»Wenn jemand in einem künstlerischen Rahmen über Politik spricht«, so stand es einst in dieser Zeitschrift (springerin 1/2003), »lügt er«. Diese gleichermaßen gewagt allgemeine wie etwas großspurige Behauptung stammt von Brian Holmes. Das Argument dahinter war, dass das Politische in der Kunst vor allem Legitimationsfunktion für deren Existenz beispielsweise im öffentlichen Raum übernehme. Holmes hat jetzt ein neues Buch geschrieben, nach seinen eigenen Maßstäben ein fettes Lügenkompendium, geht es doch darin um nichts anderes als um Politik in einem künstlerischen Rahmen.
Diesen Rahmen freilich sprengt er gleich in den ersten Sätzen, was einem Vorpreschen in die andere Richtung gleichkommt: »What we look for in art is a different way to live, a fresh chance at coexistence.« Statt also Politik in der Kunst als Lüge zu brandmarken, setzt er hier als gegeben voraus, was Avantgarden und Kunstsoziologie gleichermaßen in ihren Gelingensbedingungen und Möglichkeiten ausprobiert bzw. erforscht haben, ob und wie nämlich Kunst in Politik übergehen kann, ohne sich darin aufzulösen. Statt sich mit dem Scheitern dieser Übergänge lange aufzuhalten, widmet sich Holmes ganz deren Stattfinden.
Allerdings geht diese Schwerpunktsetzung nicht mit der Behauptung einher, ein avantgardistisches Paradies sei Wirklichkeit geworden. Stattdessen, da wir mittlerweile weniger in der »verwalteten Welt« (Marcuse) als in der »Kontrollgesellschaft« (Deleuze) leben, entsteht hier auch ein ganz entscheidendes Problem für sich als politisch verstehende Kunstpraktiken. Sie sind immer schon drinnen im biomächtigen Empire: Die Affektexpertise, die Menschen in der Kunst ihr Lebensauffrischungsinstrument sehen lässt, prädestiniert geradezu dafür, als affirmative Frischzellenkur für die Kontrolle und Kommodifizierungen zu fungieren. Soziale Beziehungen werden in kleinsten Segmenten allerlei Regulierungen unterworfen, symbolische Hierarchien saugen die im Kunstfeld mit produzierten kreativen Inputs auf und gestalten so die alle menschlichen Regungen »organisierende Grammatik« mit. Solche Prozesse der permanenten Bedeutungsproduktion nennt Holmes Überkodierung (Overcoding).
Aber es gibt Hoffnung: Der Titel sagt es bereits, man kann all dem entfliehen. Das bedeutet nicht einfach wegzulaufen, sondern – auch mit diesem Begriff bewegt sich Holmes in einem postoperaistischen Kontext – unterlaufen, infrage stellen, praktisch umwandeln, subvertieren. Beispiele dafür diskutiert Holmes en masse. Ausführlich und sehr anschaulich beschreibt er künstlerische Arbeiten aus den letzten zwei Jahrzehnten. Besondere Bedeutungen misst er dabei den netzaktivistischen bzw. jenen Initiativen und Praktiken zu, die neue »ethisch-ästhetische Kartografien« entwickeln: Damit können ganz wörtlich Karten (wie die Psychogeografien der SituationistInnen oder jene des Bureau d’Études) gemeint sein, es geht im übertragenen Sinne aber insgesamt um die möglichst selbstbestimmte Verortung von Körpern im Raum. Gemeinsam ist all den von Holmes besprochenen künstlerischen Praktiken, dass sie mit sozialen Mobilisierungen einhergehen, von ihnen inspiriert oder überhaupt erst angestoßen wurden. Was er für die Kunst ab den 1990er-Jahren konstatiert, dürfte letztlich die gesamte Moderne betreffen: »political mobilizations help make another world possible for artistic process, outside the constituted circuits of production and distribution.« Das exemplifiziert zu haben, ist ein schöner Verdienst dieses Buches.
Holmes geht es allerdings um mehr als nur die künstlerische Produktion. Es geht um die Gegenwartsgesellschaften als Ganze, und da stößt er mit seinem theoretischen Handwerkszeug an seine Grenzen. Denn wie viele postoperaistische Ansätze und diejenigen des politischen Flügels des Poststrukturalismus, die über kommunikative Fähigkeiten, lebendige Arbeit und Netzwerkstrukturen zu ihrer Beschäftigung mit Kunst gelangt sind, vertritt auch Holmes einige fragliche Grundannahmen: Kunst bedürfe keines objektiven Urteils mehr, sie habe ihren besonderen, aus der Menge der Bedeutungen und Werte produzierenden Bereiche herausragenden Status verloren. Und, empirisch noch fragwürdiger, die Erfahrungen der Kooperation fänden in sozialen Bewegungen »across the devides of class, geographical origins, gender, educational backgrounds and ethnicity« statt.
Daraus folgt eine maßlose Überschätzung des eigenen Milieus, das Kunstfeld wird zum Gesellschaft transformierenden Superbiotop. Die Frage, in welcher quantitativen und qualitativen Beziehung die »self-organizing swarms« zu den »hierarchies of power« stehen, die sie bekämpfen, wie wahrscheinlich und wie wirklich also andere Welten auch außerhalb der Kunstfelder sind, bleibt ziemlich ausgeblendet. Holmes’ Gegenstand ist dementsprechend auch in erster Linie jenes, sein eigenes Milieu: »we who work with communication, in the so-called creative industries«.
Auch wenn sich die klassen- und beinahe alle anderen Grenzen überschreitenden Voraussetzungen für den kunstpolitischen Aktivismus in der Wirklichkeit nur selten finden, hat Holmes doch ein exzellentes Buch darüber verfasst. Es ist vielleicht neben Gerald Raunigs »Kunst und Revolution« (2005) die beste und theoretisch anspruchvollste Studie zum von der Kunstgeschichte so gründlich ausgeblendeten Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen.