Heft 4/2008 - My Religion
Es gibt ohne Zweifel eine Renaissance der Religionen. Das trifft nicht nur für den Islam zu, auch christliche Erweckungsbewegungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Ein Phänomen, das die modernisierungstheoretische Annahme von einer wachsenden Säkularisierung ausdifferenzierter Gesellschaften offensichtlich widerlegt.
Vor allem die »aufgeklärte Linke« tut sich damit schwer. Hatten sich die religiösen Anliegen der Menschen nicht durch die Logik des historischen Prozesses längst erledigt? Die Marx’sche »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« scheint diese Annahme zu bestätigen: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.« Mit der Religionskritik kommt der Mensch endlich zu Verstand. »Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.« (MEW 1: 378 ff.) Doch im Gegensatz zu einer vulgär-materialistischen Lesart verhandelt Marx in der »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« den religiösen Glauben auch als eine Quelle der Revolte: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.«
Geschichte als Heilsgeschichte
Während das Christentum die Erlösung in der Innerlichkeit der Seele erwartet, findet für Marx die Emanzipation der Menschen im öffentlichen Raum der Geschichte statt. Folgt man Religionswissenschaftlern wie Eric Voegelin oder Jacob Taubes, dann ist die Geschichtsphilosophie nicht frei von »theologischen Mucken«: Sie interpretiere die Weltgeschichte als sinnvolles Geschehen, das letztlich zum Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Welt und zum Kommunismus führe. Mit der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft habe Marx die religiöse Vorstellung der »messianischen Zeit« lediglich säkularisiert.
Tatsächlich vollzieht sich aus christlicher (wie auch jüdischer) Sicht die Geschichte nicht in einem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, sondern am Anfang steht die göttliche Schöpfung und am Ende die Erlösung. Geschichte ist Heilsgeschichte, die immer wieder Neues gebiert und auf ein Finale hinsteuert. Und am Ende steht das Jüngste Gericht.
Die Vorstellung des Letzten Gerichts bzw. Jüngsten Gerichts ist bereits im Alten Testament angelegt und wird im Neuen Testament lediglich verfeinert. Bei der Lehre von den »letzten Dingen« (= Eschatologie) handelt es sich um ein umfassendes Erzählwerk, das hier nur in wenigen Stichworten vorgestellt werden kann: Dem Jüngsten Tag gehen einige Ereignisse voraus, denn, so der Apostel Paulus (dem eigentlichen Gründer der christlichen Kirche) im zweiten Brief an die Thessalonicher, zuvor muss »der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offenbart werden«. Der Antichrist. Er wird all diejenigen verführen und schließlich ins Verderben stürzen, die »die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben«. Dann erst erscheint der Herr und tötet den Widersacher »mit dem Hauch seines Mundes«. Durch einen Aufruhr der Naturkräfte kündigt sich das Weltgericht an; jetzt wird das Korn von der Spreu geschieden und damit ein endgültiges Urteil für das Jenseits (Paradies oder Hölle) gefällt.
Was die apokalyptische Dramatik anbetrifft, erweist sich die »Offenbarung des Johannes« unschlagbar. Sie wurde gegen Ende des 1. Jahrhunderts aufgezeichnet, in einer Zeit der Christenverfolgungen. Aus dieser Situation heraus schrieb Johannes, der eine bedeutende Autorität der kleinasiatischen Gemeinde war, seine Visionen nieder. In grellen Bildern des Schreckens wird hier die irdische Macht als unversöhnliche Feindin der christlichen Kirche, als Antichrist geschildert. Rom war für den Apostel zu einer dämonischen Macht geworden, der Endkampf mit dem Bösen hatte nun begonnen: Der Messias werde wiederkehren, die ganze Schar der Gottlosen mit Feuer und Schwert ausmerzen und dann ein paradiesisches Königreich auf der Erde errichten. Dort finden die wenigen Auserwählten (»Heiliger Rest«) für tausend Jahre eine Aufnahme. Nach dem Abschluss dieser Epoche (»Millennium«) erfolgt die Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht.
