Während sich das westliche demokratische System dem Rest der Welt gegenüber immer noch als modellhafte Vorgabe begreift, hat es intern mit allen möglichen Herausforderungen zu kämpfen. Einige dieser Infragestellungen rühren von Überlegungen zu (Staats-)Bürgerschaft beziehungsweise den damit verbundenen Exklusivrechten her, andere von generellen Zweifeln am System der repräsentativen Demokratie. Ein noch fundamentalerer Angriff kommt hingegen seit geraumer Zeit aus dem Lager einer Machtelite, die sich selbst zum Bewahrer »echter« demokratischer Werte ernannt hat. Jacques Rancière bringt, indem er sich dieser Position kritisch entgegenstellt, zur Sprache, worin ein aktuelles Verständnis »des Politischen« bestehen könnte. Im Zuge dessen versucht er, das demokratische Prinzip möglichst umfassend zu definieren – eine Verteidigung, deren Stoßrichtung auch für kritische Kunst und neue Modelle politischer Bildung von Relevanz ist.
Christian Höller: Sie haben sich zuletzt stark mit den Tendenzen eines antidemokratischen Denkens befasst, das heute mehr und mehr im öffentlichen Diskurs auftaucht.1 Ausgangpunkt der Auseinandersetzung war aber nicht so sehr die »antiwestliche« Ausprägung dieses Denkens (etwas, woran uns die Medien in den letzten Jahren zunehmend gewöhnt haben), sondern vielmehr eine gewisse antidemokratische Strömung im Herzen der sogenannten westlichen Demokratien selbst. Hier ist es nicht zuletzt das Milieu früherer linker beziehungsweise postaufklärerischer (französischer) Intellektueller, von denen dieses Sentiment ausgeht. Warum, glauben Sie, kommen solch aggressive Angriffe auf die Demokratie gerade aus diesen Zirkeln?
Jacques Rancière: Selbstverständlich gibt es viele Formen antidemokratischen Denkens, und aus einer globalen Perspektive mag der islamische Fundamentalismus weitaus schwerwiegender sein als die kleine Gruppe westlicher Intellektueller, gegen die ich mich wende. Aber ich konzentriere mich auf diese Spielart des antidemokratischen Denkens, da sie mir besonders am Herzen liegt: Sie rührt aus dem Zentrum unserer eigenen »Demokratien« her, und zwar von DenkerInnen, die aus der marxistischen oder progressiven Tradition stammen. Der Verlust jeglicher revolutionären Hoffnung hat in ihnen ein Gefühl der Nostalgie, aber auch des Ressentiments hervorgerufen, woraus eine Art doppeltes Spiel entstand: Zum einen lehnen sie die Demokratie ab, da sie zur progressiven Tradition gehört, deren höchste Ausformung der Marxismus war. Schließlich geht ihrer Ansicht nach der Gulag auf die Französische Revolution zurück. Zum anderen berufen sie sich in ihrer Ablehnung auf genau diese marxistische Tradition, indem sie die »bürgerliche Demokratie« auf nichts anderes als die Herrschaft der Warenform reduzieren.
Höller: Angriffe auf das demokratische Denken kommen gegenwärtig aus diversesten Richtungen. Da gibt es zunächst Gottesmenschen unterschiedlicher Couleur, von denen, die auf der Suche nach einem »neuen Hirten« sind,2 über die Korangläubigen bis hin zu denen, die den Dekalog weltweit durchsetzen wollen. Eine starke Infragestellung geht auch von den eher profanen VertreterInnen oligarchischer Interessen und den ProponentInnen einer ungehinderten Zirkulation des Kapitals aus. Lassen sich diese unterschiedlichen Haltungen auf so etwas wie eine gemeinsame antidemokratische Basis zurückverfolgen? Oder ergibt sich daraus vielleicht sogar eine Art Patchwork, das umso gefährlicher ist, als hier radikal verschiedene Kräfte an einem gemeinsamen Strang ziehen?
