Heft 4/2009 - Wende Wiederkehr
»Allein der Umstand, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ein wunderschönes Werk hervorzubringen, stellt einen Akt der Revolte dar und negiert alle sozialen Fiktionen [...]. Es scheint mir, als sei die Literatur eine herausragende Form der Propaganda durch die Tat. [...] Wer auch immer seinen Leidensgenossen den geheimen Glanz seiner Träume mitteilt, wirkt auf die ihn umgebende Gesellschaft wie ein zersetzendes Element und macht aus all jenen, die ihn verstehen, oft, ohne dass sie es merken, Geächtete und Rebellen.«
Pierre Quillard
»Kunst zu machen, reicht nicht aus.«
Guillermo Gomez-Peña
1993 errichtete Ayse Erkmen, eine bekannte türkische Gegenwartskünstlerin, auf dem historischen Tünel-Platz in Istanbul ein öffentliches Kunstwerk: eine eiserne Skulptur mit dem Titel »Tünel Karaköy«. Die Skulptur, mit der die Künstlerin einen städtischen Wettbewerb gewonnen hatte, wurde Teil des öffentlichen Lebens auf diesem Platz. Zwölf Jahre später wurde sie von einem anderen Künstler, Kemal Önsoy, im Rahmen einer Ausstellung im öffentlichen Raum (der »Pedestrian Exhibition 2« im Jahr 2005) in Polystyrolschaum eingehüllt. Somit schuf Önsoy mittels einer direkten Intervention in das öffentliche Leben aus einem bestehenden ein neues Kunstwerk (mit dem Titel »Mutual Aid« – Gegenseitige Hilfe – nach dem Titel des bedeutenden Werks von Kropotkin). Leider wurde der Polystyrolschaum im Laufe dieser Ausstellung eines Nachts von Unbekannten (von Straßenkindern heißt es) angezündet, so dass Önsoys Kunstwerk niederbrannte und mit ihm auch die Skulptur von Erkmen. Durch diese Tat kam das Werk in die Nachrichten, was dazu führte, dass es kurz darauf erneuert und wieder aufgebaut wurde – Kemal Önsoys Arbeit, wie man sich denken kann, nicht –, und so wurde Erkmens Skulptur erneut Teil des öffentlichen Geschehens.
Am 26. April 2009 fand auf dem Tünel-Platz eine Demonstration statt. AktivistInnen probten die bevorstehenden Maifeierlichkeiten. Lauthals skandierten sie ihre Slogans; die Demonstration kulminierte in einem Zusammenstoß mit der Polizei. Anschließend erklommen ein paar AktivistInnen Erkmens Skulptur und hissten darauf eine schwarze Flagge. Die Skulptur war ziemlich gut zu sehen; Kunst und Politik trafen aufeinander. In jener Nacht brachten die AktivistInnen ein Bulletin heraus, in dem sie ihre Sicht der Ereignisse darstellten. Darin hieß es: »Wir haben auf der Säule am Tünel-Platz eine schwarze Flagge gehisst!« Auf der Säule am Tünel-Platz?! Offensichtlich betrachteten sie diese nicht als Kunstwerk, sondern lediglich als eine eiserne Säule am Tünel-Platz!
Ich würde dieses Ereignis gar nicht so sehr als Beweis für die Ignoranz und Gleichgültigkeit von politischen AktivistInnen werten, sondern vielmehr als einen beispielhaften Moment, offenbart er doch eine Kluft innerhalb des gegenwärtigen Radikalismus in der Kunst. Zudem sehe ich es als hilfreiche Anekdote, welche sehr gut die Distanz zwischen politisch-aktivistischen Kreisen und zeitgenössischen KünstlerInnen illustriert – mögen diese sich auch noch so sehr mit öffentlicher Kunst, gesellschaftlichem Wandel, sozialer »Intervention« etc. beschäftigen.
Neuer Aktivismus und Antiglobalisierungsproteste
Das Neue in der Kunst, insbesondere die künstlerisch-politische Wende hin zum Öffentlichen, hat sehr viel gemein mit dem neuen politischen Aktivismus, doch sind diese Gemeinsamkeiten weder besonders deutlich noch von großem Nutzen. Theoretisch könnte man den neuen Aktivismus per definitionem in unmittelbarer Nähe zu vielen neuen öffentlichen Kunstaktionen verorten, in der Praxis funktioniert das jedoch nicht. Es gibt schlichtweg keine organische Verbindung zwischen den neuen AktivistInnen und neuen politischen Wendungen in der Kunst. Zudem besteht seit Seattle eine deutliche Distanz zwischen neuen aktivistischen Tendenzen bzw. organisatorischen Ansichten (seitens der GlobalisierungsgegnerInnen) und neuen politischen Gesten in der Kunst. Dabei haben die Praktiken und Theorien des Post-Seattle-Aktivismus viel gemein mit den meisten der heute zu beobachtenden politischen Wendungen in der Gegenwartskunst – jedoch ohne dass es zu einem produktiven künstlerischen oder politischen Dialog käme.
Aufgrund der Distanz zwischen den aktivistischen Kunstwerken und den politischen AktivistInnen, zwischen dem »natürlichen Publikum« einer neuen künstlerischen Position und den Kunstschaffenden selbst, tut sich innerhalb der neuen Kunstradikalismen eine gewisse »Kluft« auf. Doch bevor wir uns dieser Kluft zuwenden, sollten wir uns das »Neue« an diesem Aktivismus genauer ansehen.