Aber wann wird sich »das Sein enthüllen« (= Apokalypse)? Im apokalyptischen Denken wird das Ende nicht bloß ersehnt, man lebt in dem Wissen, dass es im Kommen ist. Vor allem die Christen der Antike warteten inbrünstig auf die Wiederkunft des Herrn. Als aber die Parusie (»Ankunft des Messias«) auf sich warten ließ, begannen führende Theologen die Offenbarung des Johannes als rein seelisches Gleichnis umzudeuten. Nachdem das Christentum von Kaiser Constantin (300 n. Chr.) zur offiziellen Staatsreligion erklärt wurde, verdammten die mächtig gewordenen Kirchenväter die Millenniumsvorstellungen als häretische Irrlehre. Die Gläubigen sollten vielmehr für den Erhalt des Staates beten, der vor den Barbaren und dem Chaos schützte. Galt Rom zuvor noch als die »Hure Babylon«, so rückte es nun in die Nähe des himmlischen Jerusalems, der Stadt des kommenden Gottesreiches.
Doch die mobilisierende Kraft der apokalyptischen Überlieferung konnte nie völlig unterdrückt werden. Über die Figur des Antichristen, der zum Standardrepertoire der kirchlichen Doxa gehörte, wurde das Wissen um die »Enthüllung des Seins« am Leben gehalten. Vor allem in der Krisenepoche der beginnenden Neuzeit erschütterten messianische und chiliastische (= tausend) Erweckungsbewegungen die feudale Ordnung. Man denke nur an Thomas Müntzer und die Wiedertäufer, die sozusagen die »Linke« innerhalb der Lutheranischen Reformation bildeten. Friedrich Engels oder der marxistische Philosoph Ernst Bloch sahen in ihnen die Vorläufer der kommunistischen Bewegung.
Im späten 17. Jahrhundert setzte in Europa nach den leidvollen Erfahrungen blutiger Religionskriege ein Umdenken ein. Die aufkommenden modernen Wissenschaften entzauberten sukzessive die biblische Kosmologie und neue philosophische Fragestellungen nagten an der Autorität der Kirche. Auch die Ausbildung der absolutistischen Territorialgewalt, die sich aus den Wirren der Religions- und Bürgerkriege als souveräner Ordnungsfaktor durchsetzte, trug durch die Toleranzidee zu einer Beruhigung religiöser Streitfragen bei. Die öffentlichen Belange waren nun der Kompetenz des Gewissens entzogen, es fiel in die alleinige Befugnis des Fürsten. Soweit der Untertan seiner Gehorsamspflicht genügte, nahm die Obrigkeit von seinen Überzeugungen nur wenig Notiz. Der Souverän verlangte von seinem Untertan moralische Neutralität, überließ ihm aber gleichzeitig einen aus Staat und Gesellschaft ausgegrenzten Privatraum, der dem Menschen für seine individuellen Überzeugungen vorbehalten blieb. So entstand allmählich jene Unterscheidung von Politik und Religion, die bis heute als eine wesentliche Errungenschaft der Moderne gilt.
Der Säkularisierungsprozess in Westeuropa führte schließlich dazu, dass das Böse auf keinen heilsgeschichtlichen Nenner mehr zu bringen war. Ebenso verstärkten sich vor allem im liberalen Protestantismus Bestrebungen, das Alte Testament aus der Bibel zu entfernen. Der jüdische Schöpfergott, mit seiner gewalttätigen Willkür und Rachsüchtigkeit konnte nicht mit dem Lamm Gottes der reinen Liebe identisch sein. Dieses Auseinanderdividieren von Schöpfer-Gott und Erlöser-Gott wirkt bis heute nach: Dafür steht der süßliche Latschen-Hippie Jesus, der alle Menschen ganz, ganz lieb hat.
Und die Bibel hat doch Recht!
