Heft 3/2009 - Netzteil
»Lithuania has set its sights on becoming a premier international center of art« ließ der litauische Premierminister Gediminas Kirkilas kürzlich verlauten. Doch während sich in der europäischen Kulturhauptstadt Vilnius die neu errichteten und geplanten Museen für Besucherströme aus dem Ausland rüsten, ringt das einzig verbliebene, legendäre Kino von Vilnius, das Lietuva, um seine Existenz. Dass das Kino als zentraler kultureller Abspielort einst im Antrag stand, als sich Vilnius als europäische Kulturhauptstadt 2009 bewarb, ist längst vergessen. Um eben dieses Kino hat sich in den letzten Jahren ein kompliziertes Courtroom-Drama entsponnen, ein pervertiertes, postkommunistisches Lehrstück um Privatisierung, das von den bizarren Folgen öffentlichen Einspruchs und Engagements handelt – und von einem Übersetzungsfehler.
Der Medienkünstler Gediminas Urbonas, derzeit Associate Professor für Visual Arts am MIT, befindet sich inmitten von vier ausufernden Gerichtsverhandlungen, die sich wiederum gegenseitig bedingen. Zusammen mit dem Musikologen und Komponisten Tomas Bakucionis, mit Jurate Markeviciene, einer Expertin für Denkmalpflege und kulturelle Anthropologie, und dem Filmemacher Vytautas Domasevicius ist er mit einer Schadensersatzforderung von etwa 300.000 bis 400.000 Euro konfrontiert.
Verklagt werden die KünstlerInnen von der Immobilienfirma Rojaus Apartamentai, dem derzeitigen Besitzer des Lietuva-Kinos. Die Investoren befanden, dass »die Bürger kein Recht hätten, Regierungsangelegenheiten infrage zu stellen« und fordern vom Gericht, das öffentliche Interesse zu schützen. »Diese Leute stellen Fragen, die jenseits ihrer Kompetenz liegen, und zetteln unaufhörlich Prozesse an, was Schaden für unser Investment bedeutet. Es ist nur natürlich, dass sie für ihr Vorgehen bezahlen müssen.«
Denn die Angeklagten sind auch Kläger. Die zivilrechtliche Klage von Rojaus Apartamentai basiert letztlich auf der Ablehnung eines administrativen Verfahrens gegen die litauische Version der Aarhus Konvention, einem Verfahren, das wiederum die KünstlerInnen initiiert hatten. Die sogenannte Aarhus Konvention, die vorsieht, dass BürgerInnen von umfassenden Veränderungen in ihrer Umgebung rechtzeitig in Kenntnis gesetzt werden müssen, um die Möglichkeit der Mitsprache zu gewährleisten, war von Litauen im Jahr 2001 zwar unterzeichnet worden, doch wurden verschiedene Begriffe, versehentlich oder nicht, falsch übersetzt und damit im Kern hinfällig. »Environment« beispielsweise war als »Naturschutzgebiet« wiedergegeben worden, und da sich Kinos nun einmal im urbanen Raum befinden und dieser ja kein Naturschutzgebiet sei, gelte auch der Passus hierfür nicht, so die Argumentation der Gegenseite. Von dieser Sorte »Fehler« gibt es eine ganze Reihe, die aus der Distanz betrachtet höchst komisch wirken, jedoch weitreichende Folgen haben. Dieser Prozess ging für die KünstlerInnen trotz eines, wie man denken könnte, überzeugend eindeutigen Sachverhalts und neuer Beweise in erster Instanz verloren, und so hatte Rojaus Apartamentai freie Bahn, ihre Forderungen in die Höhe zu treiben, bis zu dem Punkt, dass der Besitz der KünstlerInnen gepfändet wurde – noch vor Beendigung des Prozesses.
Freiwild für Spekulanten
Begonnen hat die Geschichte vor etwa sieben Jahren, 2002, als das einst größte Kino von Vilnius, das Lietuva, ein modernistischer Bau mit einem Saal für über 1000 ZuschauerInnen und einer Leinwand, größer als 210 Quadratmeter, an private Investoren verkauft wurde. Erbaut Mitte der 1960er Jahre, war der Kinopalast einst prominenter Treffpunkt der kulturellen Szene, aber genauso Vergnügungszentrum der Arbeiterschaft. Bis Mitte der 1980er Jahre musste sich das Kino keinerlei Sorgen um Zuschauerzahlen machen, die Statistik behauptet, es seien rund 1,8 Millionen BesucherInnen jährlich gewesen. Nach der Unabhängigwerdung Litauens im Jahr 1991 begann ein Kinosterben um sich zu greifen. Die etwa 20 Kinos in Vilnius wurden ab diesem Zeitpunkt Freiwild für Spekulanten am Immobilienmarkt.
