Heft 1/2010 - Globalismus
Vor einem halben Jahrhundert – vor der Globalisierung
Ausgehend von einer Phase des »Erwachens«, die in der muslimischen Welt für Aufruhr gesorgt hatte, trat die moderne Kunst als maßgebliche Bewegung in Marokko um 1950 in Erscheinung. Im Bewusstsein der großen Probleme ihrer Zeit und zugleich konfrontiert mit kolonialer Ideologie und lokalem Konservativismus richteten die KünstlerInnen ihre Aufmerksamkeit auf den Erneuerungsgeist der Dritten Welt und die Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts, deren Untersuchungen ihren eigenen Recherchen entgegenkamen. Marokkanische – und maghrebinische – KünstlerInnen stellten zudem fest, dass die moderne Kunst in vielerlei Hinsicht durch Produktionen aus Afrika, Ozeanien und dem Orient inspiriert worden war. So schrieb August Macke 1911 im Almanach »Der Blaue Reiter«, dass die Bronzen aus Benin, die Skulpturen der Osterinseln, die Masken aus Neukaledonien sowie andere einst gering geschätzte oder ignorierte Kunstformen »dieselbe mächtige Sprache der Chimären von Notre Dame sprechen wie Formen überall eine absolute Sprache sprechen«. Ein solches Verständnis von Verschiedenheiten innerhalb einer universellen Gesamtheit war kühn und verband Vergangenheit und Gegenwart in einer Vision, die nach gängigen westlichen Standards meist ignoriert wurde. In einer Beschreibung der Erfahrung der »gegenseitigen Entdeckung« schrieb Mohamed Khadda, ein bedeutender algerischer Maler und Kritiker, dass die ersten modernen nordafrikanischen KünstlerInnen eine lange Reise zurück in Richtung dessen gemacht hätten, was in ihrer eigenen Kunst bereits modern gewesen sei.1 Ein wichtiger Aspekt, sprach er doch Gemeinsamkeiten eine universelle Größe zu. In der kolonialen Ideologie wurde die traditionelle nordafrikanische Kunst als »unbedeutend«, »dekorativ« und »ethnografisch« abgetan, und von »eingeborenen« Künstlerinnen, die man der intellektuellen Recherche für unfähig hielt, wurden naive, pittoreske, exotische Arbeiten nach kolonialem Geschmack erwartet.
Es war daher nahe liegend, dass die ersten modernen marokkanischen KünstlerInnen und Gruppen in ihren Arbeiten, theoretischen Schriften, Ausstellungen und provokanten Manifesten in Anbetracht dieser Situation eine kritische Haltung einnahmen. Sie wollten mitwirken an einer neuen Gesellschaft (säkular und demokratisch) und an einem Veränderungsprozess, der großes Engagement erforderte.2 So beteiligten sie sich unter anderem zusammen mit einigen DichterInnen, AutorInnen und Intellektuellen an der Entstehung der ersten unabhängigen Literatur- und Kunstmagazine, die in der überschäumenden Stimmung dieser Jahre eine wichtige Rolle spielen sollten. »Unabhängig« bedeutet in diesem Fall, dass sie nicht auf einer Linie mit der offiziellen staatlichen Kunstpolitik lagen. Eine große Herausforderung. Die Debatte um »nationale Kultur« wurde meist auf ideologischer Ebene geführt, und lokale Kunstverantwortliche zeigten Ausstellungen im Stil der kolonialen »Salons«. Aus diesem Grund organisierten einige KünstlerInnen in den 1960er- und 70er-Jahren eigene Ausstellungen und Aktivitäten. Sie hatten genug von »folklore de bazar«, von orientalistischen, kommerziellen und Regime-MalerInnen. Genug davon, ein exotisches Bild von Marokko zu verkaufen. Der Abstraktion als Spielfeld der Ausdrucksfreiheit wurde besondere Aufmerksamkeit zuteil, doch verfolgten die KünstlerInnen eine Vielzahl anderer Untersuchungen gegenständlicher wie auch nicht gegenständlicher Natur.
