Heft 4/2008 - My Religion


Geisterhafte ikonische Erscheinungen

Interview mit Tony Chakar über entheiligte Ikonen, den Raum der Katastrophe und die Nachwirkungen der Libanesischen Bürgerkriege

Ellen Mara De Wachter


Ellen Mara De Wachter: Das Schreiben scheint bei Ihnen als künstlerisches Medium einen privilegierten Stellenwert einzunehmen. Warum? Deleuze meinte in einem Interview einmal: »Nur Schreiben ist rein, Sprechen ist reines Charmantsein.« Was halten Sie davon?

Tony Chakar: Die Beziehung zwischen Text und Bild war lange Zeit problematisch, und an gewissen Punkten schien es, als hätten wir es mit völlig unterschiedlichen Gebilden zu tun: Das eine befasste sich mit Konzepten und Ideen, während sich das andere immer wieder auf den Bereich des Darstellenden bezog, mit allem, was die Idee der »Darstellung« beinhaltet: das Nicht-Authentische, das Falsche, die Spiegelung usw. So ist es nicht immer gewesen. Nehmen Sie die Ikone in der orthodoxen Tradition, zum Beispiel; im Arabischen würden Sie nie sagen, dass Sie »eine Ikone zeichnen« (R/S/M; arabischer Verbstamm, Anm. d. Übers.), Ikonen werden vielmehr »geschrieben« (K/T/B). Ikonen sind Texte, wenn auch bildliche. Zudem ist die Ikone keine Darstellung von etwas, sie repräsentiert nichts, sondern sie gilt als das Erste Bild (daher ihre Heiligkeit). Ikonen sind Verkörperungen, genauso wie die Göttliche Natur Christi in Christus, dem Menschen, verkörpert ist. Dadurch wird die strikte Trennung, von der ich vorher gesprochen habe, immer weiter verzerrt, und vielleicht ließe sich so dieses problematische Thema neu überdenken. Verstehen wir dieses theoretische Beispiel allegorisch und aus der Perspektive unserer (post-)modernen Zeit, so könnte man zudem behaupten, dass alles, was wirklich modern ist, auf der Oberfläche eingeschrieben ist, auf der Oberfläche der Dinge, die uns umgeben. Die Authentizität der Moderne liegt auf ihrer Oberfläche, und sie manifestiert sich als Text-Gestalt, als ent-heiligte Ikone. So betrachtet, macht dies unsere Welt aus, die Welt, in der wir uns bewegen und in der wir ständig die Positionen verändern, in der wir umgeben sind von geisterhaften, ikonischen Erscheinungen; und aus dieser Sichtweise ist die Verwendung von Text auch nichts allzu Besonderes, so ist einfach die Welt.
Was Deleuze und seine Unterscheidung anbelangt, kann ich diese nicht kommentieren, weil ich mit seiner Arbeit und seiner Terminologie nicht wirklich vertraut bin.

De Wachter: Können Sie ein wenig über die Entwicklung Ihrer Ideen in Bezug auf den »Katastrophen-Raum« sprechen? Sie haben jetzt länger über dieses Thema gearbeitet, wie verlief der gedankliche Entwicklungsprozess?

