Heft 1/2010 - Netzteil


Good Vibrations

Das französische DVD-Label Lowave nimmt sich der Ränder der Filmkultur an

Nicole Brenez


Zur großen Freude aller FilmliebhaberInnen erleben wir gerade eine regelrechte Explosion kreativer Energien, was neue Filmproduktionen betrifft. HistorikerInnen wissen, dass es nicht mehr möglich ist, die gesamte Geschichte des bewegten Bilds zu erzählen, ohne ein für alle Mal dem Prinzip der Vollständigkeit zu entsagen. Gleichzeitig breitet sich eine Menge neuer Vorführmöglichkeiten aus. Kinos sind lange nicht mehr alles. Filme dringen überallhin – in Galerien, Museen, Wohnungen, Straßen, in alle nur erdenklichen privaten und öffentlichen Räume, nicht zuletzt in den virtuellen Raum des Internets.
Wir haben also Grund zu feiern, leider aber auch neue Probleme: CineastInnen bekommen in dieser Bilderflut kaum noch Luft zu atmen, und für KünstlerInnen wird es zusehends schwieriger, über ihr informelles Netzwerk hinaus Anerkennung zu finden. Es fehlen KennerInnen, die den Film als Kunstform beurteilen, verteidigen, auseinandersetzen und bewahren können. Deswegen ist ein DVD-Label wie Lowave, das bemerkenswerte Filme auswählt, veröffentlicht und neue Talente fördert, so gut und wichtig.
Gegründet wurde Lowave 2001 in Paris von dem US-Amerikaner Marc Horchler und der Deutschen Silke Schmickl. Lowave ist also wahrlich international. Seine vorbildliche Tätigkeit als Videoverlag umfasst KünstlerInnen mit unterschiedlichsten Hintergründen sowie unterschiedlichste Filmtechniken (Film sowie Digitalvideo). Die Bandbreite filmischer Ausdrucksmöglichkeiten reicht von abstrakt experimentellen Filmen bis zu militanten Dokumentarfilmen. Neben historischen ProtagonistInnen wie Maurice Lemaître (einem Lettristen und Filmemacher aus Frankreich, Stellvertreter von Isidore Isou), Taka Iimura (einem japanischen Videopionier) und Helga Fanderl (einer Altmeisterin des Super-8-Films aus Deutschland) hat Lowave auch wichtige junge KünstlerInnen aus aller Welt – von China, Südafrika, dem Irak, Finnland und Palästina – veröffentlicht. Zu den Beachtenswertesten zählen der Norweger HC Gilje, der Japaner Yuki Kawamura und der Marokkaner Mounir Fatmi. Darüber hinaus gibt es aber auch völlig neue Bilderwelten zu entdecken: So ist »Re:Frame – Scanning Time/Documenting Change« die allererste Auswahl kühnster visueller Experimente aus Indien. Die darin vertretenen KünstlerInnen verwenden Dokumentation, Animation und Fiktion, um sich mit den Bedeutungen und Echos der beschleunigten Entwicklung in Indien auseinanderzusetzen.
Lowave bietet einen Überblick über die faszinierende und lebendige Welt des gegenwärtigen Kunstschaffens. Das Programm umfasst VideokünstlerInnen wie Pierre-Yves Cruaud, der ein »informatisches« visuelles Vokabular erforscht, die Filmemacherin Françoise Romand (eine Komödienspezialistin), den radikalpolitischen Künstler Malachi Farrell, Performance- und Installationskünstlerinnen wie die indische Feministin Pushpamala N, die Medienaktivisten des Raqs Media Collective sowie audiovisuelle KünstlerInnen wie den französischen Musiker Rodolphe Burger. Zur Freude von KulturwissenschaftlerInnen wird die Bandbreite an neuen Stilen und Ansätzen immer größer. Sie reicht nunmehr vom sinnlich-algorithmischen Kino des numerischen Künstlers Hugo Verlinde bis zur beißend fröhlichen Satire von Zoulikha Bouabdellah.
Im Katalog von Lowave gibt es auch Monografien oder Kompilationen, etwa die DVD-Reihe »Different Cinema«, gestaltet in Zusammenarbeit mit dem Collectif Jeune Cinéma, einer der ältesten Kooperativen für Experimentalfilm in Frankreich, die von dem Filmkurator Marcel Mazé und dem Filmkritiker Raphaël Bassan mitbegründet wurde. In der Reihe der hier veröffentlichten Kompilationen findet man neben zwei Generationen jüngerer experimenteller Filmemacher beispielsweise auch Marguerite Duras.