Rancière: Es ist nicht wahrscheinlich, dass westliche FinanzoligarchInnen, muslimische FanatikerInnen, amerikanische EvangelistInnen, französische „neue PhilosophInnen“ und afrikanische Militärdiktatoren ihre Kräfte bündeln, um an einem gemeinsamen antidemokratischen Strang zu ziehen. Aber der Punkt ist der, dass sie gleichsam konspirieren, um die politische Bedeutung der Demokratie herabzusetzen. Die meisten von ihnen sehen in ihr bloß einen Zustand der Gesellschaft, der von Individualismus, Konsumismus, dem »Verlust des sozialen Zusammenhalts« et cetera geprägt ist. Und jene, die sie verteidigen, verteidigen sie einzig und allein als Regierungsform, die am besten auf die Macht des freien Marktes abgestimmt ist. Aber sie lehnen die Demokratie als die Macht, die von irgendjemandem, egal wem, ausgeübt wird, ab. Ihre Demokratie ist in Wirklichkeit eine Oligarchie, die von ExpertInnen angeführt wird und gegen eine Demokratie verteidigt werden muss, die entweder als Herrschaft des Mobs oder als Imperium des Individualismus erscheint.
Höller: Sie beziehen sich auf einen zwiespältigen Diskurs, der sich in der westlichen Welt immer größerer Beliebtheit erfreut. Zum einen wird die Demokratie dabei als – bisweilen rein rhetorischer – Schutzschild gegen Tyrannei, Barbarei und Totalitarismus ins Treffen geführt. Was darauf hinausläuft, dass man sie dem Rest der Welt »liefern« muss, und sei es mit Bomben. Zum anderen stellt sie für die oligarchische Elite schlicht und ergreifend ein Ärgernis dar, und damit ist der Exzess des »demokratischen Lebens« gemeint, die Verfolgung von allerlei Partikularinteressen durch radikal verschiedene Subjekte und Gesellschaftsteile. Wie kam es zu dieser Spaltung des Demokratiediskurses, und was hat dazu beigetragen, dass sie über die Jahre noch mehr auseinanderzuklaffen begonnen hat?
Rancière: Dieser zwiespältige Diskurs ist so alt wie die Demokratie selbst. Was wir politische Institutionen oder das politische Leben nennen, ist in Wirklichkeit die Verknüpfung zweier antagonistischer Prinzipien: des Prinzips der »Polizei«, dem zufolge die Macht einzig jenen zusteht, die dazu aufgrund bestimmter Qualitäten oder Fähigkeiten berechtigt sind; und des eigentlichen politischen Prinzips, dem zufolge die Macht grundsätzlich niemandem zusteht, dass »Politik« vielmehr die spezifische Macht all jener bedeutet, die keine Qualifikation dafür haben. Nach der Englischen, der Amerikanischen und der Französischen Revolution wurde es zu einer Art Allgemeinplatz, dass Politik die Macht des Volkes bedeute, aber zugleich musste diese Macht des Volkes vor den »Launen« beziehungsweise dem »Unwissen« des Volkes beschützt werden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Rollen neu verteilt. Einerseits erlegt der Triumph des Weltmarktes der Macht des Volkes neue Einschränkungen auf. Die Anpassung der Nationalstaaten an das globale Gesetz der Zirkulation von Reichtum scheint heute oberste Priorität für unsere Regierungen zu haben und wird als zu ernst eingeschätzt, als dass man sie der Macht der »Multitude« überlassen sollte. Andererseits bedrohen religiöse Fanatismen und Diktaturen, die sich einst als Bastionen des Antikommunismus großer Unterstützung erfreuten, ihre früheren Beschützer in zunehmendem Maße. Deshalb beklagen diese Regierungen die Risiken, die aufgrund des demokratischen Lebens im eigenen Land erwachsen, und versuchen gleichzeitig, die Demokratie in jene Länder zu exportieren, in denen sie vor Kurzem noch Diktatur und Islamismus unterstützt haben.
