Heft 2/2007 - Netzteil
Die vernetzte Welt ist zugleich in sich zersplittert. Digital Divide nennt sich die soziale, ökonomische, technologische und geografische Spaltung des Zugangs zum Datenverkehr. Die Gräben verlaufen quer durch die Industriestaaten, vor allem aber zwischen Nord und Süd. Noch der Regional Code für DVDs trennt Europa von Afrika. Inzwischen werden in den um Open Source und Creative Commons organisierten Copyleft-Bewegungen die vorrangig eurozentrisch ausgerichteten Fragestellungen kritisch reflektiert. Das kontinentübergreifende Copy/South-Dossier (http://www.copysouth.org) ist hierfür ein Dokument.
»Wie viele Webseiten über Afrika werden wir schaffen? Was haben wir für uns selbst mitzuteilen? Was können wir den Rest der Welt lehren? Das ist wichtiger als die eigentliche Technologie«, bemerkt der nigerianische Filmemacher Ola Balogun im Dokumentarfilm »Afro@Digital« und beschreibt einen Kontinent eklatanter Unterschiede: »Es gibt hauptsächlich zwei Afrikas, Seite an Seite: Da ist die Klasse der Eliten, die ins Ausland reist, die Zugang zu modernen Dingen hat, nahezu durchgängig Stromversorgung, Telefone in ihrer Wohnung, die ins Internet kann, Digital-Fernsehen via Satellit schaut. Und da ist das Afrika in abgeschiedenen Gegenden, in Dörfern und auch am Rand der Städte, die keine Elektrizität oder fließendes Wasser haben, kein Telefon in naher Zukunft, die gelegentlich Fernsehen schauen, ohne in die neueste Technologie eingeklinkt zu sein. Sie hören alles nur als entfernte Gerüchte.«
Schwelle
Bekanntlich soll es in Manhattan mehr Telefonanschlüsse geben als in Afrika südlich der Sahara. Doch gilt dies im Zeitalter der mobilen Telefonie und fortschreitender Digitalisierung? Der Sturm auf die in Marokko gelegene spanische Enklave Ceuta wurde von Flüchtlingen aus dem Süden per Handys koordiniert. Die Mobiltelefone wiesen ihnen als Werkzeuge der Migration die Route Richtung Europa und wurden prompt durch die lokale Polizei konfisziert. Wer also steht da eigentlich am Graben und unterscheidet zwischen den »digital haves« und »have-nots«? Rupert Scheule bemerkt in der Auftaktdiskussion zum Buch »Vernetzt gespalten«, »ob nicht auch notwendig unser Digital-Divide-Diskurs Teil der bannenden Option ist, die er kritisiert«?
Dem verbreiteten Afro-Pessimismus zuspielenden Bild der Abgespaltenheit kann man entgegensetzen, dass die Vernetzungsrate des Globalen Südens (Mobiltelefone, Internetcafés, WiFi, WiMax) gerade im Vergleich zu erdgebundenen Infrastrukturen, die zumeist noch aus der Kolonialzeit stammen (Telefon, Wasser, Strom, Straße, Schiene), steil nach oben weist. Die britische Vodafone International Holdings B.V. kaufte im Schwellenland Indien für umgerechnet 8,5 Milliarden Euro zwei Drittel des indisch-hongkongchinesischen Anbieters Hutchison Essar Ltd und ist somit zu einem der größten Anbieter des Subkontinents emporgeschossen. Abgesehen von China wächst kein anderer Markt mit monatlich 6,5 Millionen neuen Mobilfunk-NutzerInnen so rasch. Bisher haben hier nur 13 Prozent ein Mobiltelefon, doch die Regierung rechnet mit rund 500 Millionen HandybesitzerInnen schon im Jahr 2010.
