Heft 3/2008 - Netzteil
In Lateinamerika ein Magazin herauszubringen, war immer schon ein geradezu heroisches Unterfangen. Kontinuität ist eine Seltenheit und Unabhängigkeit ein Euphemismus – wie im Grunde fast überall. Und doch scheint die Region in Bezug auf die Magazinproduktion einen Paradigmenwechsel zu erleben. Trotz der Schwierigkeiten bei der Verbreitung – es ist einfacher, an Veröffentlichungen aus der nordamerikanischen Underground-Szene oder Europa heranzukommen als an die bekanntesten Mainstream-Magazine aus den Nachbarländern – haben ein paar Magazine über die Jahrzehnte hinweg durch unnachgiebiges persönliches Engagement und ein respektloses, ja regelrecht autokratisches Insistieren auf Autonomie eine gewisse Kontinuität erzielt. Während man bei neueren redaktionellen Vorstößen Vertriebsprobleme mit reinen Netzprojekten zu bewältigen sucht – deren Umsetzung häufig von einer heimlichen Nostalgie für die Printversion zeugt –, benutzen die VeteranInnen aus den 1970ern die elektronische Kultur als Netzwerkraum und -forum für die regionale Verbreitung ihrer Magazine, zunehmend aber auch als virtuelle Archive und Ressourcen-Bibliothek, was besonders in Bezug auf jene interessant ist, die sich kürzlich entschlossen haben, die Produktion einzustellen.
Viele der bedeutungsvollsten unter den langjährigen redaktionellen Projekten entstanden im Kontext der autoritären Regimes der 1970er als autodidaktische Bildungsmaßnahmen. Häusliche Treffen und private Abendessen boten damals die einzige Möglichkeit, sich im kritischen Denken zu üben, was nach und nach kleine hausgemachte Akademien hervorbrachte. Die Übersetzung wurde hier zu einem wichtigen Werkzeug des Widerstands und der intellektuellen Opposition. Für gewöhnlich – wenn auch nicht immer – war der Import bestimmter TheoretikerInnen, die sich außerhalb der Reichweite der Militärzensur befanden, nicht durch den Wunsch motiviert, mit bestimmten intellektuellen Moden »mithalten« zu können; hier ging es um mehr als die bloße Erneuerung der gedanklichen Räume, die die Diktatur zu eliminieren suchte. Übersetzungen wurden für Redaktionen, die als öffentliche Denkmaschinen fungierten, enorm wichtig: Magazine übersetzten – und tun dies auch heute noch – nach ihren Bedürfnissen, zu ihren Bedingungen und im intertextuellen Konflikt mit lokalen Kontexten. Diese autonomen redaktionellen Unternehmungen wurden zur Infrastruktur für mobile und unabhängige Instanzen des Denkens.1
AutorInnen wurden nicht beliebig importiert, und wenn bestimmte Namen in Umlauf gebracht wurden, geschah dies nicht immer aus den offensichtlichen Gründen. So war das Auftauchen Gramscis in vielen politikwissenschaftlichen und soziologischen Veröffentlichungen im Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre nach der brutalen Niederlage der linken Intelligenzia eher eine bequeme Absage an den Marxismus oder ein Proto-Einfall in den »dritten Weg« als die theoretische Umstrukturierung einer neomarxistischen Plattform.2 Indes war die Übersetzung von Texten zur Queer Theory, die Ende der 1990er Jahre in dem kubanischen Journal »Criterios« erschien, ein politisches Statement zu einer überholten inoffiziellen Regierungspolitik und kein Indiz dafür, dass man dem akademischen Boom der Cultural Studies Nordamerikas unkritisch folgte. Wie ein regelmäßig für das argentinische »Punto de Vista« schreibender Autor über das Magazin bemerkte, hatte es seit seiner Gründung Übersetzungen stets als Möglichkeit des »Laut-Denkens« benutzt.3
