Heft 1/2008 - Netzteil


Fuchs unter Igeln

Geert Lovink und die Suche nach einer aktualisierten Netzkritik

Roman Schmidt


Isaiah Berlin wusste im intellektuellen Feld Füchse von Igeln zu unterscheiden. Dem griechischen Lyriker Archilochos entwendete er das obskure Diktum, ein Fuchs kenne viele Dinge, ein Igel dagegen nur ein großes. Igel sind, zoologische Einwände hintangestellt, auf Kohärenz bedachte Reduktionisten, Füchse indes sammelnde, nomadische Pluralisten. Igel wie Hegel treiben Geschichtsphilosophie, Füchse wie Montaigne schreiben Essays.

Isaiah Berlins Essays lagen auf Geert Lovinks Schreibtisch, als ich den Internettheoretiker am Berliner Wissenschaftskolleg interviewte, wo er gerade an seinem neuen Buch schrieb. Nun ist es erschienen, und wen wundert es, dass es sich wie das Arbeitstagebuch eines Fuchses liest?

Lovink setzt mit »Zero Comments« seine »studies into critical internet culture« fort, wie er die routinierten Streifzüge durch die Szene der »Netzkritik« nennt, an deren Herausbildung er seit den späten 1980er Jahren wesentlich beteiligt war. Bereits in »Dark Fiber«, 2001 veröffentlicht, kollagierte Lovink Mailinglisten-Diskussionen, verstreut veröffentlichte Interventionen, Reisenotizen, Lektüreberichte und Theoriefragmente aus zehn Jahren. Damit war der Stil gefunden, der sich in »My First Recession« (2003) und nun in »Zero Comments« fortsetzt: Als teilnehmender Beobachter sucht der »Net-Squatter turned Institutsgründer«1 im Rauschen der Listen und Kongresse nach »Kristallen der Netzkritik« (Lovink), die er für ein dankbares Publikum in Academia, Kunstbetrieb und interessierter Öffentlichkeit in Buchform aufbereitet.

Von seinem letzten Buch aus zurückblickend wird deutlich, welche Verschiebungen des politischen und technologischen Kontexts sich in den letzten zehn Jahren, etwa gegenüber der Gründung von Next5Minutes und nettime, ereignet haben. Der Diskursmix aus taktischem Mediengebrauch, »Economy of Friendship« und partizipativer Radiotheorie, der das junge Medium ins messianische Licht tauchte, ist längst Business-Modell. Hinter dem Rücken der virtuellen Intellektuellen beziehungsweise abseits ihrer Klickpfade wurde das Internet zu einem Alltagsmedium, das mehr als eine Milliarde Menschen nutzen und kostenlos mit Content füllen. Mit dem Erfolg großer »Social Internet-Dienste« wie Facebook, YouTube oder Blogspot werden fast beiläufig zwei Pfeiler der großen Netzerzählung unterspült: statt ambitionierter DIY-Ästhetik sind die NutzerInnen glücklich über Wordpress’ 5-Minuten-Installation, wählen zwischen blumig oder minimal, zwei oder drei Spalten, und starten ihren neuen Blog; der entsteht in der Regel in der Muttersprache, und überhaupt erscheint, trotz fortbestehender digitaler Spaltung, inzwischen deutlich weniger als ein Drittel des online Veröffentlichten auf Englisch. Von wegen lingua franca. Dass solche Transformationen Konsequenzen für Theorie und Praxis kritischer Netzkultur haben müssen, ist die wichtigste Botschaft von »Zero Comments«, gerade auch an Geeks.

Für Lovink ist es Zeit, die Nischen der Internetsubkultur zu verlassen. Das gilt auch für die gegenwärtige Medien- und Netzkunst, die in »Zero Comments« ebenso schlecht wegkommt wie zur Zeit überall. Sie sei, meint Lovink, unkritisch, maschinistisch und in ihren ewigen Betastadien isoliert. Während die Medienkunst noch an »heiligen, barocken 3D-Installationen« bastelte, zogen die Menschen und ihre Bedürfnisse, säkular und mobil, mit Web 2.0, Handy und iPod an ihr vorbei. Was bleibt? Lovink empfiehlt der Medienkunst, ihr Label aufzugeben, die Festivals wie transmediale und Ars Electronica zurückzulassen und sich starke, lokale Partner zu suchen, in die sie sich als kritisches »Materialbewusstsein« einbringen kann. Medienkunst hatte als transitorisches Genre ihre Zeit, sie wird unter der Feder des radikalen Pragmatisten Lovink zur Propädeutik über die Tücke des digitalen Objekts.