Dem Absolutismus und der Aufklärung gelang es zwar, die religiösen Erregungen einzuhegen, aber die Sehnsucht nach dem himmlischen Jerusalem blieb weiterhin virulent. Vor allem die nordamerikanischen Kolonien entwickelten sich zu einem Refugium für protestantische Sekten. An erster Stelle sind hier die puritanischen Pilgerväter zu nennen, die in Neu-England zu siedeln begannen und dort nach den Vorgaben der Mosaischen Gesetze eine theokratische Ordnung errichteten.
Der Ursprung des sog. Evangelikalismus liegt in den Erweckungsbewegungen, die seit dem 18. Jahrhundert in regelmäßigen Abständen immer wieder das Land erfassten und die US-amerikanische Gesellschaft tief geprägt haben. Es handelt sich dabei um eine ausgesprochen heterogene Glaubensströmung, die von den Altreformierten mit ihrem strikten Prädestinationsglauben bis hin zu den radikalpazifistischen Mennoniten reicht. Zusammengehalten wird die Bewegung durch eine wortgetreue Bibelexegese, die Betonung der individuellen Bekehrung und einem missionarischen Sendungsbewusstsein. Der Kulturhistoriker Michael Hochgeschwender weist in seiner Studie über den Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten darauf hin, dass die evangelikale Frömmigkeit auch progressive Züge besaß. Die »Erweckten« waren insoweit modern, als sie sich für Kapitalismus und »Basisdemokratie« einsetzten und gegen eine institutionelle Hierarchisierung der Glaubensauslegung das Recht auf eine subjektive, individuelle Frömmigkeit einklagten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als liberalere theologische Lehrmeinungen an Einfluss gewannen, die sich auch gegenüber den modernen Geistes- und Naturwissenschaften öffneten, entbrannte innerhalb des US-amerikanischen Protestantismus eine heftige Auseinandersetzung um die Evolutionstheorie und die Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte. Da nach dem Credo der Evangelikalen die Erde höchstens 6000 Jahre alt sein konnte, wollte man die Lehre Darwins an den öffentlichen Schulen verbieten lassen. Tatsächlich kam es in einer Reihe von Bundesstaaten zu entsprechenden Erlassen. Erst 1968 erklärte das oberste Bundesgericht solche Gesetze für verfassungswidrig. Doch die christlichen Anti-Evolutionisten gaben nicht auf. Vielmehr versuchten sie nun, den eigenen Glaubensüberzeugungen ein wissenschaftliches Gesicht zu geben. Dafür wurde unter anderem 1970 das Institute for Creation Science gegründet. Der so genannte Kreationismus behauptet, dass die Entstehung der Erde und die Entwicklung des Lebens allein aufgrund der biblischen Schöpfungsgeschichte erklärt werden kann.
Als eine paradoxe Folge der Emanzipationsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre sind die Evangelikalen in den letzten Jahrzehnten wieder zu einer bedeutenden Meinungsmacht aufgestiegen. Die damalige »Kulturrevolution« hat in Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft heftige Gegenreaktionen provoziert. Mit Themen wie Schulgebet, Abtreibung, Pornografie, Homosexualität, Familie und Schöpfungslehre versuchen die Fundamentalisten systematisch ihren Einfluss auf die Politik zu verstärken. Präsidentschaftskandidaten, die Aussicht auf Erfolg haben wollen, müssen erhebliche programmatische Zugeständnisse an solche religiösen Gruppen machen, denn immerhin bekennt sich ein Drittel aller StaatsbürgerInnen als »reborn Christians«. Als Hochburgen der Evangelikalen gelten suburbane Mittelstandsenklaven, in denen ein erzkonservativer Wertehorizont vorherrscht. Dort ist man stolz auf die eigenen Leistungen und distanziert sich von den »Verlierern« in den städtischen Zentren. Die enge Verbindung von Neofundamentalismus und Wirtschaftsliberalismus hat somit ihre direkten Wurzeln in den Suburbs.