Dank einiger AvantgardekünstlerInnen und -gruppen (wie Awshem in Algerien) war die Situation im Hinblick auf Zielsetzungen und unabhängige Projekte im gesamten Maghreb ähnlich, und es kam zu einer kurzen, jedoch intensiven Phase des Austausches, bevor dann unter den jeweiligen Regimen eine eigene Kulturpolitik entstand. Im Rahmen ihrer originär modernen Forschung interessierten sich diese KünstlerInnen und Gruppen auch für die Neubewertung der »Essenz« einiger Formen, Designs, Symbole, Bilder und Farben aus der afromediterranen Vergangenheit. Die Kunstwelt des Westens stand noch immer unter dem belebenden Einfluss einer »internationale des arts«, und die KünstlerInnen befanden sich im freundlichen Austausch mit einigen ihrer KritikerInnen, Galerien und Museen. Ihr Glaube an eine Identität, die andere Identitäten nicht ausschließt, kann auch den jüngeren Generationen von heute auf der Suche nach Singularität innerhalb der globalen »Weltkultur« Antworten geben.
Etwa gegen Ende der 1980er-Jahre begannen die Dinge sich zu ändern. Trotz allerlei Gerede über »offene Gesellschaften« wurden auf beiden Seiten (materielle und psychologische) Grenzen errichtet, verstärkt noch durch den westlichen Diskurs über Ethnizität und den Kampf der Kulturen. Die sich in Zeiten zunehmender Konflikte und zerrüttender Kriege entwickelnde Globalisierung hat das von modernen KünstlerInnen und Intellektuellen weltweit unterstützte kosmopolitische Projekt unterminiert. Das Internet lieferte ein neues Medium für den gegenseitigen Austausch, doch waren Ereignis- und Informationsströme im Norden und im Süden der Welt nicht vergleichbar. Kein einfaches Thema. Auch wenn die Begriffe »Globalisierung« und »Globalismus« 1996 in »Globalization versus Globalism: Giving Internationalism A Bad Name« von Mark Ritchie eindeutig als Opposition gegensätzlicher Zielsetzungen und Strukturen theoretisiert wurden, werden sie häufig anders interpretiert. Selbst Begriffe wie »Internationalismus« und »Universalismus« scheinen innerhalb des aktuellen Diskurses verdächtig zu sein. So schrieb kürzlich Mourad Yelles, ein algerischer Autor und Intellektueller: »Einige BeobachterInnen fragen sich zu Recht, ob es sich bei der ›Weltkultur‹ nicht um ein ›trojanisches Pferd‹ handelt, vom Westen erfunden, um seine Hegemonie über die ›Schwellenländer‹ zur Vollendung zu bringen. In diesem Fall läge zum einen eine Strategie des Raubtierkapitalismus vor, zum anderen ein Strom von ›Repräsentationen‹, die Universalismus und Neo-Exotismus auf subtile Weise miteinander verbinden«3. Kann ein neues globalistisches Bewusstsein andere Antworten auf derartig dramatische Fragen bieten? Betrachten wir einige dieser Fragen unter dem Aspekt der Situation von Kunst in Marokko.
Marokko – 50 Jahre später
Wie sieht die Lage 50 Jahre später aus? In Italien gibt es ein passendes Sprichwort: »Was man zur Tür hinausjagt, kehrt durchs Fenster wieder zurück.« Über einen neuen und äußerst lukrativen Kunstmarkt, finanziert von europäischen HändlerInnen, Auktionshäusern, KunstschätzerInnen und Unternehmen sowie marokkanischen HändlerInnen, ManagerInnen, privaten und öffentlichen Institutionen, kehren naive, pittoreske marokkanische Werke und orientalistische Gemälde zurück. Es gibt jede Menge Auktionshäuser, die mit lokalen, aber auch mit SammlerInnen aus dem Westen ein gutes Auskommen haben. Da echte orientalistische MalerInnen in Marokko rar waren, wurden Werke aus Frankreich, England, Belgien, Spanien und anderen Ländern importiert, so auch bei den jüngsten Auktionen der beiden rührigsten Auktionshäuser in Casablanca, CMOOA (Compagnie Marocaine des Oeuvres et Objets d’Art) und MemoArts. Der Jahreskatalog 2008 der Agentur British Home, Auctioneers & Valuers in Marrakesch enthält Dutzende pittoresker, neoexotischer Werke (von marokkanischen wie ausländischen KünstlerInnen) im gegenständlichen, aber auch im abstrakt-dekorativen Stil. Auf Auktionsverkäufen wird auch moderne Kunst angeboten, meist marokkanischer Herkunft, qualitativ hochwertiger und anspruchsvoller. Durch die Steigerung des üblichen Preisniveaus auf das bis zu Sechs- oder Siebenfache hat der Markt Voraussetzungen geschaffen, die es Galerien schwer machen, weniger bekannte und hoch dotierte – manchmal jedoch bessere – KünstlerInnen zu verkaufen oder die Preise so zu gestalten, dass sie auch für DurchschnittskäuferInnen erschwinglich bleiben.