Chakar: Die Arbeit an der Zeit und dem Raum einer Katastrophe ist ein fortlaufendes Projekt, mit dem ich nach den Angriffen der Israelis auf den Libanon 2006 begonnen habe. Die Arbeit hat als solche nicht viel mit den Angriffen zu tun (und sicher ist es keine »militante« Arbeit), sondern sie bezieht sich auf die libanesischen Bürgerkriege in den Jahren 1975–1990, und das auch nur allegorisch. Ich wage mich jetzt einmal vor und sage, dass sie den Versuch darstellt, eine gewisse Welt zu rekonstruieren (und eine gewisse Zeitspanne), die für mich verloren gegangen ist. Die Rekonstruktion ist niemals perfekt; sie ist vielleicht melancholisch, aber nie nostalgisch. Vielleicht ist sie ein Akt der Wiedergutmachung, nicht meiner selbst, sondern der Welt (ein weiterer theologischer Vergleich wären die Gnostiker aus dem 2. Jahrhundert, die glaubten, dass es nicht Gottes Aufgabe sei, die Gläubigen zu erlösen, vielmehr hätten die Gläubigen Gott zu erlösen).
In diesen letzten drei Jahren habe ich eine Menge Material gesammelt, eine Menge geisterhafter, ikonischer Erscheinungen. Diese beschreiben nicht, was die Katastrophe ausgemacht hat, oder wie das Leben in jener Zeitperiode aussah. Sie verhalten sich eher wie »Unterbrechungen«, wie Störungen in einem gewissen Kontinuum, so wie der Blitz eine Unterbrechung im stürmischen Nachthimmel darstellt (»une déchirure de la nuit«). Sie alle werden durch ein gewisses Kraftfeld zusammengehalten, ein Gravitationsfeld, ein schwarzes Loch, wenn Sie so wollen, welches das Katastrophische ist.
Paradox ist, zumindest für mich, dass ich nach fast drei Jahren nichts wirklich vorweisen kann; diese Arbeit nahm nie eine definitive Form an; wenn sich jemand interessiert, habe ich kein »Objekt« (Kunstobjekt, Video, Publikation usw.), das ich vorzeigen könnte. Ich habe nur die Diashows, die meine Vorträge über das Thema begleiten. Aber ohne meine Worte sind diese Shows absolut hermetisch, oder sogar bedeutungslos. Vielleicht ist es auch besser so, dass sich die Arbeit nicht auf die eine oder andere Weise »verdichtet«, vielleicht wird dies in der Zukunft geschehen, wenn ich bereit bin, wenn die Arbeit selbst bereit ist. Wir werden sehen.

De Wachter: Ihre Beziehung zu Beirut ist fundamental für Ihre künstlerische Praxis. Sie unterrichten auch Architekturgeschichte – wie verbinden Sie dabei Theorie, Geschichte und Praxis miteinander? Sie verwenden auch literarische Quellen, so wie bei dem Projekt »Breathe« Shakespeare. Wo überschneiden sich Literatur und die Stadt für Sie?

Chakar: Es ist lustig, dass sie den Begriff »künstlerische Praxis« verwenden. Ich ordne meine Arbeit immer zuerst dem Bereich der Architektur zu. Die Welt der Architektur nimmt diese Art von Arbeit nicht sehr ernst, also lande ich immer wieder bei KünstlerInnen, die freundlich genug sind, mir das Nächste an Akzeptanz zuzugestehen, das ich kenne. Aber es handelt sich doch immer noch um Architektur.
Vor kurzem stieß ich auf ein Zitat aus einem französischen Gedicht: »Je suis l’espace où je suis« (»Ich bin der Raum wo ich bin«) von Noël Arnaud. Das Zitat passt sehr gut in diesen Zusammenhang. Beirut zwingt dir ein bestimmtes Programm auf, und ich bin sicher nicht der Einzige, der das sagt. Diese Stadt ist auf extremen Widersprüchen aufgebaut, die von Zeit zu Zeit in dein Gesicht explodieren. Widersprüche: Die Stadt kann beizeiten sehr zart und anmutig sein; aber ich fürchte ihre Gegenseite, denn sie ist boshaft, hässlich und hasserfüllt. Vielleicht besteht eine Dimension meiner Arbeit darin, Beiruts freundlicheres Gesicht zu bewahren, denn dieses bewegt mich zum Hierbleiben. Es ist alles nicht so einfach, vor allem, weil dieses Gesicht am meisten nach Monaten intensiver Zerstörung zu leuchten scheint, nachdem die Stadt so vehement versucht hat, sich selbst zu zerstören.
Der letzte Teil Ihrer Frage führt mich zurück zu dem, was ich über Texte und Bilder gesagt habe. Um den schon erwähnten Bezug zu Shakespeare noch einmal aufzunehmen: Es ist lustig, im Beirut des 21. Jahrhunderts auf etwas zu stoßen, was – mir fehlt jetzt ein besserer Ausdruck – im England des 17. Jahrhunderts geschrieben wurde; oder die Situation zu erleben, dass Sie gleichsam in einem fremdländischen Text leben (räumlich und zeitlich). Der von mir verwendete Bezug stammt aus Richard II, wo Bushy, der Diener der Königin, sie anweist, »seitwärts zu sehen«, um die Schatten des Leides zu erkennen. Das Hinsehen, der Blick aus einem schiefen Winkel, Schatten und Leid sind alles Themen, mit denen ich mich schon vorher befasst habe; es ist unheimlich, wie es Shakespeare gelang, all diese Kategorien in einen Satz zu packen! Auf jeden Fall beschäftigt mich derzeit, wie man ein Gebäude an seine vergessene Zukunft (Zukünfte) erinnert. Ist dies virtuell möglich, indem wir die Kategorien des Schauens und Sehens verändern? Die Operation ist sehr heikel, ich hoffe, dass sie funktioniert.

De Wachter: Sie kommen immer wieder auf bestimmte Orte und Ideen in Ihrer Arbeit zurück; wie stehen Sie selbst zu dieser Praxis der Rückkehr, ist das auf gewisse Weise ein »Verfolgen«? Welchen Stellenwert nehmen Begriffe wie Geister und Verfolgung in Ihrer Arbeit ein?

Chakar: Ja, ich greife immer wieder gewisse Themen und Ideen auf, manchmal obsessiv; aber ich glaube nicht, dass Sie das als Verfolgung bezeichnen können. Vielleicht habe ich eine obsessive Persönlichkeit, was weiß ich? Was ich sicher weiß, ist, dass ich zum Verweilen neige, dass ich gerne zurückblicke, während ich schon nach vorne gehe … Um Baudelaire frei wiederzugeben, es gibt wohl eine Ewigkeit zwischen dem gelebten und dem gegenwärtigen Moment. Das hat aber wenig mit Gespenstern oder mit Gequältwerden zu tun. Ich verwende lieber den Begriff »Geister«, der vielschichtiger ist als »Gespenst«. Geister verfolgen nicht; ich glaube, sie haben nicht einmal einen »Willen« und wollen einen auch nicht überwältigen. Sie sind einfach da, in diesem spektralen Universum, in dem wir leben, sie schweben, verweilen, warten unruhig auf ihre Erlösung.

De Wachter: Kann ein Raum katastrophisch sein? Oder ist das ein geschichtliches Problem?

Chakar: Hier ist folgende Unterscheidung wichtig: Wenn ich von dem Raum und der Zeit einer Katastrophe spreche, meine ich die Verschiebungen, Verlagerungen und Zerstörungen, die von katastrophalen Ereignissen in jenem Raum-Zeit-Kontinuum ausgelöst werden, das wir normalerweise als »Normalität« qualifizieren. Normalität kann als ein Set von Konventionen und Gewohnheiten betrachtet werden, natürlich, und letzten Endes bezeichnet der Begriff nichts Physisches oder Greifbares (wir können einen Raum nicht einfach als »normal« einstufen, das wäre unsinnig). Aus diesem Blickwinkel kann auch ein Raum nicht als »katastrophisch« gelten. Aber wir können unseren Blickwinkel leicht verschieben und fragen: Welche Elemente bestimmen, wie Menschen an einem gewissen Ort Raum und Zeit auf ganz spezifische Weise erleben? Die Antwort würde sicher den oben erwähnten Begriff der Normalität einschließen, aber das wäre nicht ausreichend. Es gibt andere Elemente, die nicht unbedingt bewusst ablaufen und trotzdem eine große Rolle spielen. Nehmen Sie die Kriege im Libanon, zum Beispiel, und denken Sie weniger an ihre Ursachen oder physischen Folgen, sondern vielmehr an den Aspekt, dass es das Land noch immer gibt. Es wurde ein enormes Maß an Gewalt eingesetzt, um den Libanon zu fragmentieren, und diese Gewalt hielt viele Jahre lang an; trotzdem existiert das Land noch, in einem Stück; trotzdem gibt es eine gewisse Vorstellung für »das Libanesische« (es fehlt mir ein besserer Ausdruck), das sich immer wieder manifestiert und nichts mit einem konventionellen »Nationalgefühl« oder »nationalen Erbe« zu tun hat. Genauer gesagt, basiert diese Vorstellung auf keiner uralten Geschichte, sondern eher auf geteilter, gelebter Erfahrung (das Erlebnis des Katastrophischen ist nur ein Teil davon), die wir in etwas finden, das wir vielleicht einen latenten Raum nennen könnten, einen verhüllten Raum, einen unklaren Raum, ich bin mir da nicht ganz sicher. Diese Erfahrung wurde bis heute noch nicht politisch formuliert, das heißt, die gegenwärtigen politischen Diskurse haben sie noch nicht für sich vereinnahmt.

De Wachter: Sie schlagen offensichtlich einen Bergson’schen Ansatz bei Gebäuden vor und postulieren, dass ein Gebäude einen ständigen Fluss vergangener und gegenwärtiger Ereignisse enthält, die es in der Gegenwart ausmachen. Stimmen Sie dem zu, oder gibt es da noch etwas anderes?

Chakar: Das können Sie so sagen, aber was machen wir aus dieser Feststellung? Ich selbst glaube sicher, dass diese theoretische Beobachtung korrekt ist (nebenbei bemerkt ist sie gar nicht so selbstverständlich); sie stellt aber nur die Basis für eine nicht-banale, architektonische Praxis dar, sie ist ein Anfangspunkt. Ein weiterer Anfangspunkt, oder nennen wir ihn einen leuchtenden Punkt in dieser Ideen-Konstellation, wäre das Festhalten an der Auffassung, dass die Erfahrung von Architektur nicht nur visuell, sondern auch taktil ist. Diese Idee läuft den Grundsätzen der Architektur zuwider, wie sie hauptsächlich in der Renaissance entwickelt wurden. Damit verknüpft ist die erstaunliche Analogie zwischen Erwin Panofskys Beschreibung des Raums in der perspektivischen Darstellung der Renaissance, wie er durch Punkte gebildet wird, die nur ein kartesisches System zusammenhält, und wie Objekte im Raum des Kapitalismus »schweben« (die einzige Schwerkraft bildet hier die Quantität), wie es Georg Simmel beschrieb. Ich könnte noch andere Aspekte anführen, die Tatsache aber bleibt bestehen, dass diese Ideen noch keine »Praxis« ausmachen (auch nicht im weitesten Sinn des Wortes). Die Praxis liegt in dem Raum, der im Rahmen dieser Ideen definiert ist.

De Wachter: Könnten Sie Ihr Online-Projekt »Breathe« noch ein wenig beschreiben?

Chakar: Ich weiß nicht so ganz, wie … Ich habe noch nie versucht, etwas so absolut Digitales zu schaffen. Aber angesichts dessen, was ich gesagt habe, würde ich den mir zugewiesenen Raum als eine Oberfläche betrachten, die ich an gewissen Orten zu stören und zu unterbrechen versuche, sodass sie ein bestimmtes Maß an Topografie erhält. Und dadurch können Menschen, die sie sehen, den Schimmer eines leuchtenden Gestalt-Textes in der Auflösung erhaschen. Wir sehen die Dinge nur im Augenblick des Verschwindens, und je genauer wir hinsehen, desto weiter weichen sie zurück. Ich kann nicht versprechen, dass das Ergebnis perfekt mit meiner Beschreibung übereinstimmen wird, weil mein technischer Wissensstand etwas nachhinkt; aber das spielt eigentlich keine Rolle. Die Diskrepanz zwischen dem Ziel und dem Ergebnis (zwischen Inhalt und Form) schafft einen gewissen Raum zwischen den beiden Polen, den zu erforschen immer interessant bleibt.
Für dieses Projekt werde ich einige Bilder verwenden, die ich in den Straßen Beiruts aufgenommen habe, zusammen mit anderen, die aus dem Repertoire digitaler Bilder stammen, die die Hisbollah für den Wiederaufbau der südlichen Vororte Beiruts produziert hat (dem Gebiet, das die Hisbollah kontrolliert und 2006 Ziel massiver israelischer Luftangriffe wurde). Ein Bild habe ich digital manipuliert, um ein anamorphes Bild zu erstellen, das im »realen« Raum einen ausgeklügelten Apparat von Spiegeln und eine Menge mathematischer Berechnungen erfordern würde.

Dieses Interview erschien erstmals im September 2008 auf artreview.com, wo es Tony Chakars Online-Projekt »Breathe«, kuratiert von Ellen Mara De Wachter, begleitet.

 

Übersetzt von Dörte Eliass