Heft 3/2008 - Fremdenrecht
Kirgistan, Kirgisistan, Kirgisien oder Kyrgyzstan sind mögliche Schreibweisen und Bezeichnungen für ein Land, das, zumindest dem Westen, noch immer wenig bekannt ist.1 Wird bedacht, dass es als unabhängiger Staat erst seit 1991, als die Sowjetunion zerbröckelte, existiert, ist dies vielleicht etwas weniger verwunderlich, obwohl seitdem doch immerhin 17 Jahre vergangen sind. Auf der Weltkarte liegt Kirgistan in den Weiten Asiens wie ein Klecks am Rand der ehemaligen Sowjetunion. Neben China stoßen die Landesgrenzen an drei weitere ehemalige Sowjetrepubliken: Kasachstan im Norden, Usbekistan im Westen und Tadschikistan im Südwesten. Nach dem Ende der UdSSR wurden die einstigen innersowjetischen Grenzen zu internationalen, nur dass oftmals nicht bekannt ist, wo diese genau verliefen. Außer an einigen wenigen Stellen war der Grenzverlauf nicht gekennzeichnet. Heute gibt es dadurch tausende Kilometer strittiger Grenzen in Zentralasien, oft in unzugänglichem Terrain, die mühsam von bilateralen Kommissionen ausgehandelt werden müssen.
Vor allem die Grenzen im Ferghana-Tal sorgen immer wieder dafür, dass die Region nicht zur Ruhe kommt. Zum großen Teil ist dies das Erbe der sowjetischen Epoche. Zwischen 1924 und 1936 kam es zu willkürlichen Grenzziehungen, die sich weder an natürlichen Grenzverläufen orientierten noch an ethnischen Kriterien, während zugleich ethno-territorial Republiken errichtet wurden. In der vorsowjetischen Zeit hatten sich die BewohnerInnen des Ferghana-Tals vor allem durch Verwandtschaftsbeziehungen, religiöse Praktiken und regionale Herkunft identifiziert: Es gab keine festen staatlichen Gebilde, zumal die Kirgisen hauptsächlich Nomaden waren. Kam es nun infolge der Grenzziehungen zu Konkurrenz zwischen den nationalen Gruppen um Territorium, Verkehrs- oder Wasserinfrastruktur, wurde das sowjetische Zentrum zum Vermittler und konnte seine Herrschaft in der widerspenstigen Region stärken. Nachdem der universale Einfluss der sowjetischen Kolonialmacht sich zurückgezogen hatte, verkrochen sich die ehemaligen Sowjetrepubliken in ihre »nationalen Appartements« und begannen, ihre eigene »Berliner Mauer« zu errichten.2 Während der fast 70-jährigen sowjetischen Periode hatten sich ökonomische und soziale Verflechtungen zwischen den Teilrepubliken herausgebildet, die durch die neuen Grenzen von einem auf den anderen Tag unterbrochen wurden, außerdem leben in allen neuen Ländern jeweils bedeutende Minderheiten aus den Nachbarnationen.
»Shadows« (1999), die Serie von Schwarzweiß-Fotografien des kirgisischen Künstlerpaars Gulnara Kasmalieva und Muratbek Djumaliev, zeigt, wozu das im schlimmsten Fall führen kann. Was auf der ersten Abbildung noch den Anschein von Betttüchern macht, die zum Trocknen in der Sonne auf dem Rasen ausgelegt wurden, entpuppt sich in der weiteren Bildabfolge als Leichentücher. Die in weiße Laken eingeschnürten anonymen Toten lassen nicht mehr erkennen, welcher Ethnie sie angehören. Kasmalieva und Djumaliev werfen mit dieser Arbeit einen Schatten auf den offiziellen Text der Region. »Shadows« verdeutlicht die anhaltende Tragödie und den Horror der gewalttätigen multi-ethnischen Konflikte zwischen lokalen Kirgisen, Usbeken und Tadschiken, die sich im Ferghana-Tal seit der post-sowjetischen Zeit immer wieder aufbrechen und auch Todesopfer gefordert haben.