Während es den Kreationisten inzwischen gelungen ist, weite Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Evolutionslehre unwahr oder zumindest lückenhaft ist, bleiben weltabgewandte, eschatologische Strömungen bislang eine Randerscheinung. Symptomatisch ist eher der kommerzielle Erfolg des evangelikalen Predigers Tim LaHaye, einer der gegenwärtig populärsten Autoren in den Vereinigten Staaten. Seine apokalyptischen Endzeit-Romane unter dem Obertitel »Left Behind« (»Zurückgelassen«, »Ausgeschlossen«), die genüsslich das blutige Gemetzel unter den bekehrungsresistenten Ungläubigen schildern, haben sich bislang mit mehr als 60 Millionen Exemplaren verkauft.
Neben den Evangelikalen stellt die Pfingstbewegung eine einflussreiche Glaubensrichtung dar. Ihre AnhängerInnen sind beseelt von der unmittelbaren Erfahrung mit dem Heiligen Geist als dritte Person des »Dreieinigen Gottes«. Während der Evangelikale die Richtschnur für sein Handeln in der buchstäblichen Lektüre der Heiligen Schrift findet, speist der »Pfingstler« seine Glaubenskraft aus der subjektiv-persönlichen Begegnung mit den himmlischen Mächten. Dieses Erlebnis, das sich auch in Formen von Verzückung und Trancezuständen äußert, ist wesentlicher Bestandteil des charismatischen Gottesdienstes. Krankenheilungen bilden dabei die »Highlights«: Blinde werden sehend, Lahme können wieder gehen. Ähnlich wie die Evangelikalen legen die Pfingstbewegten großen Wert auf die Unabhängigkeit der lokalen Gemeinden, sie sind stark medienorientiert und patriotisch gesinnt. Insbesondere gibt es eine vorbehaltlose Akzeptanz des kapitalistischen Reichtums.
Die Vitalität des US-amerikanischen Religionsmarktes verdankt sich vor allem seiner pluralistischen Struktur: Für jedes Identitätskonzept – ob pazifistischer Vegetarier oder waffenvernarrter Patriot – gibt es die passende Kirche im Angebot. Ein solch maßgeschneiderter Gott steht den Gläubigen viel näher, als dies in den europäischen Amtskirchen je der Fall sein könnte.
Gerade bei der Pfingstbewegung handelt es sich um ein globales Phänomen. Der Urbanist Mike Davis hat darauf hingewiesen, dass diese Strömung als Gegenpart zum islamischen Fundamentalismus in vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Slums zu einer Massenreligion geworden ist. Sie fülle jenes ideologische Vakuum auf, das die abwesende Linke seit den 1980er Jahren hinterlassen habe. Inzwischen stellt das Christentum in seiner Mehrheit keine westliche Erscheinung mehr dar, sondern zwei Drittel seiner Gläubigen lebt im Trikont.
ReligionswissenschaftlerInnen gehen davon aus, dass die christlichen Kirchen des 21. Jahrhunderts von den fundamentalistischen, anti-liberalen Vorgaben der Erweckungsbewegungen stark geprägt sein werden.
Auch in Europa. Als Hinweis sei hier eine Initiative des Kulturausschusses im Europarat erwähnt, die 2007 die Mitgliedsländer dazu aufforderte, den Kreationismus nicht als gleichberechtigte Wissenschaftsdisziplin neben der Evolutionstheorie im Schulunterricht zuzulassen. Anlass für die Intervention waren die zunehmenden Versuche von PolitikerInnen in Staaten wie Holland, Polen, Deutschland und Italien die Schulen für den Kreationismus zu öffnen. Die Resolution über »Die Gefahren des Kreationismus« wurde übrigens mit knapper Mehrheit vom europäischen Parlament abgelehnt.
Das Vermächtnis des Christentums
Parallel zur Renaissance der Religionen gibt es auch eine Renaissance der Religionskritik. Eine Reihe von kritisch-materialistischen Denkern bezieht sich in ihren Arbeiten auf die Religion, insbesondere auf das Christentum. So verhandeln beispielsweise die Philosophen Alain Badiou und Slavoj Zizek das christliche Erbe als etwas, das verteidigt werden sollte.