»Zero Comments« widmet sich auch dem Zusammenhang von Entwicklungszusammenarbeit und digitaler Kultur: Ein langer Arbeitsbericht rekonstruiert die konkreten Erfahrungen und Probleme mit Sarai.net in Delhi, dem äußerst erfolgreichen Liebling vieler NetzkritikerInnen. Ein anderer Aufsatz nimmt dann den Weltgipfel der Informationsgesellschaft 2005 zum Anlass für eine NGO-Kritik aus »Bewegungsperspektive«. Hier wie auffällig oft in Lovinks neuem Buch stehen letztlich Fragen der Organisation und Interessenvertretung prekarisierter KulturarbeiterInnen zur Debatte. Gerade weil Lovink des Leninismus völlig unverdächtig ist, darf es als Indikator gelten, wenn er zur Revision der lange angesagten taktischen Medientheorie aufruft und an die Stelle ihrer ephemeren Allianzen Ned Rossiters Theorie »organisierter Netzwerke«2 setzt, der das Abschlusskapitel von »Zero Comments« gilt. Auf dem Spiel steht dabei nicht weniger als die Frage, wie Netzwerkstrukturen zu denken sind, die postrepräsentative, postidentitäre Gesellschaften zu tragen vermögen. Dass dies nicht nur ein demokratietheoretisches, sondern auch ein ästhetisches Problem bedeutet, verdeutlicht Lovink, indem er auf die Kartierung und Darstellbarkeit von sozialer Komplexität eingeht und sich für eine »gestreute Ästhetik« (distributed aesthetics) einsetzt.

So vage Geert Lovinks Gedanken in diesen Fragen bleiben (müssen), so bestimmt rüttelt er an den Fundamenten des techno-libertären Internetmythos. Die »Ideologie des free« zu demaskieren, ohne in die Logik der Gutenberg-Ökonomie zurückzufallen, ist die konkrete Aufgabe, die für eine Kritik der Kritik, wie Lovink sie leistet, nun ansteht, denn: »Die Internet-Ideologie macht uns blind dafür, was wir eigentlich zahlen, während wir uns überglücklich der Geschenk-Ökonomie des ›free‹ anschließen«. Es müssten zunächst ökonomische Modelle entwickelt werden, die »ambitionierten Amateuren« erlauben, von ihrer Arbeit im Web zu leben. Allein, was tun? Google vergesellschaften? Verwertungsgemeinschaften für YouTube? Das bleibt einstweilen des Internettheoretikers Geheimnis. Denn seine problemeröffnenden Essays hören immer dann auf, wenn die virulenten Meme zusammengetragen und die richtigen Fragen gestellt sind. »Zero Comment« macht dabei keine Ausnahme. So ist das mit den Füchsen.

P.S. Im Übrigen geht es in »Zero Comments«, dem Titel nach sogar hauptsächlich, um Blogs. Lovink beschreibt deren AutorInnen als »digitale NihilistInnen«, radikale PluralistInnen, die den Glauben an die Medien verloren haben und mit ihren mikro-heroischen Akten am Untergang der Rundfunkmedien mitschreiben. Die Diskussion dazu findet sich natürlich im Netz.3

 

Übersetzt von Jennifer Taylor-Gaida

 

1 Krystian Woznicki, Zur Sache an sich jetzt, in: springerin 1/2007, S. 14.
2 Ned Rossiter, Organized Networks. Media Theory, Creative Labour, New Institutions, Rotterdam 2006.
3 Vgl. http://www.technorati.com/search/Lovink+Blogging

Geert Lovink, Zero Comments. Blogging and Critical Internet Culture, New York/London 2007. Das Buch erscheint Anfang 2008 auf Deutsch bei Transcript, Bielefeld