Junge KünstlerInnen müssen sich an diesen schwankenden Markt anpassen. Sicherlich hätten die ersten Auktionsverkäufe seit 2002 vieles verändert und die Rolle der Kunst als Investitionswert für Banken, Versicherungen und private und öffentliche Unternehmen hervorgehoben, schrieb eine französische Journalistin kürzlich.4 Das Magazin »Jeune Afrique« widmete im November 2009 »einem Geschäftszweig, der in Marokko dank der Dynamik von Auktionsverkäufen und des Appetits privater SammlerInnen und öffentlicher Stiftungen sehr erfolgreich geworden ist«, einen langen Artikel. Der Wert als Investition hat von jeher in der Kunst eine Rolle gespielt, und ein derartig erfolgreicher Markt stößt in Marokko auf große Begeisterung. Die Frage ist, ob »Appetit«, Unterstützung durch die Medien und Marketing in der Hand von KulturmanagerInnen für sich genommen vereinbar sind mit einem angemessenen Markt und einer grundlegenden künstlerischen Qualität. Der talentierte marokkanische Kritiker und Künstler Mohamed Rachdi schrieb dazu: »Man könnte sagen, der einzige Raum, der für die Kunstproduktion übrig geblieben ist, ist der Markt, der darüber entscheidet, was wertvoll ist und was nicht. Der wirklichen künstlerischen und kulturellen Qualität und Idee wird nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.«5
Bei einigen Arbeiten handelt es sich um Fälschungen oder mittelmäßige Kopien früherer Prototypen oder auch Ansichten der Kasbah, wie man sie im Basar kaufen kann, doch scheint das nicht das eigentliche Problem darzustellen. Die Deregulierung des Marktes war zu schnell, und die Dekonstruktion von Geschmack und Urteilsvermögen wurde durch mächtige Kampagnen unterstützt. Nur wenige ExpertInnen kennen sich ernsthaft in der Geschichte und den Quellen der marokkanischen Kunstproduktion des letzten Jahrhunderts aus. Die unabhängigen Vorreiter unter den Kunst- und Kulturmagazinen mit ihrer kritischen und fundierten Analyse sind verschwunden und wurden ersetzt durch Hochglanzmagazine, in denen Werke unterschiedlicher Art und Qualität auf unkritische Weise gelobt werden. Und zwar so sehr, dass Mohamed Rachdi, das Fehlen ernst zu nehmender, sich kritisch mit diesen Fragen beschäftigender Beiträge »sur une pensée de l’art« beklagend, schreibt, es sei an der Zeit zu reagieren.
Natürlich gibt es auch in der marokkanischen Kunstszene verantwortungsvolle ManagerInnen, ernsthafte Galerien und SammlerInnen, interessante Ausstellungen, gute KünstlerInnen und einige wichtige Stiftungen. Die ersten Sammlungen privater und öffentlicher Gesellschaften und Unternehmen (wie die BMCE Bank, OCP, La Société Générale, die Stiftung ONA und ihre »Villas des Arts« oder die Wafabank) gehen zurück auf die 1970er- und 80er-Jahre und haben dank des Kunstinteresses einiger DirektorInnen, ihres Engagements bei der Förderung »nationaler« Kultur und der Rolle, die Kunst und KünstlerInnen zugesprochen wurde, Bemerkenswertes geleistet (Ankäufe, Kataloge, Bücher, Veranstaltungen und die Schaffung eigener Galerien und Ausstellungsräume). Angesichts des Fehlens eines staatlichen Museums für moderne Kunst (das, so scheint es, für 2010 geplant ist) bieten die zuvor genannten Sammlungen und Initiativen, in Verbindung mit den Materialien und Aktivitäten aller unabhängigen Projekte aus der Vergangenheit, eine dokumentarische Referenz. In den letzten Jahren haben sich die Gewohnheiten und Codes in Bezug auf Mode, Geschmack, Preise, Diskurse und Kultur jedoch verändert, bedingt durch neue Kunstvermarktungsunternehmen und die generelle weltweite Haltung gegenüber der Kunst. Der Leiter der Kunstgalerie Nadar in Casablanca formulierte es so: »Unsere Kunstszene wurde von einem Tsunami überschwemmt, und sobald dieser sich zurückgezogen hat, müssen wir die Einzelteile wieder zusammenfügen.« Ist dieser »Tsunami« eine Folge der Globalisierung? Handelt es sich um eine unvermeidliche Übergangsphase zum »künstlerischen Globalismus«? Oder stellt der »künstlerische Globalismus« ein vollkommen anderes Phänomen und Projekt dar?