Tatsächlich sind Kasmalieva and Djumaliev, die 1960 bzw. 1965 in Bishkek geboren wurden, extrem skeptisch, wenn es um die Frage nach dem Wert der zentralasiatischen Staaten als getrennte Instanzen oder Nationen geht. Sie betonen lieber die starken Beziehungen und die gute Zusammenarbeit zwischen KünstlerInnen der einzelnen Staaten, die sich jenseits der nationalistischen Ambitionen jener, die an der Macht sind, bewegen. Die Möglichkeit, in Moskau und St. Petersburg zu studieren und zur Zeit von Gorbatschows Perestroika weitere Freiräume zu genießen – Kasmalieva nahm zum Beispiel 1988 an einem legendären Untergrundseminar in Estland teil, bei dem neben expressiver Malerei auch erste experimentelle Installationen entstanden –, sensibilisierte sie für solch ein Denken. Für ihre länderübergreifende Sicht haben sie im Bereich der Kunst bereits einiges getan. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit, der sie seit 1998 gemeinsam nachgehen, sind sie die Direktoren der von ihnen ins Leben gerufenen Organisation ArtEast in Bishkek.3 Seit 2002 widmen sie sich damit der Aufgabe, eine lebendige Kunstszene in einem Land zu fördern, dessen gesamte staatliche Infrastruktur zur Bildung und Unterstützung von KünstlerInnen seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr existiert. Insbesondere durch das Angebot von Videoworkshops und durch eine umfassende Bibliothek, die Zugang zu internationalen Kunstdiskursen vermittelt – Bereiche, die an den traditionell orientierten Kunstschulen ihrer Meinung nach bisher zu kurz gekommen sind –, hoffen sie, durch ArtEast die zeitgenössische Kunst in Kirgistan voranzutreiben. Zugleich gehen sie Partnerschaften mit internationalen Kulturorganisationen ein und spielen eine wichtige Rolle für die Kunstproduktion in der übergeordneten Region. Sie organisierten unter anderem die 2. und 3. Internationale Bishkek Ausstellung zeitgenössischer Kunst, »In the Shadow of Heroes« (2005) und »Zone of Risk. Transition« (2006), die Kunstwerke aus Zentralasien und anderen Teilen der Welt zusammenbrachte und lokalen KünstlerInnen einen erweiterten Kontext für ihr Schaffen verschaffte.
Ein weiteres Beispiel für die gute Kommunikation und kulturelle Zusammenarbeit zwischen Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan ist der Erfolg des ersten zentralasiatischen Pavillons bei der 51. Biennale Venedig im Jahr 2005. Der russische Kurator Viktor Misiano initiierte dieses Projekt, das die einzige kirgisische Galerie für zeitgenössische Kunst, die 2003 gegründete Kurama ART, mit ermöglichte. Bereits im April 2004 half dieselbe Galerie mit, die erste Internationale zeitgenössische Kunstausstellung »... and Others in Bishkek« zu organisieren. Mit mehr als 40 Arbeiten wurde ein breites Spektrum zeitgenössischer Kunst vorgestellt, inmitten dessen sich auch die Werke der beiden kirgisischen KünstlerInnen befanden. Man könnte denken, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt die Gegenwartskunst in Kirgistan zu einem nicht mehr zu übersehenden Faktor wurde. Trotzdem, unabhängig vom Eintreten in den globalen Kunstdiskurs durch die Präsenz in Venedig, zählen die Arbeiten von Kasmalieva und Djumaliev immer noch zu jener Art von Kunst, die im eigenen Land wenig Anerkennung findet. Auezkhan Kodar vergleicht die Situation der KünstlerInnen in Kirgistan gar mit dem Vatikan in Rom. Sie bildeten so etwas wie einen Staat innerhalb des Staates, der allerdings nicht sakral und nicht ideologisch sei. Für Kodar sind KünstlerInnen die einzigen Botschafter einer weiten Welt, die allerdings nur sie kennen. Ihre Entfremdung gegenüber ihren Stammesangehörigen wäre kein Geheimnis, aber vielleicht liegt gerade in dieser Entfremdung die Möglichkeit, die kulturelle Situation in Zentralasien zu modernisieren.4