Der Anarchismus gilt weithin als »die« Bewegung hinter den wichtigsten Organisationsprinzipien der radikalen sozialen Bewegungen des neuen Jahrtausends. Das Aufkommen der »Antiglobalisierungsbewegung« wurde mit einem allgemeinen Wiedererwachen des Anarchismus in Verbindung gebracht. Bunt, energiegeladen, kreativ, effektiv und »neu«. Und die meisten der kreativen Energien, die dahintersteckten, wurden dem Anarchismus zugeschrieben.1 Der Anarchismus als politische Philosophie und Bewegung schien seinen Namen von den mit ihm assoziierten Metaphern von Chaos und Gewalt zurückreklamiert zu haben. Obgleich die Strategie der Mainstreammedien, sich auf den schwarzen Block zu konzentrieren, darauf abzielte, eben jenes Image wiederherzustellen und die Bewegung damit zu zerstören2, half sie, die Aufmerksamkeit politischer TheoretikerInnen und AktivistInnen zu wecken, die wissen wollten, was der ganze Aufruhr eigentlich sollte, was wiederum ein vermehrtes akademisches Interesse und politische Publikationen über den Anarchismus und die neue »Bewegung« nach sich zog.
Wenn wir uns auf die »Antiglobalisierungsbewegung« beziehen, verwenden wir gemeinhin Anführungszeichen, da es natürlich nicht nur eine BegründerIn der Bewegung gibt, die ihr einen offiziellen Namen gegeben hätte, und da die darunter zusammengefassten AktivistInnen, Gruppen und Initiativen sich nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen konnten. So gibt es derer viele: globale Gerechtigkeitsbewegung, die Bewegung der Bewegungen, die Bewegung, »Alter«-Globalisierungsbewegung, radikale Bewegung für gesellschaftliche Veränderung, zeitgenössischer radikaler Aktivismus, Antikapitalismusbewegung, Antiunternehmensbewegung, globale antikapitalistische Protestbewegung, Bewegung der GlobalisierungsgegnerInnen, Antiunternehmensglobalisierungsbewegung, Basisglobalisierungsbewegung und Ähnliche. Das ursprüngliche Unbehagen, das die meisten AktivistInnen bei dem Begriff Antiglobalisierung verspürten, war vor allem darauf zurückzuführen, dass es sich um einen vom »Feind« geprägten Begriff handelte (ein »Wall-Street-Begriff« bzw. ein von den Medien geprägter Begriff), der die AktivistInnen als unzeitgemäße, blinde, selbstbezogene Jugendliche darstellen sollte, die gegen den Wind (die unaufhaltbare Globalisierung) spuckten aus bloßem Spaß daran, fremdes Eigentum zu zerstören. Viele wehrten sich auch gegen den Begriff, weil sie die Globalisierung nicht per se ablehnten.3
Andererseits hat die stolze Verwendung ehemals abfälliger Bezeichnungen durchaus historische Wurzeln in der linken Politik. Wie schon Kropotkin bemerkte, ist der Begriff Anarchismus ein gutes Beispiel für diese Tradition. Kropotkin musste sich viel Kritik anhören, weil Anarchie im allgemeinen Sprachgebrauch Unordnung und Chaos bedeutete; es sei keine gute Idee, den Begriff Anarchismus für eine politische Philosophie und Bewegung zu gebrauchen. In seinem kurzen Essay »L’Ordre« (Die Ordnung), der am 1. Oktober 1881 in »Le Révolté« erschien, machte er sich den Begriff Anarchie zu eigen und zollte seinem rebellischen Erbe Respekt.
Die Beziehung zwischen Anarchismus und Antiglobalisierungsbewegung ist keine einseitige; der Anarchismus diente prominenten Aktionsnetzwerken als Orientierung, als definierendes Moment und war »Hauptbezugspunkt radikaler Bewegungen für gesellschaftlichen Wandel«4. Somit lieferte er Organisationsprinzipien und andere erprobte Instrumente. Andererseits galt der »anarchistische« Aufstieg der Antiglobalisierungsbewegung, ihre breite Popularität und ihre Bedeutung in der radikalen politischen Szene während der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts durch die offene Verwendung anarchistischer Ideen und die große Anzahl anarchistischer AktivistInnen innerhalb der Bewegung »weithin als Zeichen für das Wiedererstarken des Anarchismus«5. »In den vergangenen zehn Jahren war zu beobachten, wie der Anarchismus als globale soziale Bewegung und ernstzunehmender politischer Diskurs wieder einen Aufschwung erlebte, und zwar in einem Maße und mit einem Ausmaß an Eintracht und Vielfalt, wie es sie seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat.«6 Eine Tradition, die »bislang weitgehend abgetan« wurde, erforderte plötzlich, dass man sich respektvoll mit ihr auseinandersetzte.7
Mit anderen Worten: Die Antiglobalisierungsbewegung brachte den Anarchismus wieder aufs Tapet. Für die dominante Position des Marxismus als »linker« politischer Philosophie und Bewegung war die Antiglobalisierungsbewegung eine größere Herausforderung als der Zusammenbruch der UdSSR. Überall gab es anarchistische Formen des Widerstands und der Organisation: »Von antikapitalistischen sozialen Zentren und ökofeministischen Gemeinschaften bis hin zu wilden Straßenfesten und Blockaden internationaler Gipfeltreffen, überall bildeten anarchistische Organisations- und Widerstandsformen das Herz der ›Antiglobalisierungs‹-Bewegung«8. Anarchismus war »das Herz der Bewegung«, »ihre Seele; die Quelle der meisten Dinge, die neu und hoffnungsvoll daran sind«.9 »Das von der antikapitalistischen Bewegung angestrebte Modell der politischen und sozialen Autonomie ist ein anarchistisches, und die Seele der antikapitalistischen Bewegung ist anarchistisch; ihr antiautoritäres Wesen, ihre Abkehr von den traditionellen Parteien der Linken und ihre Verpflichtung zu direktem Handeln entspringen vollends dem Geist des libertären Sozialismus.10
