Paris. 1998 hatte ein springerin-Feature (4/98) über das Werk von Jiri Kovanda noch nach Erklärungen für dessen Verdrängung aus der Geschichtsschreibung der Performanceart der späten 1970er Jahre gesucht. Ein knappes Jahrzehnt später beginnt sich diese Fehlstelle in den Kanons zunehmend zu schließen. Kovandas Werk ist nun international sichtbarer geworden. Zuletzt etwa durch eine von Vit Havranek herausgegebene Monografie und international unter anderem durch ein unkonventionelles, nicht ohne Fallen behaftetes Ausstellungskonzept der beiden Kuratoren Guillaume Désanges und François Piron für die Pariser Galerie gb agency.
Kovandas Aktionen – »körperliche« und »materielle« Interventionen, minimale Gesten – sind Verweise auf fragile, feine, in ihrer entwaffneten Einfachheit unantastbare »Zwischenräume« der menschlichen Realität. Die Pariser Präsentation zeigt hauptsächlich Arbeiten, die aus Dokumentationen bestehen: Fotos von Kovandas präzisen Prager Aktionen aus den späten 1970er Jahren, die auf genau beschriebenen Szenarien beruhen, nachträglich fein säuberlich auf ein DIN-A4-Blatt angebracht, dazu in Schreibmaschinenschrift ihr Thema, der Ort und das Datum.
Die beiden Kuratoren reagierten inhaltlich sowie auch formal assoziativ auf diese Vorgaben und entfalteten ein Paralleluniversum an Formen und Bildern aus der Performancegeschichte neben Kovandas Arbeit: »Rest of the World«. Dazu gliederten sie die Wände der beiden Räume der Galerie durch farbliche Setzung in einen oberen und unteren Bereich. Im oberen gaben die Arbeiten von Jiri Kovanda den Ton an, im unteren reagierten die Kuratoren mit ihrem weit über den begrenzten Kanon der Kunstwissenschaft hinaus gehenden Wissen über künstlerische Arbeiten, zu denen sie Kovanda inspirierte. Methodologisch ähnlich dem Warburg’schen Mnemosyne-Atlas, unternahmen, kommentierten und begleiteten Kopien, Ringmappen oder Diaprojektionen die Zuordnung von Gesten entlang der vorgegebenen Themen von Kovandas Aktionen. Entfernt erinnerten diese Installationen auch an Kosuths Konzept der Wittgenstein’schen Familienähnlichkeiten in der Ausstellung »Spiel des Unsagbaren« von 1989 in Wien und in Brüssel, jedoch mit dem grundlegenden Unterschied, dass Kosuth Originale zu Gruppen angeordnet hatte, die der Konzeptkunst und der Minimalart entstammten.
Kovandas »I Hide« (1977, Vinohrady, Prag) zeigt den Künstler, wie er sich in einen Hauseingang oder an eine Baustellenwand drückt, neben eine Mülltonne oder einen Laternenmasten hockt. Die Eindeutigkeit des Tuns geht aus der Bildbetrachtung nicht hervor, vielmehr vermittelt sich ein flüchtiger Eindruck, der sich erst durch den Titel erschließt. Was bedeutet der Umstand dieses Versteckens, das niemals gelingt? Es erinnert an das Versteckspiel mit sehr kleinen Kindern, die sich oftmals auch Ziele aussuchen, und – wenn sie aus dem unmittelbaren Gesichtsfeld des Suchenden entschwinden – schon vom guten Versteck überzeugt sind.
Welche Herausforderungen bedeuteten diese Aktionen in einem politischen Kontext, in welchem durch die Partei und das System der gegenseitigen Bespitzelung die Bevölkerung eine fast lückenlose Kontrolle vorfand? Diese minimalen Abweichungen vom Alltag – das fast Unsichtbare und kaum Unterscheidbare – lösten Irritationen und loteten die Grenzen von Freiheiten aus. Dabei versuchten sie auch, ein Recht auf Subjektivität zu evozieren. Wie ist dieses Rekurrieren auf das Subjektive zu verstehen: Im Ostblock hatte ja Kunst per definitionem politisch zu sein, wobei man diese Gesten, die sich damals als apolitisch lesen ließen oder ganz bewusst nach Aussagen von Kovanda auch so gesetzt wurden, als immens politische deuten kann. Zumindest aus einer westlichen Perspektive der 1970er Jahre, wo der Slogan »Das Private ist politisch« einer der Mainstreamstandards auch der Kunst und des Feminismus waren.
Die Pariser Kuratoren Désange und Piron bündelten beispielsweise zum Thema Verstecken, Verschwinden, Unsichtbar-Machen Kopien von Chris Burdens »Five days locker piece«, 1971, Santiago Serras »100 Personen im Käfig« (2003), Goran Trbuljaks Meisterwerk von 1969, »Von Zeit zu Zeit steckte ich den Finger durch das Loch der Eingangstür der Galerie der Modernen Kunst (in Zagreb), ohne dass die Direktion etwas davon wusste«, Endre Tots, »Hopes in the Nothing« (1994), Allan Ruppersbergs, »Where is Al?« (1972), Keith Arnatts »Self Burial« (1968), William Wegmans »Ostrich« (1972), Aino Kannistos »Mülltonne« (1999), »Event« des isländischen Konzeptkünstlers Sigudur Gudmunsson (1975), Burdens »White Light/White Heat« von 1975, einem »Spot publicitaire pour Nike« aus Amsterdam aus dem Jahr 2002 und Vito Acconcis Bestseller »Seedbed« von 1970.
Die Strategie von Piron und Désanges ist auch von W. J. T. Mitchells »Pictorial Turn« beeinflusst, ist von poststrukturalistischen Interkulturalitätsgedanken und Textualitätsstudien ebenso informiert wie sie ein an Pankofskys Ikonologie angelehnter Versuch ist, das Denken in Bildern und über Bilder zu rehabilitieren – um damit die noch immer existierenden Trennungen, Teilungen und real noch existierenden unsichtbaren eisernen Kanonvorhänge der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts indirekt zu überschreiten. Und dies in einer überaus lustvollen und lehrreichen Ausstellung.