Heft 2/2008 - Netzteil


Optisch korrekt?

Videos im Netz

Vera Tollmann


Paul Virilio formulierte neulich im sehr kurz geratenen Ausschnitt eines Videointerviews, das auf YouTube zu finden ist, dass er eine zunehmende Bedeutung des optisch Korrekten im Internet festgestellt habe. Für diese Aussage ist genau die Plattform ein Beispiel, auf welcher der eine knappe Minute lange Originalton verfügbar ist. Bezieht er sich auf die juristischen Statuten der größten Videodatenbanken? Kaum ist ein Video dort veröffentlicht, wurden alle Rechte daran dem Betreiber der Website überschrieben. Dass die proprietäre Rechtslage auf YouTube dagegen spricht, dort Videos zu veröffentlichen, leuchtet an der Argumentation, die auf der Website des Netzwerks »transmission«1 zu finden ist, ein. YouTube kann die Clips der UserInnen weiterverkaufen, zensieren, die digitalen Wege seiner UserInnen überwachen. »Corporate digital vaccuum cleaners« schimpfen die BetreiberInnen alternativer Videoplattformen, die sich in regelmäßigen Treffen von »transmission« austauschen, über YouTube.
Wynne Greenwood beschreibt ihre Entscheidung, ihr neues Musikvideo »Big Candy«2 zeitweilig auf YouTube unter dem Galeriennamen online zu stellen, als »opening some spaces for myself.« Sie möchte mit ihrer künstlerischen Arbeit nicht immer direkt erreichbar sein und sieht ihre Galerie als Firewall. Ursprünglich gedacht war das Video, das sie zwischen ihren Skulpturen in ihrer Ausstellung bei der Galerie Susanne Vielmetter Los Angeles Projects aufgenommen hat, für ihre »Musikwelt«. Doch dann sah sie den Clip als perfekten Abschluss ihrer Installation. Jetzt wird das Video in limitierter Stückzahl von der Galerie verkauft. »Ich bestehe normalerweise darauf, dass Videos allen zugänglich sein sollten. Aber jetzt komme ich mit meiner Praxis an einen Punkt, an dem es für mich ermächtigender ist, den Zugang komplizierter zu machen. Ich kann mir aussuchen, was ich umsonst mache und was ich mache, um hoffentlich meine Miete davon zu zahlen.« Bis zum Ende der Ausstellung ist »Big Candy« auf YouTube abrufbar. Greenwood erkennt darin sogar das Potenzial einer Online-Galerie, auch wenn ihr Videoclip zeitlich begrenzt als einzige künstlerische Arbeit den digitalen Nicht-Raum füllt. Außerdem ist das Video auch auf ihrer MySpace-Website online, sie denkt immer an Kunst und Musik zusammen, die eine Produktion überschneidet sich mit der anderen. Ob ihr Videoclip später von UserInnen immer wieder neu online gestellt wird? Können Kunstvideos auch so populär sein, dass den UserInnen an ihrer Online-Existenz gelegen ist? Als Tom Cruise über sein Dasein als Scientologe sprach, gab es genug aufmerksame UserInnen, die es immer wieder online stellten, auch wenn das der Sekte nicht gefiel. Offline, wie in diesem ungewünschten PR-Exempel, geraten Videos sonst nur bei Copyright-Klagen.
Der Künstler Tom Sherman prognostiziert in seinem Essay »Vernacular Video«3, das vor einem Jahr von einem Blog zum nächsten kopiert wurde, dass »rekombinierendes Arbeiten mehr und mehr üblich wird. Sampling und die Wiederholungsstrukturen von Popmusik werden es der wiederholten Dekonstruktion von Popkultur gleich tun wollen.