Neue AnarchistInnen
So dienten also zunächst die AnarchistInnen selbst und wichtiger noch anarchistische Grundsätze als Organisationsprinzipien der neu aufkommenden Antiglobalisierungsbewegung. Und im Gegenzug diente die aufkommende Bewegung als globale Plattform zum Austesten anarchistischer Prinzipien unter neuen weltpolitischen Bedingungen wie auch als ein Hebel des Archimedes, der den Marxismus weitgehend ersetzte und die Aufmerksamkeit von AktivistInnen und Intellektuellen weltweit auf den Anarchismus lenkte – und ihm folglich zu breiter Anerkennung verhalf.11 Sie bot eine »nahezu beispiellose Gelegenheit, den Einfluss ihrer (anarchistischen) Ideen zu stärken«12 und rief auf der theoretischen Ebene nicht nur anarchistisch beeinflusste Forschung hervor, sondern begünstigte auch zeitgenössische anarchistische Theorien. Sie eröffnete sogar die Möglichkeit zur Bildung einer neuen Basis für eine anarchistische Gesellschaftstheorie. Doch interessanter noch als die wachsende Anzahl akademischer Schriften und Veranstaltungen zum Thema Anarchismus war die Tatsache, dass Anarchismus nun viel häufiger als zuvor als Quelle für radikales Gedankengut herangezogen wurde.13
Dennoch war dieser neu erstarkte, moderne, zeitgenössische Anarchismus keine Wiedergeburt des Anarchismus des 19. Jahrhunderts, der auf die Erste Internationale bzw. die anarchistische Revolution in Spanien im Jahre 1934 zurückging. Das hier war etwas »Neues«. Man war sich zwar einig, dass es sich um ein Wiedererstarken des Anarchismus handelte, zumindest »einer Art von Anarchismus«. Aber was für einer?
Kurz nach Erscheinen von David Graebers Artikel »The New Anarchists« in einer der bedeutendsten marxistisch orientierten Zeitschriften, der »New Left Review«, stieß der Begriff auf breite Akzeptanz.14 So begann beispielsweise Sean Sheehan sein einführendes Werk »Anarchism« mit dem Kapitel »Global Anarchism/The New Anarchism.« Ein Buch, das sich mit Anarchismus als einer politischen Philosophie und Bewegung beschäftigen sollte, begann mit einer ausführlichen Beschreibung der »Schlacht von Seattle«,15 des legendären Protests gegen die Welthandelsorganisation (WTO) im November 1999 – »fünf Tage, die die Welt erschütterten«, so der Titel einer Artikelsammlung.16 Und natürlich war die Verwendung des Begriffs unter AktivistInnen nicht unbedingt ein Verweis auf Graebers Gebrauch desselben. Der Ausdruck »neue AnarchistInnen« war »innerhalb der zeitgenössischen anarchistischen Szene weitverbreitet«17.
Die wichtigste »Neuheit« am »neuen Anarchismus« war im Grunde das Spektrum seiner Bezugspunkte. Alle angewendeten anarchistischen Prinzipien definierten sich durch tatsächliche Erfahrungen. Es gab so gut wie keine Intention, die Bewegung als Umsetzung einer anarchistischen Theorie zu beschreiben (was an sich schon eine grundlegende anarchistische Sichtweise ist). Für Graeber geht es in der Antiglobalisierungsbewegung um »die Schaffung neuer Organisationsformen. Es fehlt ihr nicht an Ideologie. Diese neuen Organisationsformen sind ihre Ideologie. Es geht um die Bildung und Umsetzung horizontaler Netzwerke anstelle von hierarchischen Strukturen, wie man sie aus Staaten, Parteien oder Unternehmen kennt; Netzwerke, die auf den Prinzipien einer dezentralisierten, nicht hierarchischen Konsensdemokratie beruhen.«18 Dennoch bietet Uri Gordon eine Analyse der »heutigen anarchistischen Ideologie als einer von der Bewegung selbst geförderten Herangehensweise«19. Es überrascht allerdings nicht, dass er im ideologischen Kern des zeitgenössischen Anarchismus20 eine »experimentelle Annäherung an revolutionäre Visionen und Strategien mit offenem Ende«21 sieht. Die Protestformen und symbolischen Gesten der antikapitalistischen Bewegung werden als »anarchistisch inspirierte Opposition zum Neoliberalismus« interpretiert, die mitunter mit Pragmatismus gepaart ist.22
Dieses »offene Ende« gab dem »neuen Anarchismus« eine zusätzliche Undefinierbarkeit, die später dazu führen sollte, ihn als Absplitterung vom »klassischen Anarchismus« zu betrachten. »Klassischer Anarchismus« ist ebenfalls ein kontroverser Begriff. Er gilt als feste Ideologie, vertreten in den Werken einiger ausgewählter anarchistischer AutorInnen des 19. Jahrhunderts, deren Theorien wiederum zu einem bestimmten Ideencluster zusammengefasst wurden, das bestehende Vorurteile gegenüber »klassischen AnarchistInnen« lediglich bestätigt. Die Diskussionen zum Thema »neuer« versus »klassischer« Anarchismus wurden gar als Teil der »konzeptuellen und materiellen Beweise« eines »Paradigmenwechsels innerhalb des Anarchismus« gewertet.23
In vielen Fällen führte dies schnell zu einer Debatte, die oft als »Post-« versus »klassischer« Anarchismus formuliert wird. So war es in den meisten Fällen dieses zeitgenössische Bedürfnis, den Anarchismus neu zu positionieren, das zu all den neuen Studien und Diskussionen über Postanarchismus geführt hat. Es bestand »große Übereinstimmung« zwischen dem »Koordinationssystem« des »neuen« Anarchismus und der Art und Weise, wie der »Postanarchismus« auf den Poststrukturalismus verweist, »den Aufbau einer Linken, die die eigenen Werte verkörpert. Eine Linke, deren Werte immanent sind, ist eine Linke, die sich ohne Autorität und Druck entwickelt und sich von nach innen wie von nach außen gerichteten Ressentiments frei machen kann.«24