Postmoderne, Globalismus und Globalisierung
Der Kunstmarkt liefert möglicherweise Antworten auf diese Fragen. Die aktuelle Studie des britischen Ökonomen Donald Thompson, »The 12 million dollars stuffed shark and the curious economics of Contemporary Art« (London 2008), dokumentiert, wie Medien, einmütige KritikerInnen, ungezügelte Finanzspekulationen und intelligentes Marketing jedem Werk Bedeutung verleihen und einen unverhältnismäßig hohen Kaufpreis einbringen können. Wie der ausgestopfte Hai von Damien Hirst, um den sich zwei weltbekannte Museen und SammlerInnen stritten. Schon immer gab es in der Kunstgeschichte Exzesse, doch niemals zuvor ging es dabei um einen ausgestopften Hai. Da der in einem sich als undicht erweisenden Glasbehälter ausgestellte Hai verweste, musste er durch einen anderen ausgestopften Hai ersetzt werden, und trotzdem wurde das Werk für zwölf Millionen US-Dollar verkauft. Ein in der Tat seltsames ökonomisches Prinzip.
Um dieses besser zu verstehen, gilt es zu bedenken, was Jameson, Baudrillard, Habermas, Eagleton, Virilio und viele andere AutorInnen über die Postmoderne und ihr Kunstsystem geschrieben haben: ein System aus »Pastiche und Parodie« (Baudrillard, Jameson) in den Händen standardisierter Konsumcodes und einer Weltwirtschaft, in der unter der Hegemonie von Markt und kultureller »Mystifizierung« (Eagleton) alles erlaubt ist. Natürlich ist die Postmoderne in Kunst und Kultur mehr als das. Einige AutorInnen haben auf die Bedeutung einer Unterscheidung ihrer befreienden und kreativen Aspekte von der sogenannten »reaktionären Postmoderne« hingewiesen, von Fredric Jameson in einen Zusammenhang gebracht mit dem »Auftreten einer neuen Art von gesellschaftlichem Leben und einer neuen Wirtschaftsordnung – häufig euphemistisch Modernisierung genannt, postindustrielle oder Konsumgesellschaft, Mediengesellschaft, Gesellschaft des Spektakels oder multinationaler Kapitalismus«.6 Einige postmoderne, höchst kontroverse künstlerische Aspekte sind offensichtlich mit der Verbreitung von Technologien, ökonomischen Kapitalströmen und der Weltkulturpolitik verknüpft.
Gegen diese Homogenisierung haben AutorInnen wie Isabelle Stengers zu einem »widerständigen Postmodernismus« aufgerufen. Dabei handelt es sich um eine »Gegenpraxis, die kulturelle Codes eher infrage stellen als ausnutzen, gesellschaftliche und politische Verbindungen eher erkunden als verbergen will« (Jameson). Die kritische Hinterfragung und Erkundung der Faktenlage zur Findung eines nachhaltigeren Prozesses globalen Zusammenwirkens und internationaler Integration ist laut Noam Chomsky eine Form »positiver Globalisierung«. In zwei von Znet.org online veröffentlichten Interviews aus den Jahren 2002 und 2005 geht Chomsky davon aus, dass die Interpretation des Begriffs »Globalisierung« geprägt wurde von den »herrschenden Propagandasystemen, die sich den Begriff ›Globalisierung‹ angeeignet haben, um auf die spezifische Version internationaler ökonomischer Integration zu verweisen, die von ihnen favorisiert wird«, während »BefürworterInnen anderer Formen der Globalisierung mit dem Begriff ›Anti-Globalisierung‹ bezeichnet werden«. Mit anderen Worten, die positive Globalisierung, die zahlreiche Menschen aus allen Gegenden der Welt im Grunde befürworten, wird als »no global« abgetan, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine echte transnationale Bewegung handelt. Chomskys Konzept der »positiven Globalisierung« entspricht einem »positiven Globalismus«, der sich als Netzwerk internationaler Organismen zur Gewährleistung der Rechte der Menschen und einer nachhaltigen ökonomischen, ökologischen und kulturellen Weltpolitik begreift.
