Heft 4/2008 - My Religion
»Es war dunkel. Missionar Gottes. Er zeigte den Menschen den Weg des Heils. So nannte man ihn Jesus. Begleitet von seinem älteren Bruder. Er ging in den Nordosten seines Landes. Dort befand sich ein Volk, das schwierig zu bekehren war. Um dieses Volk von der Macht, die Gott ihm übertragen hatte, zu überzeugen. Wurde er im Beisein einer großen Menschenmenge zu einem vollkommen weißen Menschen. Das wurde ihm zum Verhängnis; denn Er sollte dies nicht in der Öffentlichkeit tun. Als er derart den Ursprung seiner Farbe verloren hatte, starb Er, abgelehnt von seinem Volk, als Sklave seiner Leidenschaft. Wisset also, dass die von Gott Gesandten zwei Feinde haben: Die Ungläubigkeit der Menschen und die Unvorsichtigkeit des menschlichen Körpers, in welchem diese Gesandten ihre schwere Mission zu erfüllen haben.«
Scheich Nadro, Buch der göttlichen Gesetze, Abschnitt 199, 23. Juni 1948
Frédéric Bruly Bouabré erklärte, im März 1948 eine göttliche Offenbarung gehabt zu haben. Seither betrachtet er sich als Propheten: »Als der Himmel sich vor meinen Augen öffnete und sieben farbige Sonnen einen Kreis voller Schönheit rund um ihre Muttersonne bildeten, wurde ich zu Scheich Nadro – zu jenem, der nicht vergisst.«1 In der Folge erhielt er vom Himmel den Auftrag, seine eigene Religion zu gründen – den Orden der Verfolgten. KritikerInnen schreiben oft, dass die Zeichnungen des heute sehr geschätzten Künstlers in diesen Ereignissen ihren Ursprung hätten. Dennoch gehen die Arbeiten Brulys nicht auf diese Episode zurück,2 ihre Entstehungsgeschichte ist weitaus komplexer. Die ersten, in den 1970er Jahren entstandenen Werke waren Illustrationen von Erzählungen und Sprichwörtern. In der Folge entwickelte Bruly diese Arbeiten systematisch weiter, um »der Armut zu entfliehen«. Dieses Missverständnis hat den Vorteil, sowohl den Erfordernissen der Authentizität Genüge zu leisten, als auch dem Werk rückblickend Kohärenz zu verleihen. Aber abgesehen von oberflächlichen Erklärungen könnte man versuchen, einen Grund für diese falsche Darstellung zu finden, die einen viel umfassenderen Werdegang, als man auf den ersten Blick meinen möchte, entstellt, indem sie ihn vereinfacht. Wenn wir versuchen, diesen Reichtum zu erfassen, müssen wir für den Augenblick den Künstler beiseitelassen und uns auf den Propheten konzentrieren. Es geht nicht darum, den einen gegen den anderen auszuspielen, sondern einen grundlegenden Aspekt in der Laufbahn Brulys herauszuarbeiten, der die Beziehung seines Werkes und Werdegangs zur Geschichte seines Landes aufzeigt – einer Geschichte, die vom Auftreten mehrer Propheten gekennzeichnet ist, in der aber jener Mythos des Alten, der die Weisheit der Vorfahren weiterträgt, mit dem man Bruly so gerne umgibt, kaum Platz hat.
In der Geschichte der Elfenbeinküste wimmelt es seit den 1920er Jahren nur so von Prophetengestalten, es entstand eine regelrechte prophetische Tradition, bestehend aus Abstammungsherleitungen und Identifikationen.3 In dieser Tradition kommt charismatischen Persönlichkeiten im Sinne Max Webers ein besonderer Platz zu, von denen manche sogar in die Identität einer »schwarzen Christuspersönlichkeit« schlüpfen und sich an der Spitze synkretistischer Bewegungen stellen. Ihr ausgewiesenes Ziel besteht darin, die BewohnerInnen der Elfenbeinküste – oder noch besser, die AfrikanerInnen ganz allgemein –, zu Gleichgestellten der Weißen zu machen oder diese sogar noch zu übertreffen. Diese religiösen Persönlichkeiten kämpfen gegen »Fetischismus« und »Zauberei« zugunsten eines einzigen Gottes. Ihre Reden drehen sich um religiöse und politische Themen, in denen Afrozentrismus bunt mit therapeutischen Praktiken, nationalistischer Ideologie und Jahrtausendwende-Heilsbotschaften gemischt wird.
