Warschau. Ein riesiger weißer Punkt auf schwarzer Leinwand. Leicht zitternd, fast tänzelnd erzeugt er den Nachbildeffekt auf der Retina. Roh leuchtend und grob ausgeschnitten tritt einem hier in Zelluloid (geb[r]annt auf DVD) das bekannte Vokabular von Konstruktivismus bis strukturellem Film in seiner unmittelbarsten Wirkung vor Augen. Józef Robakowskis »Test« (1971) packt die Erzählung an der Gurgel und schneidet sie einfach ab. Zu sehen war dieser Klassiker des polnischen Experimentalfilms in der Ausstellung »1,2,3 … Avant-Gardes«. Gezeigt wurden Filme, die entstehen konnten weil die große Erzählung von Kaltem Krieg und Revolution im zeitweiligen »Tauwetter« des autoritär regierten Polen der frühen 1970er Jahre aufzubrechen begann. Für einen Zeitraum von etwa zwei Jahrzehnten erblühte trotz Zensur und Kontrolle eine vielgestaltige polnische Avantgarde, die versuchte, politische Ideen mit künstlerischen Formfragen zu verbinden. Dieser in Westeuropa kaum zur Kenntnis genommenen Phase, ihren Akteuren und Ideen haben sich Lukasz Ronduda (Warschau) und Florian Zeyfang (Berlin) mit einer sehenswerten Ausstellung gewidmet. Der ungewöhnliche Titel kombiniert die Zählung aus Pawel Kwieks einflussreichem Experimentalfilm »1,2,3 … cwiczenie opertorskie« (»1,2,3 … Operator’s Exercise«, 1972) mit Peter Wollens Zweiteilung der westlichen Avantgarde (»The Two Avant-Gardes«, 1975). Es gibt mehrere nebeneinander existierende Strömungen zu sehen und zu hören, die als sukzessive Entwicklung einer spezifischen Avantgarde des experimentellen Films in Polen gebündelt werden. Die Pünktchen hinter der dritten Avantgarde enthalten den Appell zur Fortsetzung einer politisch und sozial engagierten Kunsttradition auch außerhalb Polens.
Auf Grundlage des Archivs des polnischen Experimentalfilms am Warschauer Centre for Contemporary Art Ujazdowski Castle und in Kooperation mit dem Büro Kopernikus Deutsch-Polnischer Kulturaustausch entwerfen die beiden Ausstellungsmacher ihre Geschichte des polnischen Experimentalfilms in drei Phasen und sechs Kapiteln. Die erste Station in Warschau umfasste 42 Archivfilme der 1960er und 1970er Jahre, in Verbindung mit einigen Exemplaren des fast musikalisch zu nennenden abstrakten Films der 1920er Jahre. Sie wurden flankiert und kommentiert durch neun Arbeiten aktueller Künstler und Künstlerinnen aus verschiedenen Ländern von 1994 bis heute. Analytische Strategien, spielerische Beteiligung, der politische Film, Bild- und Tonexperimente, Phantasie und die Konsumption der Dinge sind die sechs Kapitel, mit denen eine ganze Bandbreite des polnischen Films vom strukturellen Ansatz über soziale Kontexte, von der Affirmation der Warenwelt bis zum Nihilismus des Punk vorgeführt wird. An den folgenden Ausstellungsorten – dem Künstlerhaus Stuttgart und der sala rekalde in Bilbao – variiert die Auswahl der Filme je nach ortsspezifischem Kontext. Der lesenswerte Reader versammelt ausführliche Informationen über Hintergründe und Zusammenhänge des polnischen Experimentalfilms sowie dezidierte Interpretationen und Reflexionen, beispielsweise zur Geste und zum Genre, neben einem ausführlichen Kompendium der ausgestellten Filme und Bildstrecken der jüngeren, internationalen Künstler.
