Heft 3/2009


Escape Routes

Editorial


Nicht erst seit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Tragfähigkeit des globalkapitalistischen Systems ein Thema. Was scharfsinnige AnalytikerInnen von längerfristigen Weltwirtschaftszyklen immer schon vorhergesagt haben, tritt momentan in täglich neuen Schattierungen zutage. Dass dadurch eine allgemeine Krisenrhetorik befördert wird, die vielerorts auch als Alibi für systemimmanente Rationalisierungs- und Bereinigungsprozesse herhalten muss, mag ein Ding sein. Dass die periodisch wiederkehrenden Katastrophenszenarien auch Kunst und Kultur nachhaltig, ja gleichsam von innen her affizieren, ist eine andere, nicht weniger betroffen machende Dimension dieser Situation.
Lange Zeit hieß es, es gäbe zum globalkapitalistischen System und seinen gesellschaftlichen Ausformungen schlichtweg keine Alternative, und alle gegenteiligen Bestrebungen wurden im besten Fall milde (und nach 1989 auch revanchistisch) belächelt. Dabei regte sich vor und nach der Zeit des Mauerfalls beträchtlicher Widerstand gegen diesen Befund. Die Entwicklung alternativer Ökonomien, sogenannter »Sharity«- und »Freeware«-Modelle, ebenso wie die Aktualisierung politischer Dissidenzhaltungen, die zuletzt mit der Beschwörung von »Exodusstrategien« einen neuen Höhepunkt fand, dies alles zielt auf Fluchtwege aus einem auf Dauer nicht lebensfähigen und vor allem nicht lebenswerten System. Die gegenwärtige Krise mag wie ein Katalysator auf solche Exitstrategien wirken, ihren Ausgang nahmen sie lange vor dem Fast-Zusammenbruch, wie generell ihr Ansatz auf eine systemüberschreitende Geisteshaltung zurückgeht.
Das Heft »Escape Routes« fragt nach der Gangbarkeit solcher Auswegszenarien, nach ihrer theoretischen Fundierung ebenso wie nach ihren künstlerischen Ausformungen. Brian Holmes etwa ortet die neue Protestkultur auf einem Territorium, das sich – experimentell und mobil – seit den ersten globalisierungskritischen Aktionen 1999 in Seattle ausbreitet. »Ist 1999 unser 1968?«, fragt er mit Blick auf eine unsichere Zukunft, deren Befreiung aus den Fängen einer kontrollgesellschaftlichen »Überkodierung« für ihn oberste Priorität hat. Der italienische Philosoph Roberto Esposito denkt die aktuelle Krise der Gemeinschaftlichkeit und des sozialen Zusammenhalts von der Ebene der Immunologie her und entwickelt hochbrisante Fragestellungen im Hinblick darauf, wie sich westliche Gesellschaften gegen ihr vermeintlich Anderes – gleichsam »auto-immunitär« – zu schützen versuchen.
Historischen wie gegenwärtigen Modellen von Piraterie, Freibeutertum und illegalem Personenverkehr geht eine Reihe weiterer Beiträge nach. Jochen Becker begibt sich auf eine geschichtliche Spurensuche bezüglich der Rolle, welche Schifffahrt und »Seeräuberei« für die Ausprägung des Weltwirtschaftssystems spielten. Anna Schneider durchmisst den Raum der Karibik anhand eines Kunstprojekts mit Bezug auf die instabilen Identitätskonzepte, die das Überqueren unsichtbarer maritimer Grenzen nach sich zieht. Und im Gespräch mit Edgar Arandia, dem Direktor des Staatlichen Kunstmuseums in La Paz, Bolivien, kommt die langwierige Kleinteiligkeit zur Sprache, mit der der einst in Lateinamerika (und anderen Kolonien) fest verwurzelte westliche Kulturkanon heutzutage abgearbeitet werden muss.
Schließlich wird (etwa im Essay von Beti Zerovc) auch ein Augenmerk auf die Grenzen antikapitalistischer »Sharity«-Konzepte innerhalb von Kunsträumen gelegt, die nicht unabhängig vom größeren ökonomischen Umfeld agieren können. Im Blickfeld steht hier wie in den übrigen Beiträgen die Frage, welches Außen zum gegenwärtigen System überhaupt denkbar ist bzw. in welchem Ausmaß sich dieses von innen her umgestalten lässt.