Istanbul. Der Boulevard Istiklâl Caddesi ist ein Synonym für das moderne Istanbul und sein pulsierendes Tag- und Nachtleben. Abseits der Routen der 11. Istanbul Biennale finden sich hier Galerien, haben sich temporäre Räume der Kunst gebildet, um am Biennalefieber teilzuhaben. Zeitgleich mit der Eröffnung der Biennale Mitte September zeigten sich auf der »Unabhängigkeitsstraße« nicht nur Plakate von Resistanbul, die zum Protest gegen das Treffen von IWF und Weltbank im Oktober aufriefen, sondern wurde auch gegen die Doppelzüngigkeit der Biennale gewettert, die mit ihrem Brecht’schen Motto aus der Dreigroschenoper »Denn wovon lebt der Mensch?« eine antikapitalistische Haltung bezieht: »Politisierung der Kultur« statt »Kulturalisierung der Politik«, jedoch aufgrund ihrer kapitalistischen Sponsoren in einem nicht unbekannten Dilemma kultureller Finanzierung steckt. Liest sich die Biennale mitunter wie eine kommunistische Agitationsschrift, verstecken sich die zweifelnden und doch utopischen Momente einer sogenannten postkommunistischen Gegenwart in den kleinen Details mancher künstlerischer Arbeiten, wo man der Leitfrage der Biennale die Frage anschließen möchte: Denn in welcher Gesellschaft lebt der Mensch?
Nach einem Fußmarsch auf der Istiklâl vom Taksim-Platz gen Westen präsentiert sich die Yapi Kredi Kâzim Taskent Art Gallery mit ins Schaufenster geklebten Bewachern im Starschnittformat. Die sonst als Fotoserie gezeigten »Guards« (mit Fotoausweis) der russischen Künstlerin Olga Chernysheva passen zur Galerie im Bankgebäude. Um die Räume zu betreten, muss man durch eine Sicherheitsschleuse hindurch. Anfänglich unsicher, ob das Teil der Eingangsinszenierung ist, zeigt sich nach dem Ausstellungsbesuch, dass es Teil des Gebäudeschutzes ist.
Die Räume sind dunkelgrau gestrichen und das Licht der Projektion begleitet von Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 (C-Dur) zieht zu einer der bekannteren Videoarbeiten der Künstlerin »The Train« (2003). Das Durchschreiten eines Zuges ist das Hauptthema: Die Kamera folgt der Bewegung durch die Gänge, schweift ab, bleibt stehen. Die Menschen in den zusammenmontierten Schwarz-Weiß-Segmenten erinnern an die frühe Putin-Ära. Der Schnitt folgt dabei einem eigenen Rhythmus entgegen der Musik und der Logik der Bilder. Ein Pensionär zitiert für ein paar zufällige Münzen Puschkin, am Ende rollt der Zug durch den Schnee. Was sich anfangs wie eine unbestimmte Momentaufnahme postsozialistischer Transformation ausnimmt, zeigt sich im Verhältnis zu der früheren Arbeit »Marmot« (1999) als gefrorene Gegenwartsaufnahme. In »Marmot« wird das identitäre Moment der kommunistischen Vergangenheit als nicht auflösbar in den neuen Verhältnissen beschrieben. So betrachtet man eher ambivalent die Szene am Rande einer Demonstration von ehemaligen KPDSU-Anhängern, in der eine ältere Frau mit Pelzschapka ihr Kleingeld sortiert, ihre Handschuhe überstreift, um sich in der letzten Bildsequenz mit einem Stalin-Porträt in der Hand wieder der Demonstration anzuschließen.
Olga Chernysheva, geboren 1962, zeigt die Ambivalenz, am Zerfall einer sozialen Identität teilzuhaben, und letztlich die Unmöglichkeit sich zu verorten. In zwei weiteren Videoarbeiten »March« (2005) und »The Festive Dream«(2005) verdichtet sich die Beobachtung. In »L’Intermittence du Coeur« (2009) wird diese zugespitzt: In einem pittoresken Szenario wird das Gemälde »Encore, again Encore!« (1851/52) des russischen Malers Pavel Fedotov in bewegten Bildern nachgespielt. Die BetrachterIn wohnt einem undergroundartigen Realismus bei, wenn ein weißer Königspudel im Halbdunkel mit dem Arm seines dekadent-gelangweilten Herren spielt. Und so trifft auch die Installation »Cactus Seller« aus 33 Leuchtkästen im Obergeschoss der Galerie einen jener Dostojewski’schen Moment in der Arbeit Chernyshevas, der sich mit »eigentümlicher Weltflucht« beschreiben ließe: Ein Mann züchtet und verkauft Kakteen im Moskauer Tierkundemuseum. Wie in den Videos ergänzen sich die Einzelaufnahmen, widersprechen einander, bleiben für sich. Chernysheva nennt sie »wonder at the everyday«. Aus ihren Bildern spricht eine Erfahrung, die nicht stumm bleibt, weil sie nicht nur an ein entpolitisiertes kulturelles Gedächtnis appelliert, sondern nach kollektiven Modellen der Erfahrung im Alltag sucht. Dabei greift sie immer wieder auf Referenzen des sowjetischen Kinos zurück wie Dziga Vertov oder Grigory Alexandrov und verknüpft diese eindrücklich mit Sound.
Seit 2006 kuratiert der Berliner Galerist René Block zwei- bis dreimal im Jahr die Reihe Adventure Istiklâl Serüveni mit zeitgenössischen KünstlerInnen türkischer Herkunft. Neben einer künstlerischen Produktion für die Räume der Galerie sind die Ausstellungen von einer Publikation begleitet. Wurde im Sommer 2009 mit der Ausstellung »Red Thread« in dem Berliner Projektraum Tanas ein Link zwischen der 11. Istanbul Biennale und Berlin hergestellt, so verbindet sich mit der Sonderausstellung von Olga Chernysheva für einen Moment die Istiklâl mit der Biennale und konterkariert diese, indem sie den Wandel von einer »hoffnungslosen Gesellschaft zu einer gesellschaftslosen Hoffnung« (Buden) in Bildern beschreibt.