Im Herbst 2006 begannen wir eine Auseinandersetzung mit Fragestellungen, die in den Leitmotiven der documenta 12 mit angelegt sind. Nicht um direkte Antworten ging es dabei, als vielmehr um Annäherungen, Umschreibungen und Paraphrasen – Vorarbeiten gewissermaßen, welche Themenkomplexe wie Moderne oder bloßes Leben abstecken helfen.
Ähnlich wie die Hefte »Taktiken/Topografien« und »Andere Modernen« nimmt auch die vorliegende Ausgabe mit dem Titel »Leben/Überleben« diesen indirekten Zugang auf und versucht, ein Feld zu kartografieren, das auf vielfältige Weise von diesen beiden Schlüsselbegriffen geprägt ist.
»Was ist das bloße Leben?« ist eine Frage, welche die Kunst und Theorie der letzten Jahre zentral beschäftigt hat. Nicht nur tritt die Verletzlichkeit und Fragilität menschlichen Lebens im global-medialen Zusammenhang immer deutlicher zutage, sondern sie ist fast so etwas wie eine alltägliche Begleitung geworden. Gleichzeitig wird so aber auch die Relevanz von Überlebensstrategien bis hin zu kleinen, oftmals unscheinbaren Überlebenstechniken vor Augen geführt.
Rosi Braidotti packt den Bereich Biopolitik, die immer lückenlosere und hoch technologische Verwaltung von Leben und Sterben, am neuralgischen Punkt des in ihn eingelassenen Nihilismus an. In Abgrenzung davon versucht sie, das positive Bild eines neuen Vitalismus und einer damit einhergehenden Ethik zu skizzieren.
Am eigenen Leib erfahren hat der libanesische Künstler und Intellektuelle Tony Chakar letzten Sommer, was es heißt, plötzlich auf die Funktion des bloßen Überlebens zurückgeworfen zu sein. Seine Reaktion auf die israelischen Luftangriffe macht vielfältigen Gebrauch von literarischen Bildern – nicht zuletzt, um dem Ort der Katastrophe eine für das Bewusstsein erträgliche Dimension zu verleihen.
Der spezifischen Repräsentationsproblematik in Bezug auf das »nackte Leben« geht Tom Holert in seinem Essay über ausgewählte Dokumentarfilme nach. Flüchtlingsproblematik und Migration sind im Film zu beliebten Themen geworden, vielleicht auch, weil sie den repräsentierenden Subjekten den Aspekt der »Lebendigkeit« hautnah vor Augen führen. Um diese fundamentale Ressource drehen sich auch einige weitere Beiträge, die, sei es angesichts von Filmen über das Sterben (Judith Fischer) oder, gänzlich anders gelagert, Investitionen in die Gesundheitsindustrie (Hans-Christian Dany), der Umkämpftheit des Terrains nachgehen.
Einen abschließenden Schwerpunkt bilden die Neo-Avantgarden der 1960er und 1970er Jahre. Scheinbar weit vom Kontext des bloßen Lebens entfernt, finden sich in den Bewegungen dieser Dekaden, sei es in Polen (Luiza Nader) oder Jugoslawien (Ješa Denegri), eine Reihe von Hinweisen, wie es um das künstlerische Überleben unter
erschwerten Umständen bestellt ist.