Wie auch immer die Interpretationen lauten, kulturelle Gegenpraktiken zu den verheerenden Folgen der »negativen Globalisierung« werden als notwendig erachtet. Die Globalisierung hat für sich beansprucht, eine neue, eindrucksvolle Plattform für wechselseitige Beziehungen bereitzustellen, und das ist so weit richtig. Und doch hat sie auch zu einer Globalisierung von Konflikten, Raubtierkapitalismus, Desinformationen und Stereotypen geführt, die psychologische Spannungen, Fundamentalismus, »negativen Widerstand« und gegenseitige Missverständnisse darüber, was kulturelle Identität in globalistischer Hinsicht sein kann oder soll, schüren. Dieser Aspekt ist wichtig. Wie der Historiker Fernand Braudel in seinen Schriften bemerkt, gibt es keine einseitige Geschichte. Dank ihrer »pluralischen« Geschichte und des fortlaufenden Prozesses wechselseitigen »Gebens/Nehmens« sowie ihrer potenziell universellen Sprache – eine symbolische und semantische Sprache, die in den »structures anthropologiques de l’imaginaire« der Menschheit verwurzelt ist (um die Worte Gilbert Durands zu verwenden) – kann Kunst mit Diversität wie Affinität gleichermaßen umgehen. Eine bessere Kenntnis dieser grundlegenden Prozesse kann helfen, das gegenwärtige Problem der Entwicklung eines »künstlerischen Globalismus« zu verstehen. Andererseits wurde uns von der hellenistischen Periode bis zur Aufklärung, vom kosmopolischen Mitteleuropa bis zum »Inter-Nationalismus« der modernen Kunst und ihrer Bewegung von WeltbürgerInnen sowie aus anderen Perioden, Kulturen und Zivilisationen weltweit ein Vermächtnis aus Visionen, Weisheiten, Idealen, philosophischen Prinzipien, rechtlichen und diplomatischen Mitteln für Begegnungen und Verhandlungen hinterlassen. Der Globalismus mag zwar alles in allem auf einer neuen Realität beruhen, doch stellt er kein »neues« Projekt dar. Er erfüllt vielmehr den alten Traum von der »cosmo-polis«, in der sich territoriale Singularitäten und eine Metaphysik der einträchtigen Welt in einem ausgewogenen Verhältnis befinden.
Marokko: Kunst in einer »globalistischen oder globalisierten« Welt?
Wirtschaftliche, technologische und politische Globalisierung (»mondialisation«) wurden im gesamten Maghreb umfassend diskutiert. Es reicht, hier den vielsagenden Ausdruck »mondialisation non negociée« anzuführen, mit dem ein algerischer Ökonom die unerfreulichen sozioökonomischen und politischen Folgen »nicht verhandelter« ungleicher weltwirtschaftlicher Regeln für Algerien beklagte.7 Bei einer positiven Betrachtungsweise der Globalisierung werden allerdings ein besser verhandelbarer Austausch und ein positiveres Zusammenwirken hervorgehoben, da viele junge Menschen große Hoffnungen und Erwartungen darin setzen. Die Möglichkeit, Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und Unterstützung durch internationale Foren, Gruppen und Organismen zu erlangen, hat, einer marokkanischen Soziologin zufolge,8 das Entstehen von Frauenorganisationen und unabhängigen Menschenrechtsgruppen begünstigt. Das trifft auf eine Reihe lokaler Organisationen und kultureller, sozialer und Forschungsprojekte zu, die durch die Tür der »positiven Globalisierung« in das globale Netzwerk gelangt sind.