Höller: Der demokratische Mensch wird heute gerne, wie Sie schreiben, als »junger, idiotischer Konsument von Popcorn, Reality-TV, Safe Sex, Wohlfahrt und des Rechts auf Differenz sowie als Anhänger von antikapitalistischen und ›antiglobalistischen‹ Illusionen«3 porträtiert. Aus diesem Befund ließe sich folgern, dass die Demokratie einer größeren zivilisatorischen Katastrophe gleichkommt, der an allen möglichen Fronten entgegengetreten werden muss. Klingt in diesem Denken nicht so etwas wie ein Nachhall beziehungsweise eine Reaktion auf den Mai ’68 und diverse Befreiungsbewegungen an? Oder gilt diese Diagnose ausschließlich der Jetztzeit und wurde für diesen speziellen historischen Moment erdacht?
Rancière: Der Punkt ist der, dass die Diagnose der Demokratie als Aufruhr des Volkes und individueller Konsumismus so alt wie Platons Staat ist. In der Moderne wurde diese Sichtweise durch die konterrevolutionäre Interpretation der Französischen Revolution wiederbelebt. Sie beschuldigte die demokratische Revolution, dass sie die Herrschaft der alten sozialen Institutionen und Autoritäten zerstört und sowohl den Individualismus als auch die Macht des freien Marktes entfacht habe. Der Triumph von Individualismus und Konsum, die Gleichsetzung der Demokratie mit dem Exzess individueller Begehrlichkeiten, ist ein Gemeinplatz, der sich über die Jahrhunderte hinweg – im Gegensatz zu den beklagten Formen des Konsums – nicht wesentlich verändert hat. Der Mai ’68 wird gerne herbeizitiert, um in einem Atemzug soziale Kämpfe, politische Forderungen nach mehr Demokratie, sexuelle Freiheit, Minderheitenrechte und vieles mehr zu diskreditieren.
Höller: Ein besonders auffälliges Symptom des gegenwärtigen antidemokratischen Denkens scheint in der historischen Rolle zu liegen, die dem Holocaust zugeschrieben wird. Für einige französische Intellektuelle wie auch für die IdeologInnen des amerikanischen Neokonservativismus existiert eine – zuweilen recht brachial konstruierte – Verbindung zwischen demokratischer Moderne und der Auslöschung der Juden. Auf welche Weise wird hier die Schoah, die ja einen zentralen historischen Einschnitt bildet, dafür instrumentalisiert, die Exzesse und die desaströse Freizügigkeit der Demokratie abzutun?
Rancière: Die meisten Intellektuellen sind offensichtlich nicht in der Lage, Politik unabhängig von einer Auslegung der Geschichte allgemein und der Moderne im Besonderen als Prozesse, die auf einen radikalen Bruch oder ein einschneidendes Ereignis hin ausgerichtet sind, zu denken. Lange Zeit hat die soziale Revolution die Rolle dieses Ereignisses, das die historische Entwicklung der Moderne bestimmt, gespielt. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums trat der Holocaust an die Stelle der Revolution, was gleichzeitig bedeutete, dass das messianische Ereignis, das eine Fortschrittsgeschichte ermöglichen sollte, zu einer Katastrophe herabgestuft wurde, die einzig eine Verfallsgeschichte befördert hat. Auch diese Sichtweise von Verfall und Katastrophe geht auf die konterrevolutionäre Tradition zurück. Ich habe zuvor von der Tradition gesprochen, welche die Aufklärung und die Französische Revolution als Triumph des Individualismus betrachtet. Der Individualismus soll angeblich die in Gesellschaft und Geschichte verwurzelten gemeinschaftlichen Strukturen aufgebrochen und dadurch den Ausbruch des Terrors befördert haben. Genau dieses Schema hat etwa Jean-Claude Milner in seinem Buch »Die kriminellen Tendenzen der europäischen Demokratie«4 wiederbelebt, wobei er als Grundlage die Lacan’sche Theorie der symbolischen Ordnung hernimmt. Demzufolge sollen die Juden deshalb ausgelöscht worden sein, weil sie gegenüber der Demokratie die Macht der Tradition und der Überlieferung verkörperten. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Sichtweise den Nazismus gleichsam in ein Instrument der modernen Demokratie verwandelt.