Diese Magazine existierten nicht lokal, weil sie dazu verdammt waren, sondern weil sie mit ihrer Position ihre redaktionelle Autonomie definierten und weil sie dem, was sie umtrieb, so mit der nötigen Präzision und Flexibilität nachgehen konnten. Diese Positionierung war die Quelle ihrer Unabhängigkeit und erlaubte ihnen den innovativen und respektlosen Gebrauch aller vorhandenen Strukturen: von finanziellen Quellen über Medien und Technologie bis hin zu sozialen Kontakten. Als einsames Unterfangen bestand ihr Daseinsgrund einzig und allein in der Dringlichkeit, mit der die MacherInnen des Magazins das taten, was sie tun mussten. Beatriz Sarlo, Gründerin und letzte Leiterin von »Punto de Vista«, begründete ihre Entscheidung, die dreißigjährige, von brillanten und unumstößlichen redaktionellen Entscheidungen geprägte Praxis des Journals zu beenden, folgendermaßen: »Ein Magazin ist nur der Mühe wert, wenn es absolut unersetzbar ist.«4 Für lateinamerikanische Magazine ist die sporadische Förderung – seitens staatsnaher Kulturinstitutionen oder internationaler NGOs – nicht der ausschlaggebende Faktor für Kontinuität, selbst wenn dieser womöglich entscheidet, ob zwischen zwei Ausgaben Monate oder Jahre vergehen. In der Tat wechseln die Förderquellen jährlich, mitunter sogar von Ausgabe zu Ausgabe.
»Punto de Vista« (1978–2008) wurde allen Widrigkeiten zum Trotz während der härtesten Jahre der Militärdiktatur in Buenos Aires als Journal für Literatur und kritische Theorie gegründet. Die Tatsache, dass es notwendigerweise zunächst am Rand der Gesellschaft und im Untergrund operierte, verlieh dem Magazin einen starken Sinn für Kontingenz; sein autonomes und politisch unverhohlenes Profil war stets von einer tiefen ethischen und intellektuellen Verantwortung begleitet. »Punto de Vista« war und ist bis zum heutigen Tag nur einer Sache verpflichtet: dem erbitterten Kampf für die Unabhängigkeit von jeder Art der Anpassung, zu der auch die redaktionelle Formelhaftigkeit gehörte. Es lieferte stets alternative Standpunkte und vermied dennoch jegliche an der Peripherie geführte Diskurse über Viktimisierung. In den 1980ern bewies das Journal, dass es seine »heimlich voller Kampfeslust steckende Widerstandshaltung«5 in eine aufmerksame und bewusste Wachsamkeit gegenüber der zeitgenössischen argentinischen Kultur und Politik verwandeln konnte. Die prominentesten lokalen und regionalen Intellektuellen mussten sich im Laufe ihrer Karriere irgendwann einmal »Punto de Vistas« unermüdlich arbeitendem kritischen Denkapparat stellen. Die kämpferische Geschichte des Magazins, einschließlich der vielen schwierigen Momente konfliktgeladenen Unbehagens, bestätigte seine Fähigkeit, sich allen theoretischen Trends zum Trotz immer wieder neu zu erfinden.