Und doch werden die gegensätzlichsten Aspekte der Globalisierung zunehmend hinterfragt und diskutiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Informationen und Medien. In einem aktuellen Mittelmeerprojekt für unabhängigen Kulturjournalismus, »Tahqiq Sahaf«, heißt es: »Unabhängiger Journalismus ist ein kostenloses Mittel gegen das Missverständnis und die gegenseitige Ignoranz unserer Realitäten, die von der Globalisierung meist extrem vereinfacht werden.«9 In Anbetracht der zunehmenden Notwendigkeit einer kritischen Analyse befasst sich die nächste Ausgabe von »Horizons Maghrébins«, einem gut informierten Magazin unter der Leitung des Marokkaners Habib Samrakand, das von der Universität Toulouse le Mirail in Frankreich veröffentlicht wird, mit der aktuellen Situation der Medien im Maghreb, und zwar unter Berücksichtigung von politischer Zensur, der Glaubwürdigkeit von Informationen, Medienunternehmen, freier Meinungsäußerung, kultureller und künstlerischer Kommunikation und Internet. Die Qualität des Kulturjournalismus und die Freiheit der Medien sind wichtig für die Kunst, ebenso das Internet, das einen großen Anteil am Zusammenwirken von Prozessen hat.
Anfang der 1990er-Jahre wurde ISOC-Maroc (der marokkanische Zweig der Internet Society, einer nicht staatlichen Non-Profit-Organisation) gegründet, um das Internet im privaten wie öffentlichen Sektor zu fördern und die Regierung von seiner Wichtigkeit zu überzeugen. Dank der Modernisierung der Infrastruktur und des Anschlusses (1995) an das weltweite Technologienetz liegt Marokko – wie der UNCTAD-Bericht der Vereinten Nationen für 2009 (siehe Itmaroc.com) zeigt – in Afrika an zweiter Stelle nach Tunesien und vor Ägypten, Südafrika und Algerien, was die Verbreitung des Internets anbetrifft. Vom Norden bis zum Süden Marokkos und auch in Randgebieten bilden Websites, Blogs, Foren und Informationen aller Art eine sich ständig erweiternde kaleidoskopische Welt. Als Ausgleich zu den Auswirkungen importierter Dienste und Inhalte geht es jetzt darum, angemessene lokale Quellen, Strukturen und Inhalte zu entwickeln und zu produzieren. Die Internetinformationen zur Kunstgeschichte und zur modernen und zeitgenössischen Kunst und ihren KünstlerInnen sind jedoch äußerst unterschiedlich hinsichtlich ihrer Qualität, Daten und Quellen. Aus diesem Grund richten immer mehr KünstlerInnen eigene Websites und Blogs ein oder werden Mitglied von Facebook und anderen Netzwerken. Gelegentlich wird eine Stiftung unter dem Namen eines Künstlers/einer Künstlerin (wie die kürzlich gegründete Fondation Kacimi in Rabat), eine virtuelle/reale Galerie in einem Atelier (wie das Appartement 22 von Abdellah Karroum in Rabat) oder ein Nachrichtenmagazin für Kunst (wie »Mag Infos Arts«, artszin.com) geschaffen, um zuverlässigere dokumentarische Quellen und Events anzubieten.
Doch das Internet hat seine Grenzen, und eine Reihe individueller Websites bleibt womöglich nichts weiter als ein Supermarkt für Bilder und Nachrichten, wenn sie nicht, wie in den 1960er- und 70er-Jahren, in ein größeres Ganzes eingebettet werden. Das ist auch der Grund, wie Rachdi schreibt, warum dem »pensée sur l’art« in Verbindung mit Realität, Gesellschaft und kulturellen Themen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteilwerden muss. Einige schwierige Aspekte sind dabei das Verhältnis zum westlichen Kunstsystem, der aktuelle Kunstmarkt und die kulturelle Lage in Marokko, die Notwendigkeit einer ernst zu nehmenden Kunstkritik und interdisziplinären intellektuellen Zusammenarbeit und die Suche nach lokalen/globalen freien kreativen Inspirations- und Austauschmöglichkeiten. Das Vermächtnis der Vergangenheit wird einmal mehr als Mittel gegen die Vereinheitlichung erforscht. Angesichts der enormen Veränderungen in der Gesellschaft ist ein Niedergang der traditionellen Künste zu verzeichnen, und doch spielen diese immer noch eine wichtige Rolle. 1999 ermöglichte die Ausstellung »L’Objet Désorienté« (Villa des Arts, Casablanca) einen interessanten Einblick in die Arbeiten einiger junger KünstlerInnen zu diesem Thema. Eine weitere Ausstellung, »À la recherche de nos Atlas secrets« (Actua, Casablanca 2002), initiiert von der Organisation Amrash im Rahmen einer weltweiten Unterstützungskampagne für die ökokulturelle Entwicklung in Bergregionen, brachte einige sehr gute KünstlerInnen zum Thema Atlasgebirge zusammen.