Höller: Teil Ihrer Argumentation ist, dass die gegenwärtige Angst und Ablehnung der Demokratie auf eine viel grundlegendere Problematik verweisen, die das Wesen der Politik beziehungsweise des Politischen allgemein betrifft. Wie Sie in Ihrem Buch »Das Unvernehmen«5 ausgeführt haben, besteht Politik primär in der Geltendmachung eines »Anteils der Anteillosen«, also jener, denen bislang keine Teilhabe am gemeinsamen Wohlergehen gestattet war. Befördert dieses spezielle Moment, das man auch als Forderung nach der Einbeziehung der bislang Ausgeschlossenen in das politische Leben interpretieren könnte, das gegenwärtige Ressentiment gegenüber dem demokratischen Prozess? Oder geht das Ressentiment noch tiefer, nämlich in Richtung einer völligen Ablehnung des Demokratieprinzips?
Rancière: Wenn ich sage, dass Politik der Anteil jener ist, die keinen Anteil haben, sollten zwei Dinge unterschieden werden: Zum einen gibt es die Aktivität von gesellschaftlichen Gruppen, die nach Teilhabe verlangen, weil sie aus der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen sind. Zum anderen sollte man bedenken, dass Politik nicht einfach in der Neuverteilung der Anteile verschiedener sozialer Gruppen besteht. Vielmehr ist sie die Verwirklichung der Macht all jener, die keiner speziellen Gruppe angehören, die kollektive Fähigkeit jener, die keine spezielle Fähigkeit haben – kurzum: die Macht, die von irgendjemandem, egal wem, ausgeübt wird. Die zunehmende Verwicklung von Staatsoligarchien und Marktoligarchien macht es notwendig, dass diese Macht striktest der Macht der Wirtschaftswissenschaft und den auf ihrer Expertise beruhenden Verhandlungen unterworfen wird. Diese »Macht der Wissenschaft« ist auf eine winzige Gruppe beschränkt, was ein Ressentiment aller übrigen Intellektuellen hervorruft. Aber dieses Ressentiment wird auf eine Weise zum Ausdruck gebracht, dass die besagte Macht dadurch noch weiter bekräftigt wird: Die Intellektuellen, die von jeder wirklichen Einflussnahme ausgeschlossen sind, kompensieren ihre Erniedrigung, indem sie den alten Elitediskurs über die Gefährlichkeit des ignoranten Mobs und den Egoismus der demokratischen Individuen wiederbeleben.
Höller: Indem Sie auf die grundlegendere Bedeutung von Demokratie und Politik verweisen, wird klar, dass Demokratie weder eine Regierungsform noch eine Form von Sozialleben ist. Vielmehr ist sie, wie Sie sagen, die Rolle, die jede und jeder im politischen Leben spielen kann – »all jene, die keine wie immer geartete Eigenschaft aufweisen, die sie mehr zum Regieren als zum Regiert-Werden befähigen würde«6. Würde diese radikale Absenz jeglicher Ermächtigung, zu regieren (sei es durch Geburt, Reichtum oder Glauben), gesellschaftlich anerkannt beziehungsweise umgesetzt – etwas, wovon wir heute weit entfernt sind –, sähe das politische Leben vermutlich gänzlich anders aus. Worin, glauben Sie, würde eine solche Umsetzung resultieren, außer in einer allgemeinen »Unregierbarkeit«?
JR: Ich prognostiziere keine Zukunft, in der dieses Prinzip vollständig akzeptiert oder umgesetzt wird. Ich schlage auch kein Programm für die Zukunft vor, sondern Werkzeuge und Maßnahmen, mit denen wir die gegenwärtigen Verhältnisse besser einschätzen und den Bereich des Möglichen ermessen können. Wir leben in einer Welt, in der Politik und Polizei, Gleichheit und Ungleichheit auf vielfältigste Weise miteinander verwoben sind. Es geht nicht darum, eine Welt zu entwerfen, in der alle diese Verwicklungen beseitigt wären, sondern darum, Werkzeuge bereitzustellen, welche die beiden Prinzipien entwirren helfen und die Macht der »Unregierbarkeit« in der Gegenwart zur Geltung bringen. Die Zukunft sollte uns eher als das Resultat von Möglichkeiten, die in der Gegenwart geschaffen werden, und von Fähigkeiten, die es heute zu verbessern gilt, erscheinen denn als Zielsetzung, von der abhängt, was in der Gegenwart zu tun ist.