Identitäten und Metaräume
Während der Bezugsrahmen für den kulturellen Diskurs einst durch die Standards der sowjetischen Kultur gesetzt wurde, demzufolge die unterschiedlichen Völker der UdSSR ihrer Identität mehr oder weniger beraubt werden sollten, steht in den unabhängig gewordenen Staaten die Suche nach dem Eigenen an erster Stelle. Nicht zeitgenössische, sondern eine Kunst, die eine traditionelle Vorstellung des Landes entwirft, soll in den neu gegründeten Republiken zur Stärkung der nationalen Identität dienen. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis finden Fragen des historischen Gedächtnisses einen großen Anklang. Auch Gulnara Kasmalievas Performance »Farewell Song« (2001) bezieht sich auf alte kirgisische Traditionen, nur tut sie dies, um sich von ihnen zu verabschieden und sich in eine neue ungewisse Zukunft zu begeben. Sie entwickelt dabei eine Sprache, die eher auf der Zerstörung von ethnografischen Stereotypen aufbaut als auf ihrer Wiedereinführung. Die extrem langen Zöpfe der Künstlerin werden von einer Assistentin mit einem Stück Stoff verwoben, während Kasmalieva in traditioneller Kleidung auf einer Kyl Kiyak spielt, einem zweisaitigen altertümlichen Streichinstrument aus nomadischen Zeiten. Schließlich schneidet sie sich das künstliche Haar ab. Mit dem dekorativ ethnografischen Element geht auch ein Teil ihres echten Haares verloren.
Dass die Idee einer einheitlichen nationalen Identität, wie sie die derzeitigen Führungskräfte so gerne heraufbeschwören, eine Illusion ist, verdeutlichen auch die traditionell ethnischen Momente, Elemente des Islams, des alten sowjetischen Regimes oder auch kapitalistische Einflüsse, die auf den Farbfotografien der Serie »New Menhirs« (2005) nebeneinander existieren. Auf einer der Abbildungen ist ein Mausoleum zu sehen, dessen Türme zum einen mit einem majestätischen Gebirgsziegengeweih – einem zentralasiatischen Symbol für Virilität und Mut – gekrönt sind, zum anderen aber auch von Sternen, vergleichbar mit denen, die sich auf dem Kreml-Turm befinden. Das Aufspüren solcher Bildmotive verdeutlicht, wie ernst dem Künstlerpaar das Anliegen ist, die Region in ihrer kulturellen Vielfältigkeit zu repräsentieren, während der Titel der Serie den damit einhergehenden Schwebezustand zwischen Zukunft und Vergangenheit andeutet. Prähistorische Menhire prägten die Friedhöfe in Zentralasien über Tausende von Jahren, jetzt bezeichnen die beiden, nicht ganz ohne Ironie, die übrig gebliebenen Betonträger von Fabriken als neue Menhire der post-kommunistischen Zeit.
Mit »Trans-Siberian Amazons« (2004), die Arbeit, mit der sie 2005 auf der Biennale in Venedig bekannt wurden, und mit ihrer aktuellsten »A New Silk Road: Algorithm of Survival and Hope« (2006) begeben sie sich aus dem Lokalen in die Metaräume der Region. Beide Werke zeigen, wie die veränderte sozioökonomische Situation für die Einzelnen neue Realitäten schafft. Als transsibirische Amazonen bezeichnen sie kirgisische Koffer-Händlerinnen, deren bevorzugte Handelstrecke die Transsibirische Eisenbahn zwischen China und Zentralasien ist. Diese Frauen überbrücken die Kluft des entstandenen Handelsdefizits nach der Auflösung der Sowjetunion, indem sie das Land mit importierten Gütern aus China beliefern und trotz eines Lebens voller Hindernissen, Beraubungen und Erniedrigungen durch Zollbeamte und die Handelsmafia durchhalten. Ohne eine komplexe narrative Struktur, vor allem durch Schnitt und Sound entsteht ein intimes Bild zweier Koffer-Händlerinnen. Eine der beiden stimmt während der Zugfahrt nostalgisch eine russische Pop-Ballade aus den 1980er Jahren an.