Der seit den 1960er-Jahren von der zeitgenössischen Philosophie beeinflusste Postanarchismus brachte seine Ideen in die Diskussionen um klassischen vs. neuen Anarchismus ein. Wie relevant der Postanarchismus für die Antiglobalisierungsbewegungen war, bestätigen zwei der in der englischsprachigen Welt bekanntesten mit dem Postanarchismus assoziierten Autoren, Saul Newman und Todd May, die diese Beziehung beide ausdrücklich bejahen. In Interviews mit dem türkischen postanarchistischen Magazin »Siyahi« waren sich beide einig, dass die »Post-Seattle-Antiglobalisierungsbewegung« absolut und ganz bestimmt vergleichbare Motive verfolgt wie die poststrukturalistische Anarchie bzw. der Postanarchismus. May nennt »ähnliche Ideen in beiden Bewegungen«: »nicht reduzierbare Auseinandersetzungen, Lokalpolitik und Allianzenbildung, ethische Orientierung, Widerstand gegen essentialistisches Denken«25. Newman geht noch weiter und liefert gleichzeitig eine Definition von Postanarchismus als »politische Logik, die versucht, die egalitären und emanzipatorischen Aspekte des klassischen Anarchismus zu kombinieren, in dem Wissen, dass radikale politische Kämpfe heute kontingent, pluralistisch, für unterschiedliche Identitäten und Perspektiven offen sind und sich auch um andere Themen drehen als um wirtschaftliche.«26
Andererseits könnte man argumentieren, dass der Postanarchismus im Grunde den Versuch darstellt, das theoretische Äquivalent zu den Antiglobalisierungsbewegungen zu schaffen. Das Aufkommen von Debatten über Postanarchismus ist direkt mit dem Post-Seattle-Geist der Antiglobalisierungsbewegungen verbunden. Theoretische Versuche, Poststrukturalismus/Postmodernismus und Anarchismus auf verschiedene Arten miteinander zu verschränken, wurden plötzlich von AktivistInnen bzw. aktivistisch orientierten DenkerInnen weltweit befürwortet.
»Stammbaum« des Postanarchismus
Dass der Postanarchismus überhaupt zu einem »-ismus« wurde, zu einer Strömung innerhalb der Familie der unterschiedlichen Anarchismen, ist nicht zuletzt der Website und Mailingliste von Jason Adams zu verdanken. Adams startete seine Mailingliste am 9. Oktober 2002 als Yahoo Group. Im Februar 2003 erstellte er eine Webseite, und dann wurde das Spoon Collective der nächste Mailinglisten-Provider der E-Mail-Gruppe. Der Tonfall der damaligen E-Mails spiegelt eine gewisse Begeisterung wider.27 Adams selbst war Aktivist und Akademiker und verbrachte das ganze Jahr damit, die WTO-Proteste in Seattle zu organisieren, wo er damals lebte. Er spielte außerdem eine wichtige Rolle in der Organisation des »N30 International Day of Action«-Komitees, das die ursprüngliche Website und den internationalen E-Mail-Listserver eingerichtet hatte, mit deren Hilfe die Aktionen gegen die WTO weltweit koordiniert wurden. Diese Proteste waren für ihn der eigentliche Wendepunkt, an dem er begann, sich an der Theorie des »Postanarchismus« zu orientieren. In seinem Essay »Postanarchism in a Nutshell«28 liefert er eine kurze Beschreibung des Postanarchismus und skizziert seine Inhalte. Adams versteht Poststrukturalismus als eine radikal antiautoritäre Theorie, die aus den anarchistischen Bewegungen des Mai 1968 hervorgegangen ist, sich in den letzten drei Jahrzehnten weiterentwickelt hat und schließlich und endlich in Form des »Postanarchismus« wiedergekehrt ist, um die Theorie und Praxis einer ihrer wichtigsten Wurzeln zu bereichern und auszuweiten (den Anarchismus). Diese Verortung des Poststrukturalismus ist nicht so marginal, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Für Julian Bourg besteht das Erbe vom Mai 1968 beispielsweise in einer ethischen Wende. Er stellt die Bewegung des Mai 68 als »implizite Befreiungsethik« dar und sieht eine Kontinuität in Bezug auf die Ethikdiskussionen, die im Mai 1968 begannen und in der modernen französischen Philosophie in den 1970er-Jahren ihre Fortsetzung fanden.29
Die Betonung einer Ethik der Befreiung war schon immer einer der vordringlichsten anarchistischen Belange im Rahmen revolutionärer/politischer Aktionen bzw. Theorien. Deshalb war auch die präfigurative Politik einer der Prüfsteine des Anarchismus. Laut Bourg erklärten die AktivistInnen der 68er-Bewegung im Grunde, Freiheit sei nicht frei genug, Gleichheit nicht gleich genug und Fantasie nicht fantastisch genug.30
Die von Bourg postulierte Verbindung hat mit den Wurzeln der ethischen Belange innerhalb des »französischen Denkens« zu tun, welche auf die sozialen Bewegungen und den Aktivismus von 1968 zurückgehen. Bourg argumentiert, der »Anti-Ödipus« von Deleuze und Guattari offenbare die ethische Unnachgiebigkeit des antinomischen Geistes von 1968 und konkretisiere eine breitere kulturelle Atmosphäre des Post-1968er-»Antinomismus«.31
Wenn Bourg die »Werte der 68er-Bewegung« auflistet, sind die Parallelen wohl für alle, die sich mit Antiglobalisierungsbewegungen, Anarchismus und französischer Theorie (sowie mit zeitgenössischer politischer Kunst) auskennen, augenfällig: »Kreativität, Menschlichkeit, Kommunikation, Geselligkeit, Ausdruck, Spaß, Freiheit, Spontaneität, Solidarität, keine Entfremdung, kein Nutzen, Meinungsäußerung, Dialog, Utopie, Träume, Fantasien, Gemeinschaft, Verbindung, Antiautorität, Selbstverwaltung, direkte Demokratie, Gleichheit, Selbstdarstellung, Brüderlichkeit und Selbstverteidigung«32.