Höller: Politisches Handeln besteht Ihrer Konzeption des demokratischen Prozesses nach darin, die Ansprüche jener geltend zu machen, die bis dato nicht als legitime politische Subjekte (etwa MigrantInnen, Asylsuchende oder Menschen ohne Arbeitserlaubnis) angesehen wurden. Dies zielt zweifellos auf eine Ausweitung der politischen Sphäre, gleichzeitig bleibt zu fragen, ob dadurch Politik nicht in völlig anderen Terrains als der traditionellen politischen Arena situiert wird – Bereichen des zivilen oder kulturellen Lebens etwa. Auf all diesen verstreuten »Bühnen des Politischen« scheint sich die Politik immer weiter von den Orten der tatsächlichen Entscheidungsfindung zu entfernen.
Rancière: Ich vertrete keine Sichtweise der Politik, die sie auf die Ansprüche von AußenseiterInnen reduziert. Der Anteil der Anteillosen ist nicht einfach die Miteinbeziehung von AsylbewerberInnen oder SchwarzarbeiterInnen. Politik besteht nicht darin, die Ausgeschlossenen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Vielmehr geht es darum, das Problem des Ausschlusses in Form eines Konflikts, als Gegensatz zwischen verschiedenen Welten zu inszenieren. Die Logik unserer Welt tendiert dahin, dass alle Hindernisse für die Zirkulation von Reichtum beseitigt werden müssen, während das Zirkulieren von Personen streng kontrolliert werden muss. Es sind die gleichen Mächte, welche die Grenzen dem Kapital öffnen und den Armen verschließen. Genau dadurch entsteht eine Verbindung zwischen der Auseinandersetzung um Immigration und Kämpfen um den Abbau des Sozialsystems, um Reformen des Beschäftigungsgesetzes oder des Ausbildungssystems, das einzig auf dem Gesetz des Marktes beruht. In all diesen Bereichen gibt es eine Topografie des Möglichen, über die von nationalen und internationalen Mächten entschieden wird, und es gibt Formen einer Neukonfiguration des Möglichen, die auf die Initiative von ArbeiterInnen, StudentInnen und anderen zurückgeht, die den Anteil all jener verkörpern, die keinen Anteil haben. Das Problem liegt nicht so sehr in einer Dezentrierung der politischen Sphäre als vielmehr in ihrer Erweiterung.
Höller: Ein einflussreicher Trend im gegenwärtigen Denken sieht die Souveränität heutiger Demokratien in einem allgegenwärtigen »Ausnahmezustand«, wobei das Lager, wie es heißt, den »nómos der Moderne« bildet und mehr oder weniger das ganze politische Leben (bíos) auf das »bloße Leben« (zoe) reduziert wird.7 Welche Rolle weist das demokratische Prinzip, wie Sie es verstehen, dem Begriff des bloßen Lebens zu? Stellt es tatsächlich eine Art unausweichliches Ziel dar, auf das jede Beteiligung am demokratischen Prozess zusteuert?
Rancière: Der Begriff des bloßen Lebens ist Hannah Arendt entlehnt, die ihn wiederum der aristokratischen Tradition entlehnt hat, der zufolge die politische Bühne für jene reserviert sein sollte, die frei von den Notwendigkeiten der Reproduktion und des Lebensunterhalts sind. Die Politik beginnt mit der Zurückweisung dieser Unterscheidung und der Bekräftigung, dass die Menschen, die »bloß« leben, sehr wohl an der Gestaltung der gemeinsamen Welt teilnehmen sollten und dass auch Angelegenheiten des bloßen Lebens – Beschäftigung, Sexualität, Gesundheit et cetera – kollektiven Überlegungen und Entscheidungen unterworfen sein sollten. Das demokratische Prinzip besagt, dass es keine Grenze zwischen dem bloßen Leben und dem politischen Leben gibt beziehungsweise dass diese Grenze selbst zu einem politischen Thema wird. Das Gesetz der Polizei ist kein »Ausnahmezustand«. Vielmehr ist es Teil der Politik, die darin besteht, dem Polizeigesetz ein Geflecht von Ausnahmen entgegenzusetzen.
