Heft 3/2007 - Lektüre
»Wann immer eine Gruppe von Arbeitern ihren Lebensstandard zu erhöhen vermochte, gehört der Erwerb von Uhren zum Ersten, das die Beobachter vermerken.« Da Vorarbeiter und Fabrikbesitzer ihre Uhren oft zu Ungunsten der ArbeiterInnen verstellten, konnte die eigene Uhr also als Waffe des Widerstands fungieren. Das war aber nicht der Hauptgrund für die geschilderte Beobachtung. Sondern: Eine Uhr war nicht nur nützlich, »sie verlieh auch Prestige«.
Mit dieser Bemerkung erhellt der britische Sozialhistoriker Edward P. Thompson in seinem Aufsatz über »Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus« eine wichtige Dimension der historischen Durchsetzung der Parole »Zeit ist Geld«. Dass dieses Motto überhaupt erst durchgesetzt werden musste und global wie historisch gesehen eher eine Ausnahmeerscheinung ist, das ist die zentrale These von Thompsons erstmals 1967 erschienenem Aufsatz. Die Uhrmacher des frühen 19. Jahrhundert waren sich laut Thompson wohl bewusst, dass ohne sie die Synchronisierung der Arbeit, die die Industrialisierung verlangte, nicht zu machen war. Aber auch die HumanistInnen und protestantischen MoralistInnen trugen das Ihre bei: In Pamphleten und Verordnungen taten sie es den Industriellen gleich und mahnten eindringlich, Zeit nicht zu verschwenden und sie stattdessen zu nutzen.
Dieses moralische und industrielle Zeitregime widersprach meist den an konkreten Aufgaben orientierten Tagesabläufen der vorindustriellen Produktion. Deshalb und dagegen musste es durchgesetzt werden. Das rief einerseits Widerstand hervor. Es dauerte Jahrhunderte, bis in Europa die Tradition zerschlagen war, die Thompson aus einem Volkslied aus dem Jahr 1639 zitiert: »Montag ist des Sonntags Bruder«. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der »Blaue Montag« unter Englands Handwerkern »streng eingehalten« und, wie ein Beobachter 1811 empört schildert, »es folgt meist noch ein Blauer Dienstag.« Andererseits wurde das neue Zeitverständnis aber auch internalisiert. Statt gegen die Zeit kämpften die ArbeiterInnen zunächst für kürzere Arbeitszeiten und dann für Überstunden- und Feiertagszuschläge. Die Zeitkategorien des Kapitals waren längst akzeptiert, und nur innerhalb derer wurden die großen Kämpfe geführt. Die ArbeiterInnen, resümiert Thompson, »hatten ihre Lektion – Zeit ist Geld – nur zu gut begriffen.«
John Holloway, der das Vorwort zur Neuübersetzung von Thompsons Aufsatz geschrieben hat, scheint das anders zu sehen. Der in Mexiko lehrende Politikwissenschaftler greift an den Thesen Thompsons vor allem die Seite des Widerstands auf. Der Durchsetzung der »abstrakten Zeit« müsse mit der Rückeroberung der »konkreten Zeit« begegnet werden. Bereits dieser Vorschlag scheint problematisch, geht er doch von zwei trennscharf unterscheidbaren Zeitvorstellungen aus. Demnach findet in der abstrakten Zeit (entfremdete) Arbeit statt, in der konkreten Zeit richtet sich dagegen das (kreative) Tun ein. Die Arbeit ist nach Holloway das, was »uns auferlegt wird«, was »für uns keine Bedeutung hat«. Damit schließt der Theoretiker der zapatistischen Bewegung – wie schon in seinen früheren Texten – Phänomene wie Mitwirken und Teilhabe bzw. ein durch Anerkennung und Prestige gewachsenes Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse aus. Kurz: Er kann sich nicht vorstellen, dass man sich Uhren kauft, auch wenn man sie, wie die in Thompsons Text zitierten Kabylen, für »Mühlen des Teufels« hält.