Können wir diese kritischen Auseinandersetzungen als »künstlerischen Globalismus« begreifen? Jedenfalls sind sie ein Ausdruck kulturellen Engagements und der Suche nach einer »offenen Identität«. Der Begriff »Identität« wird häufig missbraucht, doch wird deutlicher, worum es geht, wenn Formen und Vorstellungen die Sprache der Kunst sprechen, »ohne« Wurzeln und Erinnerungen verleugnen oder auf eine neoexotische Ethnizität zurückgreifen zu müssen. Der sich am Knotenpunkt der Kulturen entwickelnde Maghreb war stets ein »pluralischer kultureller Raum«. Trotz des turbulenten Auftretens von dogmatischem Fundamentalismus, der Politik der unterschiedlichen Regime und der Globalisierungseffekte brachte und bringt er Werke und Ideen hervor, die Grenzen überbrücken, offen sind für Internationalismus und kreative künstlerische Beiträge bieten. Doch wie es im Zen-Buddhismus heißt, sind für ein klatschendes Geräusch zwei Hände erforderlich. Der »künstlerische Globalismus« bleibt ein unvollständiges Projekt und eine vage Formel, wenn er nicht durch gemeinsame Prinzipien und Ziele, das Wissen über die anderen und einen neuen weltweiten Prozess verhandelter Koexistenz getragen wird. Wenn Mohamed Rachdi schreibt, dass es an der Zeit sei zu reagieren, meint er die marokkanische Situation und bringt doch das Bedürfnis vieler Menschen im gesamten Maghreb zum Ausdruck, mit einer Vielzahl kreativer Methoden sowohl aus lokaler als auch aus globalistischer Perspektive Widerstand zu leisten.
Übersetzt von Anja Schulte
1 Mohammed Khadda, Feuillets épars liés. Essai sur l’art. Algier 1983, S. 44–45.
2 Toni Maraini, Città avanguardie, modernità: Casablanca-Rabat e la genesi dell’avanguardia moderna nel Maghreb, in: M. Camboni, A. Gargano (Hg.), Città, avanguardie, modernità e modernismo. Macerata 2008, S. 269–286. Siehe auch Écrits sur l’Art: Maroc 1967–1989. Rabat 1990.
3 Vgl. Mourad Yelles, Einführung in »Métissage maghrébins«, in: Crasc (Hg.), Insaniyat, Revue Algérienne d’Anthropologie et de Sciences Sociales, Nr. 32–33, 2006, S. 7 (www.crasc.dz/publicat/insaniyat/ins32-33/resum32-33fr.php).
4 Alice Célerier, Du Marché de l’Art au Maroc, in: Maroc Premium Magazine, Nr. 10, 2008, S. 109.
5 Vgl. Mohamed Rachdi, De la nécessité de la pensée sur l’art, in: Journal d’Activités de la Galérie Nadar, Nr.1. Casablanca 2008, S. 1–3; außerdem in: Maroc Premium Magazine, Nr. 10, 2008, S. 101.
6 Vgl. Fredric Jameson, Postmodernism and Consumer Society, in: Hal Foster (Hg.), The Anti-Aesthetic, Essays on Postmodern Culture. Washington 1983, S. 113.
7 Ghazi Hidouci, im Interview mit H. Bravin und B. Ravenel, in: Confluences, Méditerranée, Le Maghreb face à la mondialisation, Nr. 21, 1997.
8 Aïsha Belarbi, Le mouvement associatif femini, in: Prologue, Revue maghrébine, Nr. 9, Mai 1997, S. 30–31.
9 Organisiert mit Unterstützung der Stiftungen Anna Lindh (Alexandria, Ägypten), René Seydoux (Paris) und der Organisation Babelmed (Rom). Babelmed Newsletter, 26. November 2009 (www.babelmed.net).