Höller: Mit dem Begriff des bloßen Lebens verknüpft ist die angemessene demokratische Konzeption des »Volkes«. Von einer extremen Perspektive als Masse idiotischer, selbstgefälliger, egoistischer KonsumentInnen betrachtet, wird es von einer anderen als »Multitude« gepriesen, die die revolutionäre Hoffnung der Zukunft in sich trägt, oder schließlich, wie Deleuze dies tat, als ein leerer Signifikant postuliert, der etwas anzeigt, das »immer fehlt«. Wie unterscheidet sich das demokratische Denken Ihrer Idee nach von diesen drei Positionen beziehungsweise welche Rolle weist es »dem Volk« zu?
Rancière: Den ersten beiden Konzeptionen ist gemein, dass sie beide ein positivistisches Bild des Volkes haben. Sie sehen darin eine Form der Gesellschaft oder eine Entfachung der Produktivkräfte. Aus meiner Sicht ist »das Volk« der Demokratie keine soziale Gruppe und auch keine Akkumulation von Produktivkräften. Vielmehr wird es durch Subjektivierungsformen, durch die Konfiguration verschiedener Dissens-Szenarien geschaffen. Ein politisches Volk existiert nur, wenn es die polizeiliche Verteilung der Anteile, die verschiedenen Teilen der Gesellschaft zugestanden werden, aufbricht oder durcheinanderbringt. Es fehlt als gesellschaftlicher Körper, aber es existiert in der Gegenwart, indem es seinen eigenen Raum schafft. Es ist nicht das Volk einer »kommenden Demokratie«.
Höller: Im Hinblick auf die gegenwärtige politische Realität erklären Sie, dass »wir nicht in Demokratien leben, ebenso wenig wie in Lagern.«8 Heißt das, vom Lager beziehungsweise Ausnahmezustand einmal abgesehen, dass die Demokratie etwas ist, das noch nicht existiert? Oder heißt das, dass sie wie ein weichender Horizont zu begreifen ist, als etwas, das prinzipiell nicht einholbar ist?
JR: Die Demokratie erscheint nur dann als unerreichbare Zukunft, wenn wir sie als perfekte Staatsform oder als perfekten Zustand der Gleichheit begreifen. Aber das ist ganz und gar nicht meine Absicht. Meiner Ansicht nach lässt sich das »Noch-nicht« von einem »Bereits-jetzt-und-hier« nicht trennen. Die Demokratie existiert einzig aufgrund der ihr eigentümlichen Handlungen und aufgrund der Textur des gemeinsamen Lebens, das auf diesen Handlungen basiert. Sie ist nicht »prinzipiell unrealisierbar«. Vielmehr stellt sie ein Prinzip dar, von dem wir immer wussten, dass es mit seinem Gegenteil verwoben ist und dass es unaufhörlich gegen dieses Gegenteil ankämpft. Der Horizont der Gleichheit ist nicht etwas, das den Marsch in Richtung einer unerreichbaren Perfektion bestimmt, sondern das, was die Bühne bereitstellt, die unser Denken und Handeln ermöglicht.
Höller: Seit langer Zeit erleben wir Versuche, die Kunst beziehungsweise Kultur ganz allgemein zu demokratisieren. Demokratisierung bedeutet nicht nur, die Kunst zugänglicher zu machen oder die Barrieren zwischen High und Low niederzureißen, sondern sie auch effektiv zu politisieren. Wo müsste Ihrer Ansicht nach eine profunde Politisierung im Sinne einer Umsetzung des demokratischen Prinzips in der Kunst ihren Ausgang nehmen, nicht zuletzt auch um über eine bloße Thematisierung politischer Themen hinauszugelangen?