Dabei hat die Frage nach der richtigen Auslegung des »Paulinischen Universalismus« eine zentrale Bedeutung. Es geht um das Versprechen des Evangeliums, sich »an alle« zu richten: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Brief des Paulus an die Galater 3, Vers 28) Zugleich wendet sich Paulus dagegen, dass der Zugang zur »Wahrheit« nur den Eliten vorbehalten sei. »Sehet an, liebe Brüder, (…) nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet.« (1. Korintherbrief, Vers 26)
Für die Antike nimmt Paulus damit eine radikale Umwertung der Werte vor. Die Ungleichheit der Menschen – die Unterdrückung der Schwachen durch die Starken – stellte aus griechischer oder römischer Sicht nicht nur eine unabänderliche natürliche Gegebenheit dar, sondern war geradezu die Bedingung der Möglichkeit menschlicher (männlicher) Entfaltung. Für die klassische Philosophie war die Wahrheit nur einigen zugänglich. Paulus hingegen verbindet die Theologie des Kreuzes mit einer Umkehrung der Elitenvorstellung. Nicht die Edlen sind die Erwählten, sondern die Unedlen, die Schwachen. Es verwundert deshalb nicht, dass es Stimmen im rechten Lager gibt, die von einem »Bolschewismus des Christentums« sprechen. Bolschewistisch deshalb, weil die Botschaft an alle geht, und damit eine neue Konzeption von Wahrheit etabliert wird, die über Metamorphosen bis zu Marx reicht: Der Weg zur Wahrheit ist schwer, aber am Ende können alle durch die Praxis der Geschichte daran teilhaben.
Zizek und Badiou wollen mit ihrer Verteidigung des Christentums die intellektuellen »Waffen« des politischen Aktivismus mit einem neuen Begriff von universeller Wahrheit schärfen, nachdem die »Waffen« der Differenz stumpf geworden sind. Das christliche Erbe mit seinem universalistischen Anspruch stellt für sie ein wesentliches Fundament für die Kritik an den Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen des neoliberalen Kapitalismus dar. Zugleich glauben sie aus ihrer Paulus-Lektüre ein »starkes Subjekt« herausdestillieren zu können. Das »Paulinische Subjekt«, angetrieben vom unbedingten Willen zur (übernatürlichen) Hoffnung, bricht mit der Welt, wie sie ist. So fordert Jesus im Neuen Testament seine Jünger auf, alles Eigene und Vertraute hinter sich zu lassen: »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwester und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.« (Lukas 14, Vers 26) Was Zizek und Badiou offensichtlich fasziniert, ist der Vorgang der radikalen Dezision (Entscheidung), bei dem sich das »Hoffnungs-Subjekt« nicht nach dem richtet, was in der Gesellschaft als akzeptabel oder machbar gilt, sondern sich bis zur Selbstaufgabe dem Wahrheits-Ereignis unterordnet. Mit der Figur des militanten Kämpfers, der kompromisslos für das Gleichheitsprinzip der Menschen eintritt, versuchen sie an das leninistische Avantgarde-Konzept anzuknüpfen. Doch gegen die Vorstellung einer politisch-eschatologischen Dezision, die das »stählerne Gehäuse« des Kapitalismus per Willensakt aufbrechen will, sei noch mal eine Passage aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zitiert: »Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. (…). Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.«
Literatur:
Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus. München 2002.
Mike Davis, Planet der Slums. Berlin 2007.
Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou – Agamben –Zizek – Santner. Wien 2007.
Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus. Frankfurt am Main/Leipzig 2007.
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1. Berlin 2006, S. 378–391.
Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie. München 1991.
Jacob Taubes, Die politische Theologie des Paulus. München 1993.
Eric Voegelin, Die Krise. Zur Pathologie des modernen Geistes. München 2008.
Slavoj Zizek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Frankfurt am Main 2003.