In den 1970er Jahren kam die Rede vom »Ende der Geschichte« auf und ließ in Polen vom Niedergang der staatstragenden großen Erzählung träumen. Die Filmer wandten sich dem Material selbst zu und zerbrachen die narrativen Muster mit der Hoffnung auf eine hierarchiefreie Kommunikation. Der avantgardistische Film schuf eine experimentelle, sich neu erfindende Formensprache, die im polnischen Konstruktivismus und der konkreten Musik wurzelte. Sie zielte auf eine direkte Kommunikation mit dem Betrachter. Die Prinzipien der Formbildung wurden verändert und das gesamte narrative Gefüge in Frage gestellt, ohne den gesellschaftlichen Bezugsrahmen aus dem Auge zu verlieren. So geschehen in der legendären »Warszat Formy Filmowej« (Werkstatt für Filmform, 1970–1976) in Lódz, die viele künstlerische Impulse für eine Öffnung der Filmsprache gab und in staatskritischer Haltung auf das politische System einwirken wollte. Diese Arbeiten sind in der Ausstellung zu sehen. Daneben informiert der Katalog über die Gruppe »Proagit« und ihre utopistische Multi-Media-Performance »Think Communism«, die zur Reform des Systems in den Räumen der Zensurbehörde aufgeführt wurde – und danach niemals wieder. Oder über einen Kulturdirektoren und Parteimitglied wie Anastazy B. Wisniewski, der in seiner Funktion als Künstler und Erfinder der Yes Gallery dem Staatsapparat durch öffentliche neo-dadaistische Aktionen das Wasser abgrub.
Es heißt, ideologische Sprache sei keine künstlerische Sprache. Die Syntax der Propaganda, so lässt sich in der Ausstellung nachvollziehen, wurde in ihre Einzelteile zerlegt, indem nicht nur Inhalte durch formale Eingriffe entleert, transformiert und zerstückelt, sondern auch die Art und Weise der Formierung zur Debatte gestellt wurden. Es blieb nicht beim spielerischen Formalismus, sondern Interaktion, Happening, Partizipation, Prozessivität, Kommunikation und die für außerkünstlerische Kreise »offene Form« (nach dem finnischen Architekten Oskar Hansen, 1922-2005, der in Polen lehrte und in Katalog wie Ausstellung eingehend gewürdigt wird) konnte für wenige Jahre zur Maxime der Praxis auch von polnischen Filmemachern und Künstlern werden.
Nach den hiesigen blutleeren Debatten um Formalismen in der aktuellen Kunstentwicklung bringt »1,2,3 … Avant-Gardes« eine materialreiche Ausstellung in die Diskussion ein, die ihre politische Position im Wunsch nach mehr Avantgarden und mehr offenen Formen formuliert. Sie verstrickt sich dabei in die reizvollen Widersprüche einer linear-geschichtlichen Erzählung einerseits wie die heterogene, nicht überschaubare Sammlung und Präsentation der Filme andererseits und zeigt: Archiv und Wirklichkeit stehen zueinander wie Hase und Igel – wann immer die Wirklichkeit Einzug hält, war das Archiv bereits da. Denn das Archiv als Leitfaden der Ausstellung treibt diesseits des dokumentarischen Vergleichs zwischen Neuem und Altem die Erinnerung und die Geschichtlichkeit erst hervor. Es gibt heute eine Bewegung, die sich um die Zeitschrift »Krytyka Polityczna« herum gruppiert hat. Sie wird getragen von Künstlern, Literaten und Intellektuellen (unter anderem Pawel Althamer, Artur Zmijewski und Wilhelm Sasnal), die versuchen eine vielstimmige Opposition gegen die national-religiöse Entwicklung der polnischen Regierungspolitik um sich zu sammeln. Die Situation in Warschau ist beeindruckend lebendig, kritisch und aufgeschlossen für neue Impulse – eben »1,2,3 … Avant-Gardes«.
Künstlerhaus Stuttgart, 8. Juni bis 8. Juli 2007
sala rekalde, Bilbao, 21. Dezember 2007 bis 24. Februar 2008, Reader im Sternberg Verlag.