Als Bruly bei seiner Rückkehr aus Dakar im Jahr 1958 seine eigene Religion in Zépréguhé gründen wollte, jenem Dorf im mittleren Westen der Elfenbeinküste, aus dem Bruly stammte, hatte die Dynamik der prophetischen Szene gerade ihren Höhepunkt erreicht.4 Manche Bewegungen, die in den 1930er bis 1940er Jahren entstanden waren, integrierten ihre Bewegung in die Kirche, wohingegen andere – jünger und opportunistischer – sich in therapeutischen Dörfern organisierten. Die Erhöhung des Angebots, also Konkurrenz, in Kombination mit einer wankelmütigen Anhängerschaft untergrub schlecht strukturierte Bewegungen. Auf diesem Gebiet, wo Dauerhaftigkeit ein Beweis für Stärke ist, war Stabilität eine Errungenschaft, bei der Bruly keine Abstriche machen konnte. Seine vielleicht in ein zu enges rituelles Korsett eingebettete Religion fügte sich nie in die von Propheten gekennzeichnete Religionslandschaft der Elfenbeinküste ein. Doch ohne diese Etappe der Sozialisierung sind schwer, einerseits die (therapeutischen?) Absichten und andererseits die »Liturgie« der Prophezeiungen Brulys greifbar zu machen. Außer dem »Buch der göttlichen Gesetze« bleibt kaum etwas Greifbares, das in materieller Hinsicht von Scheich Nadro zeugen würde. In dieser Handschrift befinden sich die Anweisungen, die Gott dem Propheten mitteilte. Dieser zeichnete sie täglich in Form kurzer, mit dem genauen Datum versehener Absätze auf. Der Rhythmus der Mitteilungen wurde nach 1951 langsamer und endete im Jahr 1963.
Liest man das »Buch der göttlichen Gesetze«, so wird jedoch ein Punkt dieses in der Anfangsphase steckenden Kults Brulys deutlich: Dieser predigt Ökumene und Toleranz gegenüber den Religionen des Buches, aber auch gegenüber den so genannten traditionellen Religionen, was im krassen Gegensatz zu der Unnachgiebigkeit der meisten Propheten der Elfenbeinküste steht. Wie für die Mehrheit der unabhängigen Kirchen und auf Prophezeiungen beruhenden Kulte in Afrika stellt auch für Bruly das Alte Testament jenes bevorzugte Werk dar, aus dem er das Schema Unterdrückung/Annahme des Heils ableitet, das als Grundlage zur Beschreibung der Ethik des Ordens der Verfolgten dient. Bruly behauptet, dass die Opfer einer Unterdrückung ihren Unterdrückern überlegen seien. Genauer gesagt, schreibt er: »Es existieren zwei Gemeinschaften in der Welt. Die eine Gemeinschaft ist gut, die andere böse. Eine schwarze Gemeinschaft ist meist auf der Seite der Guten«. Vor allem an diese Gemeinschaft richtet sich der Orden der Verfolgten. Brulys Orden folgt somit einem in vielen afrozentristischen Bewegungen in Afrika und Amerika verbreiteten Modell, bei dem die Geschichte der Schwarzen in Analogie zur Verfolgung der Juden interpretiert wird, wobei man in manchen Fällen sogar soweit geht, die AfrikanerInnen als den Ursprung des jüdischen Volkes zu betrachten. In ihrer Eigenschaft als Verfolgte erscheinen AfrikanerInnen bei Bruly – aber auch bei anderen – als das auserwählte Volk.
Der für das Denken Brulys charakteristische Afrozentrismus kommt in zahlreichen seiner Zeichnungen klar zum Ausdruck, insbesondere dort, wo Bruly mehr oder weniger explizit darstellt, dass die ältesten Zivilisationen in Afrika entstanden sind, dass der Einfluss Afrikas für den Rest der Welt prägend war, oder auch dort, wo er unsere Stammeltern Adam und Eva als Schwarze zeigt. Dieses Thema tritt auch in manchen Erzählungen wie zum Beispiel »Domin et Zézé« auf, wobei festzustellen ist, dass der damalige Untertitel dieser aus dem Jahr 1964 stammenden Erzählung »Die Reihenfolge des Auftauchens der menschlichen Rassen auf der Erde« bei der Veröffentlichung des Werkes im Jahr 1994 fehlte.5 Allerdings kommt es durch diesen, in den Schriften Brulys offensichtlichen Afrozentrismus nie zu einem Konflikt mit dessen Humanismus. Sobald die Teleologie der Dinge klargestellt ist, findet Bruly sowohl in seiner Eigenschaft als Prophet wie auch als Künstler friedliche Worte für die universelle Verbundenheit der Menschheit. Diese Bemerkungen werden jedoch leider nur allzu oft außerhalb des historischen und biografischen Kontextes zitiert, wodurch sie vollkommen naiv erscheinen. Daher ist das Werk Brulys nicht für seine Komplexität und noch weniger für dessen innere Widersprüche bekannt, sondern es gilt als einfach – eine Eigenschaft, die ihm die Kritik mehr oder weniger angedichtet hat.