Mobiltelefon statt Land Line
In Afrikas drittgrößter Stadt Kinshasa unterhält die nationale Telefonfirma gerade einmal 10.000 Festnetzanschlüsse, sodass die über acht Millionen EinwohnerInnen jenseits des alten kolonialen Zentrums nicht ans Festnetz angeschlossen sind. Die Einführung der Prepaid-Telefonkarten hat den Boom der Telefonie ungemein beschleunigt. Ihre simple Bezahlmethode verspricht auch im Süden Profite und lehnt sich zugleich der Praxis des Straßenverkaufs von Alltagsgütern an, welche in Tag-für-Tag-Portionen ausliegen. So werden selbst Tomatenmarkdosen in drei Teile zersägt und Reis in kleine Beutel umgepackt, weil das Geld oftmals nur für diese eine Portion reicht. Dank Prepaid-Karten für wenige Gesprächsminuten können sich fast alle ein Telefonat leisten. Die Verfügbarkeit der Telekommunikation ist hier kein öffentliches Gut, sondern eingebettet in den flexiblen Kapitalismus afrikanischer Ausprägung.
2005 wurde das Minimum pro Kartenkauf von 20 auf nur mehr eine Minuten gesenkt. In den Armutszonen der »One-dollar-a-day«-Ökonomien garantieren solche Telefonkarten den direkten Cashflow, da das vor zehn Jahren eingeführte Prepaid-Prinzip keine komplizierten Abrechnungsmodi, Abonnements, Adressverwaltungen, Konten oder Subskriptionen benötigt. So lagern die Telefonunternehmen den Vertrieb auf die Kartenverkäufer in der Stadt aus, für die dies wiederum ein Einkommen bedeutet. In den Maisons de communication kann man Telefonate per kurzfristig ausgeliehenem Handy führen, sich eigene Prepaid-Telefonkarten kaufen oder deren Guthaben neu auffüllen. Die Ladenbesitzer nutzen die Kundenströme für den Verkauf oder die Reparatur von Telefonen, für Fotoservice oder als Friseursalon, Stuhlverleih, Drogerie und Lebensmittelladen. Auf individuelles Risiko hin sind diese Häuser entstanden; erst dann traten die Telefonfirmen auf den Plan. Während Vodafone Farben zum Hausanstrich für die Kennung der jeweiligen Corporate Identity spendierte, stiftet Celtel stationäre Verkaufstische, die dann oftmals individuell beschriftet werden. Weiterhin teilte Celtel den VerkäuferInnen grellfarbene Overalls aus, mit denen diese auffällig mitten im Straßenverkehr stehen.
Die »technologische Einfachheit« – so Sabine Müller und Andreas Quednau in ihrer Feldforschung zu Kinshasa – stützt die Expansion: Man ist nicht auf Erdkabel, Stromversorgung oder feste Straßen angewiesen, sondern auf die Verkehrsströme der Kundschaft. 50.000 Dollar kostet eine Antenne, welche nur wenig Platz braucht (small footprint), per Mikrowelle mit anderen Masten verkoppelt ist und zunehmend von Diesel auf servicefreundliche Wind- und Solarenergie umgestellt wird. Tina Clausmeyer fand im Zuge ihrer ebenfalls durch die Jan van Eyck ermöglichten Studie heraus, dass Mobiltelefone den Schürfern und Zwischenhändlern von Diamanten erstmals eine globale Marktübersicht ermöglicht: So rufen sie Landsleute in Kinshasa – Zentrum der Zertifikation und des Versands – oder gleich in Antwerpen an: Hier werden ca. 80 Prozent der im Kongo geschürften Rohdiamanten geschliffen. Und erfahren die Wertsteigerung ihrer Arbeit. Manche Schürfer suchen seither zumindest den Zwischenhandel zu umgehen.