Stattdessen sieht Holloway überall nur Widerstand und potenziellen Aufstand. »Es kommt zu einem plötzlichen Anwachsen der Revolte der konkreten Zeit gegen die abstrakte Zeit«, meint er, »und zu einem plötzlichen Anwachsen des Kampfes des Tuns gegen die Arbeit.« Man fragt sich, wo dieser Kampf gegen die Arbeit stattfindet, den Holloway als zentrales »Thema im Klassenkampf« der letzten »zwanzig oder dreißig Jahre« ausmacht. Den Zapatismus und die Aufstände in Frankreich 2005 und 2006 nennt er als Beispiele. Nun ist aber in Frankreich auch mit Nicolas Sarkozy gerade jener Kandidat mit einer satten und Milieu-übergreifenden Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden, der mit dem Motto »Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen« angetreten war. Und Frankreich ist sicherlich nur eines von unzähligen Beispielen, die dagegen sprechen, dass »wir« die »Krise der abstrakten Zeit« sind. Zumindest wenn man, wie Holloway, mit »wir« alle außer ein paar »Kapitalisten« meint. Die Ambivalenz, die Thompsons Text gerade so spannend macht, wird von Holloway nivelliert.
Am Ende seines Aufsatzes fragt sich Thompson, wie »einmal mehr die Schranken zwischen Arbeit und Leben eingerissen werden können.« Holloway selbst macht darauf aufmerksam, dass auch diese Frage ambivalent ist: Sie kann zum einen das Ende der Entfremdung und zum anderen die Ausweitung der Arbeit auf die gesamte Lebenszeit bedeuten. Holloway kann letztere nur als »Ausbreitung der Fabrikdisziplin auf die ganze Gesellschaft« denken. Allerdings werden diese Grenzen zwischen Leben und Arbeit nicht überschritten, weil sie einen zusätzlichen Zwang darstellen, sondern ein Angebot von mehr Freiheit. Sarkozys Slogan beispielsweise richtete sich gegen die gewerkschaftlichen Arbeitszeitbeschränkungen, wirkte also durch das Versprechen auf mehr Freiräume. Die breite Unterstützung für neoliberale Politiken ist schließlich nur zu verstehen, wenn man diese Mechanismen [NICHT] leugnet. Im Allgemeinen lässt sich das auch auf das kreative Tun beziehen. Es ist gerade die geschickte Nutzung der Kreativität – und eben nicht ihre disziplinarische Unterdrückung –, die die neuen Arbeitsverhältnisse ausmacht. Nicht nur von außen »auferlegt«, sondern von innen mitgetragen, nicht ohne Bedeutung, sondern konstitutiv für gegenwärtige Lebensmodelle: Wenn man diese Beschaffenheit der aktuellen Zeit- und Arbeitsregime nicht berücksichtigt, wird sich auch kein Ausweg aus ihnen finden lassen.
Genau darum ging es Thompson vor vierzig Jahren. Wie in seiner wegweisenden Studie »The Making of the English Working Class« (1963) argumentiert er auch in diesem Aufsatz, dass »die Geschichte nicht einfach ein neutraler und unausweichlicher Prozess des technologischen Wandels ist, sondern auch einer der Ausbeutung und des Widerstands gegen Ausbeutung, dass man Werte sowohl verlieren wie gewinnen kann.« Ein Wert wie Kreativität jedenfalls scheint in Zeiten der Creative Industries eher verloren.
Thompsons Plädoyer dafür, dass Geschichte machbar ist, liest sich nicht weniger plausibel als Argument gegen den neoliberalen Kapitalismus denn als Argument gegen den ökonomistischen Marxismus, gegen den es sich eigentlich richtete. Auch das ist ein Grund dafür, und da ist Holloway recht zu geben, dass es eine »solche Freude beim Lesen bereitet.« Sonntags Bruder, das kann man sich merken, ist also nicht eines natürlichen Todes gestorben. Er wurde umgebracht.