Das bildnerische und schriftstellerische Werk des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica (1937–1980) umfasst trotz seines frühen Todes beachtliche Mengen an Werkserien und Schriften, die zu großen Teilen aber erst vor wenigen Jahren durch die Nachlassverwaltung, das Projeto Hélio Oiticica (Rio de Janeiro), der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten. Entsprechend gab es erst in den letzten Jahren auf internationaler Ebene einen regelrechten Boom an Ausstellungen und Veröffentlichungen. Allein 2007 erschienen zwei Monografien in englischer Sprache. Das heuer veröffentlichte Buch »Fios Soltos: A Arte de Hélio Oiticica« markiert nun einen vorübergehenden Wendepunkt in den Auseinandersetzungen, Oiticica auch als Referenz der euro-amerikanischen Kunstgeschichtsschreibung zu etablieren. »Fios Soltos« heißt soviel wie »lose Fäden« und fasst treffend zusammen, was die Herausgeberin Paula Braga mit dieser zweisprachigen Aufsatzsammlung (Portugiesisch/Englisch) vorgelegt hat: zwölf Texte von AutorInnen aus fünf Ländern und unterschiedlichen Zusammenhängen, ergänzt durch einen umfangreichen Anhang, der neben zahlreichen Farbabbildungen auch ausgesuchte Schriften und Briefe des Künstlers sowie zwei Zeittafeln zu seinem Leben und Werk enthält.
Statt die posthume Rezeption als homogene Historisierung voranzutreiben, zeigt »Fios Soltos« eher eine Aktualisierung der Standpunkte und Selbstverständnisse verschiedener kunsttheoretischer Narrative auf und bleibt dabei unerschrocken heterogen. Dadurch schafft es das Buch, dem offengelegten Querschnitt durch die internationale Oiticica-Rezeption einen überzeugenden Rahmen zu liefern. Gerade das Auseinanderklaffen der historischen und aktuellen Bezugspunkte von Entstehung und Rezeption eröffnet den Beiträgen auch die Möglichkeit, aus einer verschobenen, kritischen Perspektive Einsicht in die Prozesse der Konstruktion der Künstlerfigur Hélio Oiticica zu gewinnen. Während beispielsweise Oiticicas Nähe zu den BewohnerInnen der Favela von Mangueira und seine Tanzkünste allgemein vorausgesetzt und gerne hervorgehoben werden, widmet sich der Brite Michael Asbury in seinem programmatischen Aufsatz »O Hélio não Tinha Ginga (Hélio Couldn’t Dance)« der Dekonstruktion eben solcher Idealisierungen. Damit macht Asbury eine gemeinsame Dynamik vieler der hier versammelten Texte greifbar: »A second generation of Oiticica scholars has expanded the philosophical context of his work, developing those lines of enquiry initiated by the artist himself and/or bringing them up to date with the latest developments in the field of art theory.« Am deutlichsten artikuliert sich diese theoretische Differenz wahrscheinlich in der Herstellung politischer Referenzrahmen und zeigt sich dort in einer Verlagerung des Fokus von der Makro- auf die Mikroebene: Die Frage nach den Produktionsbedingungen eines konzeptuell arbeitenden Künstlers während der brasilianischen Militärdiktatur ermöglicht es, Künstlerbiografie und Werkentstehung in einen sozio-politischen Kontext zu stellen. Aber gerade hierbei wurde eben gerne auf Idealbilder zurückgegriffen, die eine differenzierte Sichtweise verstellen. Einen anderen Zugang in ihrer Auseinandersetzung mit dem Politischen im Werk Oiticicas bieten dagegen die Beiträge von Ricardo Basbaum, Beatriz Scigliano Carneiro oder Sabeth Buchmann. Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theorieansätze beschäftigen sie sich weniger mit der Reaktion eines vorgängigen Künstlersubjekts auf ein repressives Außen, sondern vielmehr mit dem politischen Aspekt der ästhetischen BetrachterInnen-Erfahrung. Damit rücken sie ihre Analysen in die Nähe eines biopolitischen Diskurses über die Konstruktion und Performanz von Subjektivität. Nicht nur als unkommentierte Materialsammlung profitiert das Buch dahingehend von einem gewissen postmodernen Darstellungskonzept. »Fios Soltos: A Arte de Hélio Oiticica« mag zwar an mancher Stelle ein bisschen wie eine kunsttheoretische Bilanz der letzten 20 Jahre Oiticica-Rezeption wirken, erhält aber dadurch auch eine diskursanalytische Qualität, die nicht nur für Kenner und Interessierte, sondern vor allem für die weitere Forschung von Bedeutung sein wird.