Auch für Douglas Kellner ist die Verbindung sehr klar: »Anstelle des revolutionären Bruchs im historischen Kontinuum, den die 68er-Bewegung herzustellen suchte, postulierte die neu aufkommende postmoderne Theorie in Frankreich einen epochalen Einschnitt, einen Bruch mit der modernen Politik und der Modernität, begleitet von Modellen einer neuen postmodernen Theorie und Politik. Von daher steht die postmoderne Wende im Frankreich der 1970er Jahre in einer engen Beziehung zu den Erfahrungen vom Mai 1968.«33
Kellners Interpretation des fließenden Übergangs vom Mai 1968 zu einer »postmodernen Theorie«, Bourgs Hervorhebung der poststrukturalistischen Werke als konkrete Formen des Geistes von 1968 und Adams’ Positionierung des Postanarchismus als Poststrukturalismus, der schließlich zu seinen Wurzeln zurückfindet (das heißt, zum Geist der 68er-Bewegung, der sich in den derzeitigen antikapitalistischen Bewegungen wiederfindet, die ebenfalls antiautoritär sind), zeigen einen anderen »Stammbaum« für den Postanarchismus, als beispielsweise Todd May ihn uns anbieten würde. Anstatt den Poststrukturalismus als eigenes Gedankengut zu betrachten, das sich vom Aktivismus im Allgemeinen und vom Anarchismus im Besonderen unterscheidet, als etwas, das in Verbindung mit Aktivismus/Anarchismus neu überdacht werden kann und sollte, zeigt Adams’ Ansatz eine historische Spurensuche, die den Zusammenhängen, in denen der Poststrukturalismus entstand, sowie den persönlichen und folglich politischen Hintergründen folgt, und betrachtet ihn somit als Weiterführung und theoretisches Äquivalent des anarchistischen Aktivismus seit den 1960er-Jahren. Eine grobe Definition der Hauptperioden des Anarchismus seit dem 19. Jahrhundert könnte folgendermaßen aussehen: Die erste Periode endet mit der Niederlage in Spanien im Jahr 1939, die zweite ist gekennzeichnet durch die 1960er-Jahre, und die dritte verläuft parallel zur Antiglobalisierungsbewegung.
Kunstradikalismen
Erinnern wir uns demgegenüber an die Geschichte des Punk, wie Greil Marcus sie in seinem Buch »Lipstick Traces – Eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts«34 beschreibt, so kann der radikale Ansatz des Punk leicht auf den Lettrismus und Situationismus zurückgeführt werden. Marcus illustriert auch die offensichtliche Weiterführung dadaistischer Merkmale sowohl im Lettrismus als auch im Situationismus und wie daraufhin beide nicht nur den Punk deutlich beeinflussten, sondern auch die Studentenproteste vom Mai 1968 (welche wiederum das poststrukturalistische Denken beeinflussen sollten). Allerdings konzentriert sich Marcus auf Dada lediglich als frühen Radikalismus in der modernistischen Kunstbewegung.
Wenn wir jedoch diese ineinander verschlungenen Stammbäume weiterverfolgen, sehen wir, dass der frühe politische Radikalismus des 20. Jahrhunderts einen direkten Einfluss auf den modernistischen Radikalismus hatte, angefangen mit dem Neoimpressionismus über den Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus, Dada etc. Und dieser politische Radikalismus tendierte bei einer ganzen Reihe von KünstlerInnen, von Malewitsch bis Picasso, viel eher zum Anarchismus als zum Marxismus.35
Radikale KünstlerInnen trugen zu anarchistischen Magazinen bei. Sie hatten anarchistische Freunde, mit denen sie in Cafés wie dem Els Quatre Gats (Die Vier Katzen) in Barcelona zusammensaßen, und führten gemeinsame Projekte durch. Schnittmengen und Knotenpunkte wie das Els Quatre Gats waren dabei entscheidend. Diese anarchistischen Kunstbewegungen beeinflussten den Radikalismus weltweit, sie waren nicht auf Westeuropa beschränkt.