« Mit dieser Beschreibung trifft Sherman aber vielmehr die Entstehungslogik künstlerischer Videoclips im Internet – die alltäglichen Videos werden oft ungeschnitten online gestellt, die VideoautorInnen sprechen direkt in die Kamera. Hingegen gehen die Künstlervideos genau nach der beschriebenen Technik vor, sie rekombinieren das Material der anonymen Masse. Zum Beispiel Oliver Laric: Aus den Unmengen an Amateur-Raps zu einem Hit des amerikanischen Musikers 50 Cent hat er Ausschnitte inklusive Originallautstärke und -athmo der YouTube-Clips hintereinander geschnitten. Daraus ist eine Art Master-Videoclip, »50 50«4, entstanden. Und nebenbei liefert Larics gesampeltes Video eine Analyse dessen, was typisches YouTube-Material bietet. Nutzen KünstlerInnen also Struktur und Footage von YouTube, um die Plattform zu untersuchen? Liefern sie das visuelle Pendant zur soziologischen Beobachtung? Laut Sherman besteht die Aufgabe oder, ebenso bedingungslos formuliert, die einzige Chance der VideokünstlerInnen darin, sich in ihrem ästhetischen Bewusstsein und Können von der Amateurmasse zu unterscheiden. »KünstlerInnen müssen die alltäglichen Formen von Video aufgreifen, aber darüber hinausgehen. KünstlerInnen müssen die verschiedenen Schichten von Alltagsvideos identifizieren, kategorisieren und sortieren, indem sie eine angemessene Videosprache verwenden, um mit der Welt effektiv und mit einer gewissen Eleganz zu interagieren.«
Was bedeutet es also, wenn der Videokünstler Stéphane Querrec Ästhetik und Text von Amateur-Geständnissen aufnimmt und zu einem neu einstudierten Skript verdichtet? Anders als bei Laric gehen hier viele Stimmen in einer Universalstimme auf, wechseln wie beim Zappen durch YouTube überraschend durch schwermütige, hysterische und überraschend witzige Monologe. Der Supermonolog, den Querrec einer Laiendarstellerin souffliert, begeistert in seiner Pertinenz und macht ebenso irre.
Die Werbewelt eignet sich die typischen Amateurvideo-Rhetoriken an und spielt mit den strategischen Mechanismen, um ihren Clips online Aufmerksamkeit zu garantieren. Fast scheinen sie eine Art Theorie der Konsumentengewohnheiten erstellen zu wollen. Wie kann ein einzelnes Video sich von der verwalteten Masse abheben? Auch der vornehmlich konzeptuell und analog arbeitende Künstler Bernd Krauss testet die Möglichkeiten des Mediums.5 In wenigen Monaten hat er mehr als 400 oft maximal eine Minute lange Videoclips aufgenommen – lakonische Bildwitze, Alltagsfunde. Wie irgendein Amateurvideomacher hält er die Kamera einfach drauf. Mit der Titelwahl versucht er durch die nichthierarchischen Strukturen der Online-Umgebung zu dringen. Von dem Filmtitel »Lost in Translation« versprach er sich Aufmerksamkeit, auch wenn die UserInnen dann ungewollt sein Video ansehen würden.
In der »YouTube-o-thèque« des Künstlers Johan Grimonprez und der Kuratorin Christine Léouzon sammelt sich der ganze Wahnsinn der Online-Videos: von aufwendig produzierten kommerziellen Werbeclips über TV-Mitschnitte bis hin zu zufällig aufgenommenem Alltagshorror. Doch nach wenigen Minuten wird es schon langweilig, denn das Programm zeigen sie nur offline. Wenn man nicht selbst die Auswahl treffen kann, neu suchen kann, verlieren die Videos aus dem Internet schnell an Reiz.
Videos können für die Öffentlichkeit auch ein Korrektiv zu den Mainstream-Medien bilden. Zu vielen tagesaktuellen Stichworten findet sich ein Clip im Internet – frei nach dem Prinzip »Ceci n’est pas une pipe«. In diesem Sinne könnte Online-Video die Medienberichterstattung, also das öffentliche Bild, das von den traditionellen Sendeanstalten ausgestrahlt wird, kommentieren. Welche künftige Bedeutung sie annehmen werden, bleibt ausgehend von den ersten Reaktionen einiger KünstlerInnen insgesamt schwer zu sagen.
Wie Baudrillard es mit Heidegger ausgedrückt hat: Wenn die Gesellschaft sich an ihren äußersten Punkt der Technologisierung bewegt, dann entsteht wieder ein Geheimnis, dann kann das Technologische zu Magie werden, und die UserInnen erfahren Schwindelgefühle, einen gewissen Zustand der Benommenheit, der ihnen vom Zappen durch das Fernsehprogramm her bekannt vorkommen muss.