcollagen und seinen korporativen Verstrickungen mit dem offiziellen Kulturbetrieb (unter anderem seinem Vertrag mit dem Verlagshaus Gallimard) zwar ein Eingeständnis des Scheiterns der ursprünglichen Aspirationen der Situationistischen Internationale aus. Gleichzeitig erkennt er darin aber auch das Potenzial, aus der intendierten Negation der Kunst eine Kunst der Negation zu entwickeln, welche die Unvermeidbarkeit der Kooptierung künstlerischer Praktiken durch das Spektakel illusionslos als unhintergehbare Voraussetzung der Kunst in der Moderne akzeptiert. Schließlich stellt die Sichtbarkeit des Spektakels in den Massenmedien entgegen der Verwendung des Begriffs in kunstkritischen »Slogans« ohnehin nur eine Repräsentation des zugrunde liegenden »sozialen Lebens« der Waren im Kapitalismus dar, und folglich kann es nicht im Feld des Visuellen manipuliert oder herausgefordert werden. Nichtsdestotrotz hält diese Kunst der Negation an dem Projekt fest, feine Risse innerhalb des Spektakels zu akzentuieren, aus denen die Möglichkeit eines fundamentaleren Bruchs mit seinem Regime erwachsen könnte. Oder sie lässt, so Sven Lütticken am Ende seines Essays zu Batailles ambivalenten Topoi der Verausgabung und Verschwendung, eine Alternative zum Spektakel etwas weniger unvorstellbar erscheinen.