Später, in einer Art Update des Avantgardismus für die Mitte des 20. Jahrhunderts, trugen der Lettrismus und der Situationismus den Geist libertärer linker Erfahrung in die 68er-Bewegung hinein; radikale künstlerische Ansichten/Praktiken gingen immer Hand in Hand mit radikalen politischen Ansichten/Praktiken. So gesehen illustriert die Genealogie der 68er-Bewegung, wie diese durch ein künstlerisch-avantgardistisches Band mit dem anarchistischen Aktivismus des frühen 20. Jahrhunderts verbunden war. Der Mai 1968 hatte einen direkten Einfluss auf den Poststrukturalismus, der wiederum die derzeitigen Aktivismen direkt beeinflusst, und zwar nicht nur durch den Postanarchismus, sondern auch, indem er die neuen Epistemologien dominiert, welche zu einer neuen anarchistischen Politik geführt haben. Die gleichen poststrukturalistischen Theorien beeinflussen auch die Epistemologien hinter den gegenwärtigen Kunstradikalismen, von relationaler Ästhetik über Ideen zum Verständnis von künstlerischen Positionen bis hin zu direkten Theorieverweisen. Es gibt da allerdings ein kleines Problem bezüglich des historischen Erinnerungsvermögens. Der künstlerische Radikalismus fühlt sich dem Aktivismus keiner Ära besonders verpflichtet. Und AktivistInnen fühlen sich in keiner Weise der Rolle verpflichtet, die die radikale Kunst bei der Entwicklung und Verbreitung radikaler Ansichten bis heute gespielt hat. Gut, man mag sich fragen: Ist das wirklich wichtig? Was macht es schon, wenn sie sich nicht um die Wurzeln scheren?
Sicher wäre es nicht so ein Problem, würden sie die Beziehung so weiterführen, wie es heute notwendig wäre. Das Problem ist aber: Das neue Genre der Public Art und andere zeitgenössische radikale Kunstformen verpuffen heutzutage einfach. Um die politische Kritik und die Intervention, die sie initiiert haben, weiterzuverfolgen, benötigen sie ein radikales politisches Publikum – ein partizipatorisches Publikum mit einer Interventionskultur. Die Kluft in der politischen Radikalität der Kunst entsteht ganz einfach durch das Fehlen dieses Publikums. Die neuen politischen künstlerischen Bewegungen und die neuen künstlerischen politischen Bewegungen entstehen nicht in den gleichen Cafés, Cafés wie dem Els Quatre Gats.
Heute begegnet uns Kunst häufig als soziale Kritik, als Instrument des Wandels, wie Suzi Gablik es beschreibt: »Es gibt eine deutliche Verschiebung in Bezug auf den Ort der Kreativität, weg vom autonomen, in sich geschlossenen Individuum hin zu einer neuen Art von dialogischer Struktur, die häufig nicht das Produkt eines einzelnen Individuums ist, sondern das Resultat eines kollaborativen und interdependenten Prozesses.«36
Wenn Angelika Nollert im Katalog der Ausstellung »Collective Creativity« (2005) in der Kunsthalle Fridericianum darauf aufmerksam macht, wie sich die Idee der kollektiven Kreativität (im Gegensatz zur individuellen Kreativität, »dem Mythos vom einzigartigen Genie«) in avantgardistischen Bewegungen weiterentwickelt hat, vom Surrealismus bis zu Fluxus und dem Wiener Aktionismus, darf man nicht vergessen, dass die kollektive Sensibilität durch den anarchistischen politischen Aktivismus zu einem sehr frühen Zeitpunkt Teil dieser Kette von Bewegungen wurde.
Die Literatur zum gegenwärtigen Aktivismus stellt die definierenden Prinzipien der Bewegung als äußerst »relational«, horizontal, basisorientiert, antinationalistisch, antimilitaristisch und antihierarchisch dar, wodurch sie viele Gemeinsamkeiten mit derzeitigen Tendenzen in der Kunstszene haben – und dennoch sieht es so aus, als fehle es uns an der notwendigen interdisziplinären kollektiven Kreativität, die ihre Unschärfen und Schärfen am besten im täglichen Leben offenbart, nämlich dann, wenn wir gemeinsam in schummrigen Café sitzen.
Übersetzt von Gaby Gehlen
1 Vgl. D. Graeber, The New Anarchists, in: New Left Review, 13, 2002, S. 1. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Die neuen AnarchistInnen«, in: Gabriel Kuhn (Hg.), Neuer Anarchismus in den USA. Seattle und die Folgen. Münster 2008.
2 Dieser Ansatz wurde auch von vielen Regierungen gutgeheißen, was sich beispielsweise in Tony Blairs Bezeichnung der Bewegung als »anarchistischer Wanderzirkus« zeigte, der »von Gipfeltreffen zu Gipfeltreffen zieht, nur um dort möglichst viel Chaos zu verursachen«. Vgl. Blair: Anarchists will not stop us, BBC News, 16. Juni 2001, http://news.bbc.co.uk/1/hi/uk_politics/1392004.stm .
3 Vgl. J. Conway, »Civil Resistance And The Diversity Of Tactics« in The Anti-Globalization Movement: Problems Of Violence, Silence, And Solidarity In Activist Politics, in: Osgoode Hall Law Journal, 2003, 41: 2 & 3, S. 505–30.