Als Fünfkanal-Videoinstallation, die von 23 Einzelfotografen begleitet wird, ist »A New Silk Road« Kasmalievas und Djumalievs bisher umfangreichste Arbeit; entstanden ist sie im Auftrag einer Ausstellung am Art Institute of Chicago im Frühjahr 2007. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat zu einer Reaktivierung der Seidenstraße in Zentralasien geführt. Heute ziehen allerdings nicht Kamele mit den Schätzen Ostasiens durch die Gegend, wie der Mythos einen sofort glauben lässt, sondern Lastwagenkarawanen mit Altmetallen – den Hinterlassenschaften des russischen Empire. Diese werden von Kirgistan nach West-China gebracht, von wo aus billige Kleidung zurück in das Land strömt. Kasmalievas und Djumalievs Videoinstallation und Fotografien zeigen die neue Realität der alten Handelstraße. Neben traditionellen Dörfern und Gemeinschaften sprießt eine marktorientierte Ökonomie aus provisorischen Posten in der Nähe der Fernstraße, die Angebote für die Reisenden bereithält. Was sich daraus in Zukunft entwickelt, bleibt abzuwarten. Die Tatsache, dass sich dieses Werk um die neu erblühten Handelsbeziehungen mit China dreht, ist aus US-amerikanischer Sicht vielleicht gar nicht so uninteressant. »You are now leaving the American sector« lautet der Spruch auf dem T-Shirt, mit dem der Künstler Said Atabekov neben einem Straßenschild posiert, auf dem »Kirgistan« steht. Seitdem die Amerikaner in Kirgistan anlässlich des Krieges in Afghanistan auf dem Zivilflughafen Manas eine eigene Air Base errichtet haben, wird gemunkelt, ob nicht noch andere Motivationen als der Schutz vor Terrorangriffen vorliegen. Es erscheint offensichtlich, dass sich in der neuen geopolitischen Lage in Zentralasien die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen von Russland, China und den USA durchkreuzen.
Dass sie die globalen Einflüsse in ihrer Region nicht einfach nur hinnehmen wollen, zeigt Kasmalievas und Djumalievs für September dieses Jahres geplantes internationales Ausstellungsprojekt »Boom-Boom« (die 4. Zeitgenössische Kunstausstellung in Bishkek), in das sie neben KünstlerInnen Leute aus den Bereichen Architektur, Design, Anthropologie und wenn möglich auch größere Teile der Bevölkerung mit einbeziehen möchten. Die Idee dazu stammt von Ulan Japarov, der als Architekt 1988 in Frunze (heute Bishkek) an einem bedeutenden alternativen Architekturfestival teilnahm, das konzeptuelle Architekten aus der gesamten Sowjetunion versammelte. Japarov entfaltete aus seiner Architekturpraxis heraus Anstöße für eine zeitgenössische Kunstpraxis in Kirgistan, insbesondere mit dem alternativen Ausstellungsraum MUSEUM studio, und zählt heute zu den Protagonisten der dortigen Kunstszene. Derzeit besteht zum einen ein Interesse an einer Analyse der seit diesem Event vergangenen Zeit. Zum anderen geht es um die Entwicklung neuer Sichtweisen und Strategien des Widerstands gegen eine Globalisierung, die in Zentralasien insbesondere in einem als zerstörerisch empfundenen Bauboom ihren Ausdruck findet.
1 Vgl. die Berichte von Julia Sorokina: Das dritte Asien, in: springerin 1/2002 sowie Georg Schöllhammer: Postsowjetischer Gegenalltag, in: springerin 3/2004.
2 Vgl. Auezkhan Kodar: Modern art as the end of the secret: A viewpoint from Central Asia, in: Art from Central Asia. A Contemporary Archive. Bishkek 2005, S. 13.
3 http://arteast.ktnet.kg/ ; Weitere Informationen über zeitgenössische Kunst in Kirgistan finden sich auf der Webseite von »Päckchen für Kirgistan« (http://www.paeckchen.org/kszene.html). Dabei handelt es sich um ein internationales Ausstellungsprojekt, das im Frühjahr 2008 im Kirgisischen Nationalmuseum für Bildende Künste auf Initiative von Lätitia Norkeit und Maxim Neroda stattfand.
4 Vgl. Art from Central Asia, S. 13.