my iLife
Zugang zu Wissen und Kultur, welche mehr und mehr digitale Form annehmen, erscheint existenziell. Das alltägliche Leben des Nordens ist vom Terminkalender über Kontakte bis zum Musik- und Videokonsum und dem Zeitungslesen zunehmend digital eingebettet. Apple hat dafür den Markennamen iLife geprägt. Nun stehen Millionen von so genannten »100-Dollar-Laptops« mit Open-Source-Software kurz vor der Auslieferung, um Kindern und Jugendlichen auch im Globalen Süden kostenlosen Zugang zum weltweiten Netz zu ermöglichen. Das Projekt aus dem Umfeld der Forschungsschmiede MIT soll Teilhabe an der globalisierten Welt ermöglichen. »Wir wissen, dass viele Afrikaner das Internet nicht nutzen können … Ich denke deshalb an das Auftreten von ›Vermittlern‹, welche in Afrika neue Jobs schaffen könnten. Sie werden die ›Dorflehrer‹ des 21. Jahrhunderts bilden – computergebildete Leute im Feld«, skizziert Mactar Sylla, Leiter des senegalesischen Rundfunks, in »Afro@digital« seine Zukunftsperspektive.
Besonders nördlich des digitalen Grabens werden Stimmen laut, welche die Versorgung mit Nahrung oder Trinkwasser für wichtiger erachten. Ganz davon abgesehen, dass es hier nicht um die Alternative Laptop oder Wasser geht, sondern allenfalls Computer plus der Option, sich damit neue Quellen zu erschließen, schwingt hierbei der überhebliche Unterton mit, was denn Menschen in den Slums von Libyen bis Brasilien mit einem Computer anfangen sollten. Bei Feldversuchen hat sich allerdings gezeigt, dass die Nachwuchs-UserInnen das per Kurbel mit Strom zu versorgende Gerät auch entgegen der Gebrauchsanweisung zu nutzen wussten und dank Bildschirm Licht in ihre stromlose Hütte brachten. Noch nicht abzusehen ist, was passiert, wenn Millionen per Funk miteinander verbundene Kids ihre Weltsicht verbreiten – oder als outgesourcte Billiglöhner für Konzerne Daten tippen.
Afro@Digital
»Warum sprechen wir über neue Technologien auf einem Kontinent, wo Menschen schlafen und aufwachen mit dem Terrorismus der Armut?« So beginnt die Videoreportage »Afro@Digital« des im kolonisierten Belgisch-Kongo geborene Filmemachers Balufu Bakupa-Kanyinda – einem Land, in dem der Rohstoff für die Atombomben wie auch das Mineral für Handys, DVD-Player oder Game-Konsolen geschürft wird. »Der Preis von Koltan stieg mit der digitalen Revolution: Das trug zum Krieg im Kongo bei.« Der Regisseur besuchte eine Vielzahl von FilmemacherInnen, MusikerInnen, ProgrammdirektorInnen und IngenieurInnen, die sich in einem neuen Afrika bewegen.
»Früher lief die Kommunikation per Post … Ein Brief hat 15 bis 20 Tage gebraucht, Antworten verzögerten sich … Meine Kunden überall auf der Welt können mich per Handy rasch kontaktieren. Man erreicht Europa in zwei Minuten. Direkt.« So beschreibt ein islamischer Geistlicher aus Burkina Faso den Wandel. »Der erste Anruf in Afrika, so um 1986 oder 1987, wurde durch das Telecel-Netzwerk von Kinshasa getätigt – Telecel Zaïre zu der Zeit«, so Alexandre Kande Mupompa, Direktor von Telecel in Burkina Faso, über den Zeitpunkt des Wandels. »In unserem Land ist die Warteliste für einen Festnetzanschluss lang. Die GSM-Technologie ist eine rasche Antwort. Und trägt dazu bei, unsere Leben zu revolutionieren. Die Leute können sich rasch anmelden und anschließen. Es ist universell anschlussfähig und ein radikaler Wandel im alltäglichen Leben.«