4 U. Gordon, Anarchism Reloaded, in: Journal of Political Ideologies, 12, 2007, S. 29.
5 R. Kinna, Anarchism: A beginner’s guide. Oxford 2005, S. 67.
6 Gordon, Anarchism Reloaded, S. 29.
7 Vgl. Graeber, The New Anarchists, S. 1.
8 Gordon, Anarchism Reloaded, S. 29.
9 Graeber, The New Anarchists, S. 1.
10 Vgl. S. Sheehan, Anarchism. London 2003, S. 12.
11 Teoman Gee, ein anarchistischer Aktivist und Autor aus den USA, bringt diesen Prestigegewinn der AnarchistInnen in Zusammenhang mit dem Aufstieg der Antiglobalisierungsbewegungen offen zum Ausdruck: »In den ersten zehn Jahren meines Engagements in anarchistischer Politik (von 1989 bis 1999) war es eher seltsam und exotisch, Anarchist zu sein, und die Szene ähnelte eher einem gesellschaftlichen Ghetto, das oft genug zum Ziel von Spott und Verachtung wurde, selbst in nicht-anarchistischen politisch-radikalen Kreisen. Bestenfalls hielt man uns für unverbesserliche IdealistInnen, die Träumen von einer gerechten Gesellschaft nachjagten, die besser für Märchen geeignet schienen als für die reale Welt [...]. Oft traute man sich in radikalen Netzwerken, die auf einem bestimmten Gebiet politisch aktiv waren, gar nicht zu sagen, man sei Anarchist, da man dann Gefahr lief, nicht mehr ernst genommen zu werden. [...] Wesentlich erscheint mir hier, mich an den isolierten und ignorierten sozio-politischen Raum zu erinnern, in dem wir uns als AnarchistInnen in den 1980er und 1990er Jahren die meiste Zeit befanden [...] Seit November 1999 hat sich das drastisch geändert, besonders in den USA. Heutzutage ist es gang und gäbe, in den Medien von AnarchistInnen zu lesen, sich als solche vorzustellen, von den Nachbarn als AnarchistInnen zu reden. AnarchistInnen scheinen endlich Anerkennung gefunden zu haben.« (Vgl. New Anarchism: Some Thoughts, in: Teoman Gee, Alpine Anarchist Productions. 2003, S. 5–6).
12 Kinna, Anarchism: A beginner’s guide, S. 155.
13 Vgl. J. Bowen, J. Purkis, Changing Anarchism: Anarchist Theory and Practice in a Global Age. Manchester 2004; J. Cohn, Anarchism and the Crisis of Representation: Hermeneutics, Aesthetics, Politics. Selingsgrove 2006; J. Moore, J. Purkis, S. Sunshine, I Am Not A Man, I Am Dynamite!: Friedrich Nietzsche and the Anarchist Tradition. New York 2004; R. Day, Gramsci is Dead: Anarchist Currents in the Newest Social Movements. London/Ann Arbor, Pluto 2005; T. Kissack, Free Comrades: Anarchism and Homosexuality in the United States 1895–1917. Edinburgh 2008; B. Anderson, Under Three Flags: Anarchism and the Anti-Colonial Imagination. London/New York 2005; A. Antliff, Anarchy and Art: From the Paris Commune to the Fall of the Berlin Wall. Vancouver 2007; R. Amster, Contemporary Anarchist Studies. London/New York 2009; N. Jun, New Perspectives on Anarchism. Lanham 2009.
14 Andererseits weist Graeber die »Ehre« zurück, derjenige gewesen zu sein, der den Begriff ursprünglich geprägt hat. Er bestreitet sogar, ihn je gebraucht zu haben. »Ich selbst habe den Begriff ›neue AnarchistInnen‹ nie gebraucht. Er steht im Titel des Artikels in der ›New Left Review‹, aber die Zeitschrift entscheidet über den Titel, nicht die AutorInnen. Ich hatte nichts dagegen, aber ich hätte ihn so niemals als Titel verwendet. Insofern habe ich mich, wenn ich mich überhaupt je bewusst als eine bestimmte Art von Anarchist bezeichnet habe, höchstens ›anarchist‹ mit kleinem ›a‹ genannt – also die Art, die mit bestimmten Sub-Identitäten nichts am Hut hat.« (persönliche E-Mail vom 17. November 2007). Ironischerweise wird er manchmal als der »Anthropologe«, »neu-anarchistische« Theoretiker und Aktivist David Graeber vorgestellt (vgl. http://www.glovesoff.org/features/gjamerica_4.html ). Tatsächlich wurde die erste Version von Graebers Artikel mit dem Titel »The Globalization Movement: Some Points of Clarification« in Items & Issues (Bd. 2, Nr. 3–4, Herbst 2001) veröffentlicht, dem Newsletter des Social Science Research Council ( http://www.ssrc.org/publications/view/3F7981CB-1F60-DE11-BD80-001CC477EC70/ ). Der Artikel stellte einen frühen und vehementen Versuch dar, die Ideologie der neuen Bewegung als eine Reihe anarchistischer Organisationsprinzipien zu begreifen. Das Ganze war so »neu«, dass ich bei dem Versuch, den Artikel ins Türkische zu übersetzen (die Übersetzung erschien schließlich im Dezember 2001 in »SAYI« 1131, S. 45–49), einige der Schlüsselbegriffe nicht verstand und den Autor danach fragen musste. Diese Begriffe waren: »break-outs«, »fishbowls«, »blocking concerns«, »vibes-watchers«, »facilitation tools« und »spokes councils«. Eine Sammlung von Termini technici, die innerhalb der Bewegung für direkte Demokratie verwendet wurden und die Graeber absichtlich erwähnte, um zu zeigen, dass es einen Fachjargon gab. Detaillierte Erklärungen dieser Termini finden sich in der längeren »New Left Review«-Version des Artikels.
