Heft 3/2008 - Lektüre
Armut ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Ihre Ursache: eine Häufung von Problemen. »Die Armen« sind Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen. Der französische Soziologe Serge Paugam verwehrt sich in seinem neuen Buch gegen die Festschreibung eines Typus des/der Armen, der einem festgelegten Werdegang, einer Logik der Armut quasi, untersteht und zwangsläufig im Abseits der Gesellschaft landen muss. Sein Ansatz resultiert aus seinen Feldforschungen, und die Erkenntnis der Prozesshaftigkeit lässt sich gut mit den mittlerweile alltäglichen Berichten zusammenlesen, in denen es immer häufiger um Stellenabbau in (großen) Betrieben geht.
Um in den Zustand der Armut zu gelangen oder darin zu verweilen, sind mehrere Faktoren ausschlaggebend, die sich gegenseitig verstärken – Arbeitsplatzverlust, finanzielle Probleme, die sich auf Unterhalt etc. auswirken, auf die Möglichkeiten, am sozialen Geschehen teilzunehmen. Die Teilnahme an sozialen Prozessen gründet auf einem Gerüst vielfältiger Zugehörigkeiten, die Paugam, ganz systemisch, als Fäden eines Netzes beschreibt. Jedes Individuum verwebt seine eigenen Fäden, die ihm im Prozess der Sozialisation in die Hand gegeben werden, unterschiedlich, und sie entstammen verschiedenen Bindungen: der durch Abstammung (Familie im weitesten Sinne), der gewählten Zugehörigkeit (Nachbarschaft, FreundInnen etc.), der »organischen Zugehörigkeit« (im Sinne des »lien social«, einer sozialen Position) und der staatsbürgerlichen (die zumindest theoretisch die anderen transzendiert bzw. überwinden kann). Welches Gewebe sich nun im Einzelfalle ergibt – welche Fäden stark und belastbar sind, welche überspannt und überlastet werden und deswegen reißen, welche gar nicht zu Vernetzungen taugen –, diese Zusammenhänge ergeben wie in einem komplizierten Netz zwar ein Bild, lassen aber keine zweifelsfreien monokausalen Rückschlüsse zu. Jedenfalls wirkt sich in einem solchen System jede Aktion auf das Gesamte aus, und je nach Gesellschaft werden die Folgen unterschiedlich interpretiert. So unterscheidet Paugam drei Modelle des Umgangs mit dem Phänomen Armut: das »öffentlich-individualistische Modell« mit einem hohen Niveau sozialer Absicherung, das auf diese Weise die Verantwortung für Armut der gesamten Gesellschaft überträgt (dieses Modell zeichnet die skandinavischen Gesellschaften aus); des weiteren das »familialistische«, das die Familie zur Versorgung der Angehörigen heranzieht und die Armen weiterhin in soziale Zusammenhänge einbezieht. Dieses Modell herrscht in den mediterranen Gesellschaften vor, in denen offenbar Armut als Lebensumstand nicht so stark stigmatisierend wirkt wie in Ländern mit dem Modell »geteilter Verantwortlichkeit«, in denen befristete Arbeitslosenunterstützung gewährt und dann die Verantwortung in die familiäre Sphäre übertragen wird, von wo aus Druck zur Reintegration in den Arbeitsmarkt erwartet wird – dieses Modell verortet Paugam in Ländern wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Nicht überall ist das Risiko sozialer Disqualifizierung gleich hoch, nicht notwendigerweise gilt Armut als bloßer Störfaktor.
»Diese Soziologie der Armut ist in Wirklichkeit eine Soziologie des gesellschaftlichen Bandes«, so Paugam, und sein Versprechen, das unterschiedliche Erleben von Armut zu beschreiben, löst er durch gründliche Analysen ein, inklusive einer Genese der Sozialhilfe über Tocqueville, Marx/Engels und Simmel, sowie die Auswertung differenzierter Feldstudien. Wiewohl es etliche ökonomisch-statistische Herangehensweisen an das Thema Armut gibt, so doch wenige, die sich mit deren sozialer Repräsentation befassen oder der Frage nach deren individueller Bedeutung. Vor allem deswegen hat Paugam dieses Buch geschrieben, in dem er Bewegungsmöglichkeiten jenseits des Festschreibens und des Stigmas eröffnet.