Zwar verriet Bruly niemals seine Beziehung zu Gott, doch seine Laufbahn als Prophet reduzierte sich nach und nach gegen null. Die systematische Aufzeichnung der Offenbarungen endete, wie gesagt, im Jahr 1963. Das »Buch der Gesetze« fand danach seinen Ausdruck in den Zeichnungen des Propheten. Bruly versuchte, die stärksten sinnbildlichen Offenbarungen daraus darzustellen, zu denen noch neue, nur in Form von Bildern dargestellte, Enthüllungen kamen, obwohl die Zeichnungen damals nicht in der Öffentlichkeit gezeigt wurden.6 Bruly selbst war der Ansicht, mit seinen Prophezeiungen keineswegs gescheitert zu sein, weil, wie er behauptet, seine Religion niemals auf Bekehrungen und die Schaffung einer Gemeinde von Gläubigen ausgerichtet gewesen sei. Dazu kann man nur sagen, dass Bruly seit einigen Jahren – im Gegensatz zu früher – in sehr ungezwungener Weise in seiner Eigenschaft als Prophet auftritt. Nun, wo er dank seines Erfolges von allen materiellen Sorgen befreit ist, scheint er die volle Verantwortung für seine Sendung zu übernehmen. Zwar ist der Orden der Verfolgten immer noch eine theoretische Religion, doch die Zeichnungen eröffneten Bruly ein anderes Gebiet für Offenbarungen, das er für sein ureigenstes hält, indem er behauptet: »Ich war es, der zum ersten Mal auf die Vorstellung hinwies, dass Gott schreibt, dass Gott ein Schriftsteller ist. Ich spreche von göttlichem Schreiben.« Göttliches Schreiben, das Bruly auch »Schreiben der Toten« nennt und dessen Zeichen er sammelt, transkribiert und deutet, ist ihm zufolge in ein Bezugssystem menschlichen Schreibens eingebettet. Für ihn stellt sich die Welt als ein Buch dar, in das Gott schreibt – durch Wesen, Gegenstände, Phänomene und Spuren.
Somit geht es Bruly darum, mit seinen Zeichnungen und der in ihrer Gesamtheit grafisch gedeuteten Welt, die diesen zu Grunde liegt, die Existenz Gottes zu beweisen. Dafür ist die Welt der Kunst sein wichtigster Verbündeter – was Bruly sehr schnell feststellte. Uns bleibt nichts zu tun, als diese Tatsache anzuerkennen und uns zu fragen, ob es im Gegensatz zu dem, was gemeinhin angenommen wird, nicht eher sein künstlerischer Werdegang war, der sein Dasein als Prophet beflügelte als umgekehrt.
Mein Dank gilt Dominique Malaquais für ihre sorgfältige Lektüre.
Übersetzt von Isolde Schmitt
1 Diese Worte Bruly Bouabrés stammen aus den zwischen Mai und Juli 2002 in Abidjan geführten Interviews.
2 Auch wenn es keinerlei Beweise gibt, ist dennoch nicht auszuschließen, dass Bouabré – wie andere afrikanische Propheten – seine Visionen zu Papier brachte.
3 Bezüglich eines vollständigen Überblicks über die prophetischen Kulte an der Elfenbeinküste siehe Jean-Pierre Dozon, La Cause des Prophètes. Politique et Religion en Afrique Contemporaine. Paris 1995.
4 Eine Beschreibung der Gründungszeremonie der Religion Bruly Bouabrés/Scheich Nadros ist bei Denise Paulme unter dem Titel »Naissance d’un culte africain« in den Cahiers d’Etudes Africaines, 149, 1998, S. 5–16 zu finden.
5 Frédéric Bruly Bouabré, La Légende de Domin et Zézé. Paris 1994. Ebenso meint Bruly, die Weißen seien die Nachkommen schwarzer Albinos. Da sie ihm zufolge das Klima in Afrika nicht mehr aushielten, wanderten sie in gemäßigtere Zonen aus. Diese in afrozentristischen Kreisen populäre Theorie führt in extremis zu einem Umweltdeterminismus, der eine tiefe Dichotomie zwischen Schwarzen und Weißen verursacht. Bouabré zieht es vor, ausgehend von dieser Ansicht einer einheitlichen Herkunft auf eine universelle Verwandtschaft der Menschheit zu schließen.
6 Die Zeichnungen wurden zum ersten Mal im Rahmen der 1989 stattgefundenen Ausstellung »Magiciens de la terre« der Öffentlichkeit vorgestellt. Zuvor lagerten die sehr zahlreichen Werke in Jutesäcken, um auf der Straße verkauft zu werden.