15 Vgl. Sheehan, Anarchism, S. 7–23.
16 Vgl. A. Cockburn, J. St. Clair, Five Days That Shook the World: The Battle for Seattle and Beyond. London 2000. Der Verweis auf John Reeds »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« war in Wirklichkeit viel mehr als nur ein Slogan. Er implizierte eine Art Vergleich: Wenn die bolschewistische Revolution die Revolution des letzten Jahrhunderts, der MarxistInnen, der Vergangenheit war, so war die Schlacht von Seattle die Revolution des kommenden Jahrhunderts, die der AnarchistInnen, der Zukunft. Andererseits war der Satz auch für einen anderen Aufstand ein paar Jahre zuvor verwendet worden: für die Riots in Los Angeles im Jahre 1992. »Three Days That Shook the New World Order« (Drei Tage, die die neue Weltordnung erschütterten) war der Titel eines Pamphlets, das 1992 von der Chicago Surrealist Group veröffentlicht wurde (einsehbar unter: http://zinelibrary.info/files/320Days.pdf ). Die Chicago Surrealist Group ist eine Gruppe von KunsttheoretikerInnen, die sich, wie der Name schon sagt, vor allem mit Surrealismus beschäftigen und einen anarchistischen Hintergrund haben, der bis in die 1960er-Jahre zurückgeht. Da wir den Text nicht nur gut geschrieben, sondern auch einige der politischen und kulturellen Dimensionen des Postanarchismus interessant fanden, richteten wir auf der Website unseres ersten postanarchistischen Kollektivs in Istanbul mit dem Namen »Karasin Anarchist Collective« einen direkten Link dazu ein (1996–1998). Natürlich springen bei einem Vergleich zwischen Los Angeles 1992 und der Schlacht von Seattle sofort die rassischen Aspekte ins Auge. Eine frühe Diskussion zu diesem Thema findet sich unter »Where was the Color in Seattle?: Looking for reasons why the Great Battle was so white« (Wo war die Farbe in Seattle? Warum war die große Schlacht so weiß?) von Elizabeth Betita Martinez (vgl. http://colours.mahost.org/articles/martinez.html ). Darüber hinaus vertrat George Katsiaficas die Ansicht, die Darstellung der Schlacht von Seattle schließe auch nicht-westliche VorläuferInnen der Proteste aus (»The Battle of Seattle: Debating Corporate Globalisation and the WTO«. New York 2004). Dieses Detail ist generell auch für meine Sichtweise der Prozesse von Bedeutung, die die Geschichtsschreibung des Anarchismus steuert, denn auch im derzeitigen horizontal ausgerichteten Aktivismus sowie in der globalen Protestbewegung geht es um die Darstellung der Geschichte eines anarchistischen Ereignisses, die Katsiaficas in seinem Essay Seattle Was Not the Beginning (enthalten in The Battle of Seattle) hinlänglich kritisiert hat.
17 Vgl. T. Gee, New Anarchism: Some Thoughts. Alpine Anarchist Productions 2003, S. 3.
18 Graeber, The New Anarchists, S. 70.
19 Gordon, Anarchism Reloaded, S. 29.
20 Tadzio Müller geht weiter und behauptet, »wenn der Anarchismus heute irgendwas ist, dann nicht eine Reihe von Dogmen und Prinzipien, sondern eine Reihe von Praktiken und Aktionen innerhalb derer sich gewisse Prinzipien manifestieren [...]. Im Anarchismus geht es in erster Linie nicht darum, was geschrieben steht, sondern was getan wird.« (Empowering Anarchy. Power, Hegemony, and Anarchist Strategy, in: Anarchist Studies, 2003, 11:2, S. 27) Hier streitet Müller also zunächst die Überlegenheit der Theorie über die Praxis ab und postuliert dann gar die Überlegenheit der Praxis/Erfahrung.
21 Gordon, Anarchism Reloaded, S. 29.
22 Vgl. Sheehan, Anarchism, S. 16.
23 Bowen, Purkis, Changing Anarchism, S. 5.
24 K.M. Kang, Agonistic Democracy, the Decentred ›I‹ of the 1990s, Ph.D. Thesis, University of Sydney, Australia, 2005, S. 90.
25 Vgl. Interview mit Todd May, in: Siyahi, 2004, Nr. 1. Auch in einem Interview mit Rebecca deWitt sagt May: »Als Aktivist befinde ich mich im Einklang mit den jüngsten Demonstrationen, die das Ziel hatten, die WTO auszulöschen.« (Mai 2000)
26 Interview mit Saul Newman von Sureyyya Evren, Kursad Kiziltug, Erden Kosova, in: Siyahi, November–December 2004, Nr. 1, I™stanbul, S. 4–11.
27 Vgl. das komplette Archiv der Postanarchismus-Email-Liste des Spoon Collectives: http://www.driftline.org/cgi-bin/archive/archive.cgi?list=spoon-archives/postanarchism.archive . Die Begeisterung lässt sich anhand des Tonfalls der E-Mails im Yahoo-Group-Archive besser nachvollziehen, da dieses nur Mitgliedern offen steht: http://groups.yahoo.com/group/postanarchism .
28 Dieser viel zitierte Artikel von Adams wurde auch unter dem Titel »Postanarchism in a Bombshell« veröffentlicht. Vgl. http://aporiajournal.tripod.com/postanarchism.htm .
29 Vgl. J. Bourg, From Revolution to Ethics: May 1968 and Contemporary French Thought. Montreal 2007, S. 7.
30 Ebd., S. 7.
31 Ebd., S. 106 f.
32 Ebd., S. 7.
33 D. Kellner, When Poetry Ruled the Streets: The French May Events of 1968, Vorwort. New York 2001, S. xviii.
34 G. Marcus, Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Reinbek 1996.
35 C. Cooke, Sources of a Radical Mission in the Early Soviet Mission, Alexei Gan an the Moscow Anarchists, in Architecture and Revolution, Contemporary Perspective on Central and Eastern Europe, ed. by Neil Leach. London Routledge 1999; R. Roslak, Neo-Impressionism and Anarchism in Fin-de-Siècle France: Painting, Politics and Landscape. Ashgate 2007; P. Leighten, Re-ordering the Universe: Picasso and Anarchism, 1897–1914. Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1989.
36 Vgl. S. Lacy, Mapping the Terrain, New Genre Public Art. Seattle 1995, S. 76.