Rancière: Wir sollten anerkennen, dass die Kunst ihre eigene Politik hat – was sich nicht mit den Versuchen deckt, sie zu »politisieren«. Das Paradoxe am ästhetischen Regime der Kunst liegt darin, dass die Kunst eine politische Wirkung genau aufgrund der Abgekoppeltheit der ästhetischen Sphäre entfaltet – was nicht gleichbedeutend ist mit der »Autonomie« des Kunstwerks, da die Abgekoppeltheit dieses Erfahrungsbereichs mit dem Verlust jeglichen Unterscheidungskriteriums einhergeht, was als Kunst zu betrachten ist und was zum nicht künstlerischen Leben zählt. Die Gegenwartskunst zeichnet sich dadurch aus, dass diese disjunkte Verbindung zwischen ästhetischer Abgekoppeltheit und Nichtunterscheidbarkeit in künstlerischer Hinsicht Form und Inhalt der Kunst selbst wird. Das heißt, ihre Form der Wirksamkeit besteht primär im Verwischen von Grenzen, in der Neuaufteilung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven et cetera. In dieser Hinsicht kann sie eine wichtige Rolle gegenüber der Logik des Konsenses einnehmen. Die »Mainstream-Fiktion«, die Fiktion der polizeilichen Ordnung, ist dadurch charakterisiert, dass sie sich selbst als das Reale ausgibt, indem sie eine scharfe Trennlinie zu ziehen vermeint zwischen dem, was ganz offensichtlich zum Bereich des Realen zählt, und dem, was zum Bereich der Erscheinungen, Repräsentationen, Meinungen und Utopien gehört. Und sie legt auch die Identitäten bestimmter Gruppen fest, indem etwa, wie Godard gesagt hat, das Epische mehr zu den Israelis und das Dokumentarische mehr zu den Palästinensern passt. Es geht nicht darum, diese Rollen umzukehren, sondern einen Spielraum zu eröffnen, in dem sich die Verteilung von Epos und Dokumentation aufweichen lässt. Die Gegenwartskunst kann in dieser Hinsicht sicherlich eine Rolle spielen, vor allem weil diese Aufweichung politischen Gruppen kein besonderes Anliegen zu sein scheint. Das heißt natürlich nicht, dass die künstlerische Praxis zu einer politischen Praxis geworden ist, wie manche TheoretikerInnen meinen. Sie neigen dazu, künstlerisches Handeln als neuen politischen Aktivismus zu betrachten, und zwar aufgrund der Tatsache, dass wir in einem neuen Stadium des Kapitalismus leben, in dem materielle und immaterielle Produktion, Wissen, Kommunikation und künstlerisches Handeln in ein und demselben Prozess der Realwerdung einer kollektiven Intelligenz verschmelzen. Meiner Ansicht nach ist das eine zu simple Methode, um die Besonderheiten künstlerischer und politischer »Dissensualität« auszulöschen und stattdessen die Avantgarde-Figur des Produzenten wiederzubeleben, der zugleich Arbeiter, Künstler und Erbauer einer neuen Welt ist. Es gibt viele Formen von kollektiver Intelligenz, genauso wie es viele Arten und Bühnen des Handelns beziehungsweise der Performance gibt.
1 Jacques Rancière, Hatred of Democracy, übers. von Steve Corcoran, London und New York 2006. Französische Originalausgabe La Haine de la démocratie, Paris 2005.
2 Vgl. beispielsweise Benny Lévy, Le Meurtre du pasteur: critique de la vision politique du monde, Paris 2002; zit. in Rancière, Hatred of Democracy, S. 30.
3 Rancière, Hatred of Democracy, S. 89.
4 Jean-Claude Milner, Les Penchants criminels de l’Europe démocratique, Paris 2003.
5 Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. von Richard Steurer, Frankfurt am Main 2002. Französische Originalausgabe La mésentente, Paris 1995.
6 Rancière, Hatred of Democracy, S. 47.
7 Vgl. die Diskussion von Giorgio Agambens Homo sacer in Jacques Rancière, »Who Is the Subject of the Rights of Man?«, in: South Atlantic Quarterly 103, Nr. 2/3 (2004), S. 297–310.
8 Vgl. Rancière, Hatred of Democracy, S. 73.
Mit freundlicher Genehmigung von documenta 12 magazines.