Die Reihe »Resistance(s)« ist einer der wichtigsten Aufgabenbereiche von Silke Schmickl, die zusammen mit der Musikerin Christine Sehnaoui den arabischen AvantgardefilmemacherInnen jene Anerkennung zuteilwerden lässt, die diesen im weiten Feld der Gegenwartskunst bisher verwehrt geblieben ist. Gerade in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation ist es dringend notwendig, dass jene Stimmen endlich gehört werden. Die »Resistance(s)«-Reihe umfasst die wichtigsten politischen und künstlerischen Filme unseres Jahrzehnts, darunter Arbeiten von Jayce Salloum, Nassim Amaouche, Pauline M’Barek, Katia Kameli – und natürlich vom Theoretiker und Videokünstler Jalal Troufic, der in Europa immer noch zu wenig bekannt ist.
Die wichtige Reihe »artists at work« wiederum soll das Schaffen von Installations- und Performancekunst im öffentlichen Raum dokumentieren. Von 2007 an wurden hier unter anderem Arbeiten von Felice Varini, Laurent Pariente und Malachi Farrell veröffentlicht. Durch den Fokus auf den Produktionsprozess bringt Lowave das Ephemere in die Kunst zurück, was sowohl für KuratorInnen als auch für HistorikerInnen von unschätzbarem Wert ist. Lowave übernimmt mithin immer mehr die Rolle eines Kurators von Spezialprogrammen aus aller Welt. Die Leiterin Silke Schmickl kann damit neueste Arbeiten, die auf ihrem Label veröffentlicht wurden, mit älteren Referenzwerken verknüpfen und so visuelle Verbindungen zwischen klassischen und heutigen KünstlerInnen, zwischen Film und Video, bereits etablierten Methoden und neueren Durchbrüchen in den darstellenden, musikalischen und bildenden Künsten herstellen.
Lowave-DVDs erfüllen, was Bild- und Tonqualität betrifft, höchste Standards. Mehrsprachige Untertitel und Bonusmaterialien ermöglichen es, die Standpunkte und Gedanken der jeweiligen ProduzentInnen kennenzulernen. Die Interviews werden meist von Lowave selbst, bisweilen aber auch von KünstlerkollegInnen gestaltet. So stammt das Porträt von Mounir Fatmi auf seiner legendären »Cinématons«-Serie von dem bekannten Cineasten Gérard Courant.
Führt diese Stil-, Medien- und Technikvielfalt zu einem chaotischen Eklektizismus oder gar einem schlampigen Pallawatsch? Ganz im Gegenteil. Indem Lowave so unterschiedliche Filme unter einem Dach vereint, können diese plötzlich miteinander in Resonanz treten. Wir sehen zum Beispiel, dass die traumartigen Blumenwelten von Yuki Kawamura Farb- und Texturähnlichkeiten mit den rohen energetischen Cityscapes von HC Gilje aufweisen. Umgekehrt beobachten wir, dass ein und dasselbe Sujet, zum Beispiel der ewig authentische Körper einer tanzenden Frau, vom französischen Künstler Rozenn Nobilet, dem Deutschen Egbert Mittelstädt und der Frankoalgerierin Zoulikha Bouabdellah ganz anders behandelt wird – obwohl sie zur selben Zeit mit fast denselben Mitteln arbeiten. Nur durch diese konkreten und präzisen Vergleiche kann man visuelle Kulturen definieren und beschreiben.
Bei der Sichtung des feinen Handwerks, auf dem der Katalog von Lowave basiert, scheinen sich mehrere Haupttendenzen abzuzeichnen: die Simultaneität von Ton und Bild in einem elektronischen Ambiente, in dem KünstlerInnen ihre musikalischen und visuellen Welten selbst ausgestalten; die Arbeit mit Stadtlandschaften, einem unerschöpflichen Reservoir an Empfindungen und Ängsten; schließlich die Auflösung der menschlichen Gestalt, die sich in Form virtueller Maschinen vervielfacht, sich in der Masse auflöst und mit seiner eigener Zerstörung auf anthropologischer Ebene spielt.
Mit dem distinguierten DVD-Katalog sowie mit den Aktivitäten in Vertrieb, Produktion und Kuratierung ist Lowave eine Fixgröße für CineastInnen und Videokunstfans von heute. In Kürze erscheint zeitgenössische afrikanische bzw. türkische Videokunst (unter den Titeln »Influx« bzw. »Conditioned«) sowie eine dritte Kompilation in der Reihe »Resistance(s)«.

http://www.lowave.com

 

Übersetzt von Thomas Raab