Das chilenische Magazin »Revista de Crítica Cultural« (1990–2008) hat eine ähnliche Geschichte.6 Die zwei Jahrzehnte rigoroser und autodidaktischer Übung in Kulturkritik, auf die es zurückblicken kann, waren eine Art konzeptuelle Emanzipation, mit der es auch der intellektuellen Abgestumpftheit der Militärdiktatur die Stirn bot. Die auf theoretischer Ebene von Nelly Richard, der zentralen Antriebskraft und Leiterin der Publikation, artikulierte Genealogie des Magazins beginnt Mitte der 1970er Jahre in einer kleinen, quasi autodidaktischen Akademie, die ständig neue Formen annahm: informelle Unterhaltungen, Treffen und Seminare, die Gründung einer Kunstgalerie sowie ein paar »selbst gemachte« fanzine-artige Veröffentlichungen zu zeitgenössischer Kunst und Feminismus. In all diesen Praktiken war man kontinuierlich damit beschäftigt, die zeitgenössische chilenische Kultur neu zu verorten, zu überdenken und zu diskutieren. Richard gründete das Magazin während des Redemokratisierungsprozesses und versammelte viele der »kritischen Stimmen«, die in den 1980er Jahren an diesen Experimenten teilgenommen hatten. Mit »Punto de Vista« teilt das Magazin die unorthodoxe unabhängige Haltung, die sich aus der Erfahrung entwickelt hat, einen randständigen, aber nachhaltigen Ort für kritisches Denken geschaffen zu haben, wodurch die Individuen im Umfeld beider Publikationen in die Lage versetzt wurden, ihrer eigenen intellektuellen Institutionalisierung mit epistemischer Wachsamkeit zu begegnen.
In der Ära der Post-Diktatur sehen sich die lateinamerikanischen Magazine mit dem Verlust der epischen Möglichkeiten politischer Opposition konfrontiert. Sowohl »Punto de Vista« als auch »Revista de Crítica Cultural« haben sich vehement dagegen gewehrt, bequem die Haltung der ungerecht behandelten Linken anzunehmen, wie es so viele andere taten, auch im Nachhinein. Beide zählen zu den exemplarischen Magazinen, die gemacht wurden, um sie zu lesen, die sich auf die Qualität ihrer Texte verließen und deren Formate zum einfachen Durchblättern kaum geeignet waren. Noch wichtiger ist die Art und Weise, wie sie es geschafft haben, akute Ansichten zu artikulieren, die prägend waren für ihre jeweiligen intellektuellen Diskurse und so als flexible Plattformen, virtuelle Treffpunkte und Diskussionssatelliten des autonomen Denkens und einer kritischen Praxis fungierten. Viele der neueren Magazine versuchen, ihrem Vorbild zu folgen, indem sie ihr Essayformat kopieren und verzweifelt nach angesagten Intellektuellen suchen, die ihnen ihre Texte überlassen. Ein paar der besseren neueren redaktionellen Unternehmungen huldigen dem Paradigma auf andere Weise: Sie proklamieren eine völlig anachronistische Low-tech-Haltung und fordern eine engagierte, aufmerksame Leserschaft, die bereit ist, mitzuarbeiten und ihr Magazin als eine kleine autodidaktische Gedankenschule anzusehen. Sie verwandeln ihr Vorbild in eine politische Haltung gegenüber dem Format.
Dennoch werden uns die langen Essays in dem nur schwer lesbaren Kleindruck auf den verhältnismäßig großen Seiten fehlen, vor allem die Einzigartigkeit des kritischen, neugierigen, interessierten und leidenschaftlichen Engagements bei der Entwirrung der Gegenwart und ihrer potenziellen Zukunft.
Übersetzt von Gaby Gehlen
1 Desiderio Navarro, das autodidaktische Ein-Mann-Übersetzungsunternehmen hinter »Criterios« (seit 1972), ist ein quixotesches Beispiel dafür. Immer stochert er in für das gegenwärtige Kuba unbequemen, aber notwendigen Themen herum. Zuletzt konzentrierte er sich auf die zuhauf entstehenden Schriften um den Post-Kommunismus. Neben der Druckversion unterhält er auch eine Website, wo viele der von ihm übersetzten Artikel als PDF abrufbar sind. http://www.criterios.es
2 Vgl. Enzo Faletto »¿Qué pasó con Gramsci?«, in: Socialismo y Participación, n° 64, CEDEP, Lima 1993.
3 Vgl. http://www.bazaramericano.com/revista/oubina.htm
4 Vgl. http://www.bazaramericano.com/ultnum/revistas/nro_90_sarlo_final.html
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. http://www.criticacultural.org