Alle Großstädte der Welt litten in den 1990er Jahren an einem umfassenden Kinoschwund, aber selten wurden die Säle derart systematisch in Casinos, Shoppingmalls oder Apartments umgewandelt wie in Vilnius. Und was andernorts meist als Folge eines um sich greifenden Medienwechsels analysiert wurde, sprich als Folge von Digitalisierung, Diversifizierung und dem Rückzug ins Private aufgrund des Home-Movies-Marktes, interpretieren die KünstlerInnen Nomeda und Gediminas Urbonas ideologisch: »Ein kultureller und politischer Wandel erschütterte Litauen, so wie jeder post-sowjetische Raum unerwartet von der ultraschnellen Implementierung einer Schock-Doktrine erfasst wurde. Es hat Symbolkraft, dass das einzig verbliebene Kino, das während der letzten Dekade privatisiert und zerstört wurde, nach dem Land benannt ist: Lietuva.«
Als drei Jahre nach dem Verkauf an eine Firma namens VP Market die Schonfrist für den normalen Kinobetrieb ablief, wurde über das inzwischen international bekannte Vilnius Interdisciplinary Lab for Media Arts (VILMA) eine Mailingliste initiiert. Innerhalb kurzer Zeit waren über 185 Mitglieder subskribiert, ein breites Bündnis von AktivistInnen, Neugierigen, ehemaligen ZuschauerInnen, und so entstand das »Pro-test Lab« im ehemaligen Ticket Office. »Pro-test« wurde dabei als eine Art Laboratorium für die Erprobung öffentlicher Intervention verstanden. Leute aus den Bereichen Kunst, Architektur und Film fanden sich zusammen und organisierten Workshops, Talkshows, Kochstudios, Plakataktionen, Konzerte, starteten eine Art Monopoly als Straßenspiel und bildeten Arbeitsgruppen, die Strategien für das weitere Vorgehen entwickeln sollten. Bis Ende 2005 wurde permanent Programm gemacht. Regelmäßig wurden FilmemacherInnen eingeladen, Emir Kusturica kam, um seine Unterstützung auszusprechen, die InitiatorInnen reisten zu Kunstevents, um das Pro-test Lab als Exempel von Engagement und Partizipation vorzustellen. Um den Fall des Lietuva auch international bekannt zu machen, wurden Kooperationen mit Kunsthochschulen und Streamings organisiert.
Doch VP Market dachte sich einen neuen Deal aus. Ende 2005 wurde das Kino erneut verkauft, an besagte Rojaus Apartamentai. 90 Prozent der Anteile von Rojaus Apartamentai besitzt Cinema Scotland, eine in England ansässige Investmentfirma, die nur fünf Tage vor dem Verkauf gegründet worden war. Im Zuge des neuerlichen Verkaufs wurde auch der Pachtvertrag mit der Stadt geändert. Die Stadtverwaltung übertrug die Rechte an der Verwaltung des öffentlichen Territoriums der privaten Firma Rojaus. Und dieser Schritt war es, so argumentieren die KünstlerInnen, der gegen die Aarhus Konvention verstößt. Ein halbes Jahr später, im Juli 2006, wurde dem Präsidenten von Litauen eine Petition überreicht, unterzeichnet von über 8.000 BürgerInnen, die sich darauf berief, dass die Bevölkerung bei dem Entscheidungsprozess der Stadt Vilnius, das Territorium des Lietuva-Kinos zu verkaufen und zu privatisieren, ausgeschlossen war. Die Petition zielte auf den »Erhalt und die Entwicklung der Tradition des öffentlich kulturellen Raumes, der mit dem Lietuva-Kino etabliert worden war«. Die Petition wurde vom Präsidenten anerkannt, mit den Worten »die Kritik an der Privatisierung ist gerechtfertigt und gründlich«. Infolgedessen fanden zwei öffentliche Anhörungen statt, bei denen ein detaillierter Plan zur Zukunft des Kinos vorgelegt wurde. Rojaus Apartamentai, in ihrer Rolle als Territory Planner, verweigerte all diese Pläne.
Damit wurde ein absurd anmutender, zäher und nervenaufreibender Prozess eröffnet. Inzwischen sind aus einem Prozess sechs geworden, und alle Zeichen sprachen dafür, dass das, was man als Korruption bezeichnen könnte, wie auch die Privatisierung freie Bahn hat. Doch zuletzt hat sich das Blatt überraschend gewendet, und das Verfahren zur Anerkennung des Übersetzungsfehlers der Aarhus Konvention wurde bestätigt. Ein erster entscheidender Sieg für die KünstlerInnen, denn auf dieser Grundlage kann der Prozess um die Schadensersatzforderung von Rojaus Apartamentai vorübergehend eingefroren werden, bis der erste Prozess entschieden ist. Wie dann der zweite weitergeführt wird, bleibt allerdings ein Rätsel. Doch gleichzeitig hat der Oberste Gerichtshof ein Urteil des Landesgerichts Vilnius annulliert, das der Klage von BürgerInnen stattgegeben hatte, im Interesse der Öffentlichkeit die weiteren Umbaupläne des Kinos zu stoppen. Das heißt, die Zerstörung des Kinos könnte nunmehr beginnen, und das Tauziehen geht in die nächste Runde.
Währendessen fährt Jonas Mekas unaufhörlich Bus. Riesengroß an der Seite der öffentlichen Verkehrsmittel plakatiert, um Werbung zu machen für das neue Jonas Mekas Museum. Vielleicht sollte das Lietuva schlicht und ergreifend zu einem Filmmuseum umfunktioniert werden.