Heft 4/2008


My Religion

Editorial


Einer der beständigsten Mythen der westlichen Moderne besagt, dass die Säkularisierung der Lebenswelten unaufhaltsam fortschreite. Die Frontlinie, welche dieser Bewegung allenfalls entgegenstehe, sei jene zwischen Islam und Moderne. Doch dem islamischen steht längst ein christologischer Fundamentalismus gegenüber, der nicht nur in der teils erbittert geführten anti-evolutionären Abwehroffensive der Kreationisten im »Bibel-Gürtel« der USA oder in den evangelikalen Massenbewegungen Westafrikas oder Südamerikas Zulauf findet. Ein erstarkender katholischer Antiliberalismus in Süd- und Ost-Europa, der wachsende politische Einfluss der Orthodoxie in Russland und die Konjunktur diverser Sekten allenthalben – die Wiederkehr religiöser Fundamentalismen ist nicht nur ein mediales Schlagwort.
Reflexen dieser Entwicklung, die im und gegen das Kunstfeld vielfältig sichtbar werden, widmet sich das Heft »My Religion«. Sven Lütticken setzt in seinem Beitrag bei einem der sichtbarsten – und kontroversesten – Symptome der neueren »Religions-Clashes« an, dem Schleier. Nicht an einer Ergründung der damit einhergehenden kulturellen Symbolik ist ihm gelegen, sondern an der Frage, welche verborgenen fundamentalistischen Tendenzen die Auseinandersetzung darum auf Seiten der vermeintlichen Aufklärung, des sich liberal gebenden Westens, zu Tage fördert. Eignet der Spektakelkultur per se ein Hang zur bedingungslosen Sichtbarmachung an, so besteht die Kehrseite davon in einer Art abstrahierenden Verschleierung, die den Status und die voranschreitende Degradierung der »lebendigen Waren« verdeckt. Nicht der impliziten Verblendung, sondern der ganz bewussten Verknüpfung von Politik, Religion und neuer oligarchischer Elite in Russland geht Keti Chukhrov in ihrer Diskussion aktueller Sakralisierungstendenzen nach. Welche Inanspruchnahme die orthodoxe Kirche in diesem Zusammenhang erfährt, ist insofern aufschlussreich, als es dabei weniger um eine ideologische Abgleichung als vielmehr um eine Kompensationsfunktion im Hinblick auf Spiritualität und Profit geht.
Der Kirche, in diesem Fall der armenisch-apostolischen, als einer fundamentalen Verbündeten der nationalistischen Regierung widmet sich der Beitrag von Vardan Azatyan. Selbst in neoavantgardistischen Künstlerzirkeln ist man bislang gewillt, diese Verbindung als gegeben hinzunehmen, so dadurch der alte Erzfeind, die Sowjetkultur, nachträglich in seine Schranken gewiesen wird. Mit einem ganz anderen Vermächtnis des Sowjetimperiums, und zwar der erzkatholischen Reaktion in Polen, beschäftigt sich Piotr Piotrowski. Der Anlass sind mehrere Zensurfälle der letzten Jahre, bei denen die Freiheit der Kunst zugunsten der Achtung religiöser Ansinnen aufgehoben erschien. Piotrowski legt jene Diskursschichten frei, auf denen der autoritäre bis feindselige Umgang mit Kunst beruht, ohne dass das Projekt einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung, so es überhaupt noch von jemandem ernsthaft in Anspruch genommen wird, dem groß etwas entgegenhalten könnte.
Dieser und weitere Beiträge, etwa über das vertrackte Verhältnis zwischen Kultur und Kirche in Südamerika, machen deutlich, dass das westlich-liberale Säkularisierungsdenken immer wieder mit Kehrseiten konfrontiert ist, die es nicht so leicht loswird. Ob dies letztlich mit einer strukturellen Blindheit im Kern dieses Denkens selbst zu tun hat, ist eine Fragestellung, die über den Themenbereich dieses Heftes weit hinausgeht.