Mactar Sylla, der schlaue Direktor für TV und Radio Senegal, spricht von Handys, wenn er an künftige Fernseher denkt. Doch »Telekommunikation ist in Afrika nicht zuverlässig und vergleichsweise teuer. Wenn Sie heute hinausfahren, dann können die Leute mit ihren Landsleuten, mit ihren Kindern, ihren ausgewanderten Verwandten kommunizieren. Das bringt die Leute viel enger zusammen.« Das digitale Leben spart Zeit und Geld: »Wir haben ernsthafte Probleme mit grundlegender Infrastruktur, mit Reisen, Kommunikation … Doch mit Internet, Videokonferenzen und anderer digitaler Technologie kann man im Grunde genommen auf gleicher Höhe zur gleichen Zeit kommunizieren. Das bedeutet die Reduktion operativer Kosten: Als Leiter eines Unternehmens mit neun regionalen Radiostationen und 15 nationalen Sendeanstalten bin ich in der Lage, mit allen meinen MitarbeiterInnen via Internet in Kontakt zu treten, und das bedeutet eine drastische Reduktion der Kommunikationskosten.«
»Nollywood«
Wovon die Filmindustrie des Nordens noch träumt, ist in Westafrika längst Realität: Die komplett digital produzierende und distribuierende »Nollywood«-Filmindustrie – zukunftsweisend mit DigiCams aufgenommen und auf DVDs oder VCDs sowie in Beamer-Kinos massenhaft vertrieben – versorgt von Lagos aus die dicht besiedelte Küstenregion Westafrikas sowie die Diaspora in Übersee. Nigerias Filmindustrie stellt – nach »Bollywood« und »Hollywood« – die drittgrößte Produktionsregion der Welt dar und wird auf den gleichen Märkten verbreitet wie die so genannten Raubkopien von Musik, Film oder Software, bei denen das globale Copyright-Regime unterlaufen wird.
»Nollywood« ist ein Vorreiter des digitalen Umbruchs im Filmbereich. Die jungen afrikanischen Filmemacher Alain Gomis und Newton Aduaka schwärmen von der (kosten)befreienden digitalen Videotechnologie, während Charles Mensa, Leiter des Nationalen Cinematographischen Zentrums in Gabun, von der Zeitersparnis gegenüber chemischem Film spricht: »Es ist großartig, nicht mehr 72 Stunden auf die Rushes in den Filmlaboren warten zu müssen, um zu wissen, ob es ein Problem gab.«
»Wir können mehr Kameras haben, und mehr Imagination«, beschreibt Regisseur Georges Kamanayo auch die Hoffnung auf Unabhängigkeit von Finanzgebern des Nordens oder den staatlichen Einrichtungen des Südens. »Wir haben ein Problem mit der Industrie, aber Afrika hat hier auch ein paar Karten im Spiel, denn wir haben originäre Dinge zu erzählen. Digital erlaubt uns, auf faire Weise zu partizipieren, denn es bietet viele Facetten«, resümiert Mactar Sylla. In einen analogen Kanal fänden nunmehr gleich ein Dutzend digitaler Kanäle Platz. »Manche denken, das ist ein Fluch für Afrika, denn der Kontinent produziert nicht genug. Doch es könnte auch als Chance angesehen werden, denn alle müssten mit allen möglichen Ansätzen und Themen umgehen. Afrika muss sich mit seinen Belangen befassen und eine afrikanische Vision der Dinge vom Fortschritt der Welt geben.«
Agency/Tina Clausmeyer/Wim Cuyvers/Dirk Pauwels/SMAQ (Sabine Müller/Andreas Quednau)/Kristien Van den Brande, BRAKIN. Brazzaville – Kinshasa. Visualizing the Visible, Basel/Maastricht 2006; siehe die Besprechung im Lektüre-Teil dieses Heftes.
Balufu Bakupa-Kanyinda, Afro@Digital, Kongo/Frankreich 2003, http://www.newsreel.org
Rupert M. Scheule/Rafael Capurro/Thomas Hausmanninger (Hg.), Vernetzt gespalten. Der Digital Divide in ethischer Perspektive, München 2004.